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7. Aufklärungen

Es war ein köstlicher Septembertag. Der Himmel tiefblau, die Luft rein und warm, es saß sich gar herrlich auf der Terrasse vor dem Schloß in Klosterberg. Wir finden Hildegard allein. Ein Album liegt in ihrem Schoß, sie läßt die Hände ruhen und träumt von vergangener Zeit. Mahnt das Herannahen des Herbstes sie leise an die Vergänglichkeit aller Dinge, oder bewegt das traurige Ereignis auf Schloß Horst ihr Gemüt? Eine Träne rinnt leise über die Wange, gilt sie der Vergangenheit oder der Gegenwart, oder wirkt beides zusammen, sie traurig zu stimmen? Vorgestern kam die unerwartete Nachricht von dem Tode des alten Grafen auf Horst, und heute ist ihre Herrschaft hinübergefahren, um ihm das letzte Ehrengeleit zu geben. Sie denkt an das einsame Leben des alten Junggesellen, der Geld die Fülle hatte, aber arm an Liebe war. Wie? hatte er auch vielleicht in seiner Jugend eine Neigung gehegt, die er aus Gehorsam gegen seine Eltern hatte bekämpfen müssen? Nun fielen seine Güter in die Hände lachender Erben, wer würde Besitz ergreifen von dem herrlichen Schloß, den ausgedehnten Besitzungen? Würde nun wohl Freude und Frohsinn einkehren in die Räume des einsamen Gebäudes, das sie so oft mit Interesse von ihrem Fenster aus beobachtet hatte? Wenn sie früh ihre Rouleaus aufzog, sah sie gewöhnlich zuerst den grauen, halb zwischen Bäumen versteckten Schloßturm über den See herüberschimmern. Noch einmal so düster war er ihr in diesen Tagen erschienen, wo der Tod dort eingekehrt war; sie hätte gern ihre liebe Gräfin begleitet, wagte aber nichts zu sagen, und gewiß war es auch besser so! –

»Kind, Kind, nur nicht so melancholisch beim schönen Sonnenschein,« rief eine gutmütige Stimme, und die alte Kastellanin trat aus die Terrasse, mit ängstlichem Gesicht Hildegards tränenfeuchtes Antlitz musternd. »Gewiß Heimweh nach der guten Mutter,« fuhr Frau Müller fort, Hildegard sanft mit der Hand über die Wangen streichelnd. »Ja, ja, ich glaub's schon, wenn eins so fern vom Elternhause ist, da kommt die Sehnsucht.«

»Das ist es nicht,« versetzte Hildegard. »Ich weiß nicht, was mich so traurig macht, es ist ja so schön hier.«

»Schön, aber einsam,« versetzte die alte Frau, sich vertraulich niederlassend. »Sehen Sie, Fräulein Hildegard, wenn der liebe Gott die Komtesse Adelheid nicht hätte sterben lassen, und wenn der Herr Graf seinen Sohn nicht verstoßen hätte, dann könnte auch hier Leben und Frohsinn sein, aber so!«

»Seinen Sohn verstoßen?« sagte Hildegard erstaunt aufblickend. Fragend sah sie die alte Frau an. Handelte sich's doch um den Schlüssel zu dem Familiengeheimnis. »Hat denn der Graf einen Sohn gehabt?«

»Ach, was mache ich da! Es soll ja nicht davon gesprochen werden. Und über meine Lippen ist es auch noch nicht gekommen! Aber Ihnen kann ich es am Ende erzählen, Fräulein Hildegardchen. Sie behalten es aber für sich und erzählen es nicht weiter!«

»Ach ja, Frau Müller, erzählen Sie nur! Es ist nicht Neugierde, nur inniges Mitgefühl für unsere armen Herrschaften, die so vereinsamt dastehen. Ich habe es ihnen immer angemerkt, daß ein großer Kummer auf ihnen lastet; die Gräfin hat auch verschiedene Andeutungen gemacht, näheres habe ich aber nie erfahren!«

»Eigentlich sollte ich es Ihnen heute nicht sagen, es macht Sie nur noch trauriger. Da wir aber gerade allein sind und Sie es gerne wissen wollen, will ich ein Stündchen mit Ihnen plaudern.«

Mit diesen Worten zog die Alte einen Strickstrumpf aus der Tasche und begann:

»Als meine gnädige Gräfin heiratete, war sie ein lebensfrisches, bildschönes Mädchen; ich war schon zwei Jahre Kammerjungfer bei ihren erlauchten Eltern gewesen, und da die Gräfin Mutter mich gern hatte und ich alles zu ihrer Zufriedenheit ausrichtete, sagte sie zu mir: ›Johanna, ziehe du mit der Komtesse Hildegard, diene ihr so treu, wie du mir gedient hast.‹ Das hat mich so gerührt, daß ich hab' weinen müssen. Ich gab der Gräfin Mutter meine Hand und sagte: ›Frau Gräfin, ich will sie hüten wie meinen Augapfel!‹ Die Gräfin drückte mir die Hand, und so war der Kontrakt geschlossen. Ich bin mit meiner Komtesse jung gewesen und bin mit ihr alt geworden, nichts soll uns scheiden als der Tod!« Bei diesen Worten übermannte die Rührung die alte Frau so, daß sie schluchzte. Als sie sich gefaßt, fuhr sie fort: »Was haben wir alles miteinander erlebt: die Gräfin und ich. Fräulein Hildegard, ich glaube, ich habe Sie so lieb, weil Sie auch so heißen, wie meine Gräfin und ihr ein wenig ähnlich sehen! Sagen Sie, haben Sie wohl im Speisezimmer das Bild gesehen, wo Komtesse Adelheid noch ein Kind ist und ein schöner, braungelockter Knabe neben ihr mit einem Ziegenbock spielt?«

Als Hildegard dies bejahte, fuhr die Alte fort: »Das war unser Kuno, unser junger Graf und Erbe! Was war es für ein prächtiger Junge, voller Leben und Feuer, voll Mut und Jugendlust. Und dabei ein liebes, weiches Gemüt! Wie oft hat er seine Arme um die alte Müller geschlungen, wenn sie etwas für ihn tun oder ihm aus den Schätzen der Speisekammer etwas mitteilen sollte. Als es ans Lernen ging, da haperte es freilich: unser Graf mochte lieber draußen umherspringen oder sich mit seinen Ponys vergnügen, als beim gestrengen Herrn Präzeptor lateinische Vokabeln lernen. Die Herrschaften glaubten, es würde für den jungen Grafen besser sein, wenn er unter andere Knaben käme, daß er, durch sie angespornt, mehr Lust und Eifer zum Lernen bekäme. Er trat in eine große Pension, wo viele Knaben vornehmer Eltern Erziehung und Unterricht genossen. Aber glauben Sie mir, Fräulein Hildegard, das ist sein Ruin gewesen. Ich verstehe ja nichts davon und bin auch nicht um Rat gefragt worden, aber der junge Herr hat mir viel erzählt von den Streichen, die sie dort verübt, wie sie ihre Oberen und Vorgesetzten hintergangen, wie sie schon in jungen Jahren heimlich Karten gespielt und getrunken haben. Einmal habe ich gewagt, unsere gnädige Gräfin darauf aufmerksam zu machen. Da lächelte sie aber so sonderbar und sagte: ›Gute Müllerin, dein Fach verstehst du, was weißt du aber von Knabenerziehung?‹ Da habe ich geschwiegen und die Dinge ihren Lauf gehen lassen. Unser junger Herr wurde ein flotter, leichtsinniger Bursche; da er wußte, daß sein Papa über viele Mittel zu gebieten hatte, so machte er sich kein Gewissen daraus, darauf loszuwirtschaften. Der Herr Graf, der zuerst großmütig gewesen und ihm mehr gegeben, als er anfangs zugestanden, fing an, sauer zu sehen und Grenzen zu stecken. Aber unser junger Herr war einmal in das tolle Leben hineingeraten; die sauberen Früchtchen, die schon auf der Schule mit ihm gewesen, waren auch jetzt seine täglichen Begleiter und wußten ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen. Da der Vater sich weigerte, mehr für ihn zu bezahlen, als sein jährlicher Wechsel betrug, so fing Kuno an, Schulden zu machen, und seitdem war der Friede aus unsern Räumen gewichen. Kam er nach Hause, gab es stets Zerwürfnisse mit dem Vater; und Mutter und Schwester, die gern Frieden gestiftet hätten, konnten sich nicht verhehlen, daß Kuno schuld an allem war durch seinen grenzenlosen Leichtsinn. Wie oft haben sie ihn beschworen, umzukehren und ein anderes Leben anzufangen. Er versprach Besserung, fiel aber immer wieder in die alten Fehler. Da – es war kurz vor Weihnachten, ich erinnere mich dessen noch – meine Herrschaften waren in die Residenz gefahren, Einkäufe zu machen, ich saß und wartete auf sie – da höre ich Pferdegetrappel unter dem Fenster, darauf Männertritte hastig die Schloßstufen hinansteigend, und als ich in die Halle sehe, läßt der Diener unsern jungen Herrn herein. Er sieht verstört und bleich aus und fragt nach den Eltern. Als ich ihm sage, daß dieselben noch nicht aus der Stadt zurück seien, wirft er sich unmutig auf ein Fauteuil, ihre Rückkehr erwartend. ›Die Geschichte muß heute zu Ende kommen!‹ hörte ich ihn sagen. Darauf sprang er auf, ging ins Nebengemach und sagte: »Müllern, sagen Sie nichts von meinem Hiersein, wenn die Eltern kommen. Ich werde mich schon selber anmelden.« Mir war es angst und beklommen zu Mute, doch hatte ich nicht lange Zeit, mich meinen Gedanken hinzugeben, denn eben verkündete Wagengerassel das Kommen der Herrschaften. Aber was war das? Sie sahen bleich und verstört aus und Fräulein Adelheid stützte die Mutter, die erschöpft in einen Lehnsessel sank. Der Graf ging mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab. Auf einmal erhob er drohend die Hand und rief: »Nicht nur, daß der Bube durch sein Spielen und Schuldenmachen Schande auf unsern alten Stamm bringt, nun fängt er Liebeleien mit Schauspielerinnen an und macht sich und seine Eltern dadurch zum Gespött der Welt. O, mein einziger Sohn und Erbe, warum hast du mir das getan?«

»Weil ich Hedwig Allner liebe und nie eine andere als sie zu meiner Gattin machen werde,« ertönte eine männliche feste Stimme und Kuno trat vor seinen Vater.

Der Graf war sprachlos vor Überraschung, seinen Sohn plötzlich vor sich zu sehen, Kuno fuhr fort:

»Hedwig ist Sängerin, das ist wahr, aber sie ist ein gutes, gediegenes Mädchen, nur durch sie kann ich besser werden, das fühle ich. Wird sie mir genommen, so geht der Engel meines Lebens fort. Sie ist die einzige, die mich beeinflussen kann, ich komme deshalb zu Euch, Euch zu bitten, in eine Verbindung mit ihr einzuwilligen, wo nicht, so kann ich für die Folgen nicht stehen.«

»Nun und nimmermehr werde ich in eine Mesalliance willigen. Mein einziger Sohn und Erbe soll sich nicht an eine Schauspielerin wegwerfen, soll unsern alten Namen nicht entehren,« brauste der Graf auf.

Heftiges Wortgefecht folgte. Lassen Sie mich davon schweigen. Es wurden Worte gesprochen, die weder Vater noch Sohn verantworten konnten. Mutter und Tochter warfen sich klagend dazwischen – doch umsonst. Im höchsten Zorn ritt Graf Kuno davon, und nach Verlauf einer Woche wußte es die ganze Residenz: Graf Kuno von Hoheneck ist auf und davon mit der Sängerin Hedwig Allner. Wohin? wußte niemand. Die Tage, welche folgten, waren die traurigsten meines Lebens. Der alte Graf schloß sich ein, ließ sich wochenlang nicht sehen. Die Gräfin sah bleich und kummervoll aus, und Komtesse Adelheid schlich wie ein Schatten umher. Meine Herrschaften zogen sich von allem Verkehr zurück, das Schloß, das früher der Sammelplatz der hohen Aristokratie gewesen, wurde öde und einsam, und als einige Monate vergangen waren, legte sich unsere liebe, junge Komteß aufs Krankenlager, von dem sie nicht wieder erstand. Ich glaube, der Kummer hat an ihrem jungen Herzen genagt, sie liebte den Bruder leidenschaftlich, und das ganze Ereignis hat sie mehr erschüttert, als sie merken ließ. In den Fieberphantasten wurde der Name Kuno viel genannt, und dies geschah in so wehklagendem Ton, daß es allen, die es hörten, durch Mark und Bein ging! Unsere liebliche Komteß sollte nicht wieder genesen. Sie starb in der Blüte ihrer Jahre und ließ die Eltern tiefgebeugt zurück. Diese, nun aller Kinder beraubt, mochten nicht ferner an der Stätte weilen, wo alles an die traurige Vergangenheit erinnerte. Sie verließen Schloß Eichberg und gingen auf Reisen. Viele Jahre sind sie in der Fremde gewesen, um dort durch neue Eindrücke die erlebten Trübsale zu vergessen, endlich wurden sie des Wanderns müde. Sie kehrten nach Deutschland zurück und wählten Klosterberg, ein altes Familiengut, das lange unbewohnt gewesen, zu ihrem Wohnsitz. Seitdem sind sie nun hier, die armen lieben Herrschaften, einsam ohne Kinder, – der vorigen Zeiten und Jahre gedenkend.«

»Aber,« warf Hildegard, die vor Erregung glühte, ein, »haben sie sich denn nie nach ihrem Sohn erkundigt. Er könnte doch noch leben, könnte ihre Verzeihung begehren!«

»In den ersten Jahren, da der Zorn des alten Grafen noch nicht verrauscht war, durfte niemand den Sohn erwähnen; nach und nach ist aber der alte Herr milder geworden. Reue zog in sein Herz über die seinem Sohne angetane Härte. Er hätte alles getan, seine Worte rückgängig zu machen, doch es war zu spät! Alle Nachforschungen nach Kuno blieben vergebens. Ob er noch lebt? ob er je wieder auftaucht, wer kann's wissen! Ich glaub' es nicht. Aber wissen möchte ich, wo das Grab meines lieben, jungen Herrn ist! – Sehen Sie, Fräulein Hildegard,« fügte sie nach einer Pause hinzu, »ich habe ihn nie für so schlecht gehalten, und ich finde, man sollte junge Leute, wenn sie sich lieb haben, nicht so gewaltsam trennen. Es ist nie gut!«

Warum rannen bei diesen Worten der Alten Tränen über Hildegards Wangen? Sie war tief ergriffen von dem eben Erzählten, hatte sie doch ähnliches erlebt, wenn auch in anderer Weise. In ihrem Schoß lag das Album, das sie, seit es wieder in ihrem Besitz war, täglich zur Hand genommen.

Ja, dort stand es, schwarz auf weiß: »Ihr bis in den Tod getreuer Waldemar.« Konnte sie mehr verlangen? Und doch – durfte sie es wünschen nach dem eben Gehörten? Nein, nichts als Elend und Trübsal folgte auf eine Verbindung ohne den Segen der Eltern, und hatte sie nicht kürzlich durch Mariechen gehört, daß Leutnant Waldemar verlobt sein sollte. Diese Worte, welche er damals in augenblicklicher Leidenschaft geschrieben, waren nun längst vergessen, und sie hatte solch Gewicht darauf gelegt! – Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, um so mehr, als sie sah, wie auch die Alte tief bewegt war und sich mit dem Schürzenzipfel die herabrinnenden Tränen zu trocknen versuchte.

Endlich sagte letztere: »Fräulein Hildegard, weinen Sie nicht. Was wird meine gnädige Gräfin sagen, wenn sie es sieht; die Tränen würden mich ja verraten. Und nun lassen Sie sich's nicht zu sehr zum Herzen gehen, es gibt einmal in der Welt allerlei Herzeleid. Einem fehlt's hier, dem andern da! Ich bin nur froh, daß meine Gräfin Sie jetzt hat; sie lebt seitdem ordentlich auf!«

»Ja, ich aber bin nur ihre Dienerin, kann ihr nie die Tochter ersetzen,« erwiderte Hildegard und stand dann eilig auf, da ein Blick nach der Uhr ihr sagte, daß sie den Teetisch zum Empfang der Herrschaften ordnen müsse.

Diese ließen nicht lange auf sich warten. Sie waren noch ergriffen von den Eindrücken des Nachmittags. Der Graf zog sich bald zurück, während die Gräfin noch länger mit Hildegard im Salon verweilte, ihr erzählend von dem Erlebten. Von Zeit zu Zeit sah sie Hildegard forschend an und sagte endlich: »Kind, ich darf Sie nicht wieder allein zu Hause lassen, Sie haben geweint.«

Eine dunkle Röte stieg in Hildegards Gesicht und sie senkte das Auge.

»Heimweh?« fragte die Gräfin, ihr liebevoll über die Wangen streichelnd.

»Ich fühle mich bei Ihnen ganz zu Hause, gnädige Gräfin, Heimweh ist es nicht.«

»Nun dann heraus mit der Sprache,« sagte die Gräfin, trübe lächelnd.

Hildegard, stets gewöhnt, die lautere Wahrheit zu sagen, antwortete: »Es tut mir so leid – – ich war so betrübt, daß Sie – Sie« – »Daß ich so viel Kummer erlebt? So? Die alte Müllern hat bei Ihnen gesessen und geplaudert! Lassen Sie das den Grafen nicht hören, er würde sehr ungehalten sein,« sagte die Gräfin streng, mit einer gewissen vornehmen Miene, die sie Hildegard gegenüber nie gezeigt, worin aber zu liegen schien: »Um meine Familiengeheimnisse hat sich meine Gesellschafterin nicht zu kümmern.«

Hildegard fühlte dies. Sie streckte bittend die Hand aus und sagte: »Gnädige Gräfin, zürnen Sie der Müllern nicht. Was sie mir gesagt, wird fest verschlossen bei mir bleiben, es wird nie etwas davon über meine Lippen kommen.«

»Kind, das weiß ich. Und nun kommen Sie. Es tut mir alten Frau auch wohl, wenn ich mich einmal aussprechen kann. Warum muß man Sie so lieb haben! O Hildegard, ist es mir doch, als hätte ich meine einzige, innig geliebte Adelheid um mich, wenn du mich so ansiehst! Und nun laß uns von der Vergangenheit reden, zu wem kann ich denn davon sprechen, wenn nicht zu dir? Ich weiß, du hast ein treues, teilnehmendes Herz und verstehst mich recht.« Mit diesen Worten umschlang sie das Mädchen, das neben ihr kniete, und küßte sie innig. Hildegard aber fühlte sich fortan mit doppelten Banden der Liebe an ihre Gräfin gekettet. Lange, lange sprachen sie zusammen, die Gräfin erzählte die ganze traurige Begebenheit noch einmal, und ließ Hildegard einen Blick tun in ein mütterliches Herz voll Liebe, auch gegen den Sohn, der irre gegangen. »Hätte ich ihn nur noch einmal sehen können, meinen Kuno! Wäre er nur nicht das letzte Mal in Zorn von uns gegangen!« stöhnte sie. »Und mit – dem Fluch des Vaters – der nie – nie – in Segen verwandelt werden kann. – Doch gehen Sie, Kind, es ist spät. Wir bedürfen beide der Ruhe. Mein Mann darf uns hier nicht so finden.« Und sie entließ Hildegard, einen Kuß auf ihre Stirn drückend!

Hildegard lag noch lange wach. Sie dachte an den schönen Knaben im lockigen Haar, an das rosige Mägdlein, das die Blumen zum Kranze windet. Sie, eine geknickte Blume, ruhte nun viele Jahre im Grabe, und er? Vielleicht hatte auch er nach einem stürmisch bewegten Leben endlich Ruhe gefunden, aber wie? ohne den Segen der Eltern? Lebte seine Frau noch? hatte er Kinder? Und o, wenn dies letztere der Fall, konnten denn die Enkel nicht noch einmal ins großelterliche Haus zurückkehren? Sie dachte und dachte – doch allmählich verschwammen die Bilder ineinander und sie fand sich am See zu Horst stehend mit Waldemar an ihrer Seite. Er streckte die Hand nach ihr aus und sagte: »Ihr bis in den Tod getreuer Waldemar.« – Darauf erwiderte sie laut und feierlich: »Der Eltern Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißet sie nieder!«

 


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