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5. Ein Pfingstmorgen

Ein Pfingstmorgen war's, wie er lieblicher nicht gedacht werden konnte. Blütenduft und Sonnenschein gab's, dazu Lerchen jubelnd zum blauen Himmel aufsteigend, Vöglein in den Zweigen und Büschen zwitschernd und singend. Ja, schön war's in Gottes freier Natur, das dachten nicht nur die Vöglein, das dachten auch die Menschen in der großen Residenz. Darum zogen sie in Scharen hinaus aus der dumpfen Stadt, ließen alle Sorgen dahinten und freuten sich der Herrlichkeit Gottes, die er in Wald und Feld offenbarte zur wonnigen Frühlingszeit. Und doch – wie wenige gab es darunter, die von der Bedeutung des Festes durchdrungen waren. Die meisten strömten nach dem öffentlichen Garten; sie wollten den schönen Morgen genießen: hier und da drängte sich wohl auch ein flüchtiger Gedanke an Gott, der alles so schön gemacht, hinein, ja bei den Gefühlvollen konnte sich vielleicht eine Träne der Rührung zeigen, wenn sie sich in die Schönheit des Morgens vertieften. Bei der großen Masse aber hieß es: sich so lustig wie möglich machen, im großen Garten Kaffee trinken, dann weiter hinaus in die Dörfer, Baumblüte zu genießen oder vielmehr das Bier zu prüfen und erst am Abend, wenn der Beutel leer ist und die mitgenommenen Kinder müde sind, nach Hause zurückzukehren. Wir wollen das Publikum, wie es sich da am Eingang des öffentlichen Gartens drängt und schiebt, nicht weiter beobachten. Wenden wir uns einige Schritte zurück, so sehen wir einen stattlichen, jungen Offizier die Allee hinaufschreiten; er sieht müde und abgespannt aus, wahrscheinlich hat er bei einem Gelage die Nacht durchwacht und spürt nun das Unbehagen. Waldemar von Buchwald hatte, der Aufforderung der Freunde folgend, bei Spiel und Karten die Nacht verbracht. Gegen Morgen war er nach Hause gekommen und hatte sich aufs Bett geworfen, doch der Schlaf floh ihn. Der Kopf war wüst und schwer. »Vielleicht wird's in der frischen Luft besser,« dachte er, sprang auf und eilte ins Freie. Er wußte nicht, wohin er seine Schritte lenkte, willenlos folgte er dem Strom des Volkes, und eh' er sich's versah, stand auch er vor dem Eingang des öffentlichen Gartens. Durch das Drängen hier aufmerksam gemacht, sah er um sich. Da wollte er ja gar nicht hinein, es trieb ihn weiter in die Einsamkeit, in Feld und Wald, wo die frische Morgenluft ihn umwehte. Er bog also seitwärts ab, hörte noch eine Weile das Lachen und Sprechen der Menge, dann wurde es still und stiller. Eine Allee Bäume, der Fahrweg nach einem nahen Dorf, nahm ihn auf. Hier war's duftig und schön; doch immer noch fürchtend, Menschen zu begegnen, bemerkte er rechts einen kleinen Seitenweg, gerade in die Felder hinein. Er wollte eben von der Landstraße abbiegen, als plötzlich Kinderstimmen an sein Ohr tönten. »Auch hier nicht allein,« dachte er, doch als er noch einige Schritte gegangen, sah er ein Bild vor sich, wie es lieblicher nicht gedacht werden konnte. Am Feldrand saß ein Mädchen von wunderbarer Schönheit. Die Zartheit des Teints, die üppige Fülle des schwarzen Haares, die schönen dunklen Augen, die regelmäßigen Formen, alles war in vollendeter Harmonie. Auf den ersten Blick glaubte man sie den höchsten Ständen angehörig, die sehr einfache, fast dürftige Kleidung jedoch ließ den Beschauer inne werden, daß sie durchaus bürgerlichen Standes war und keine Ansprüche auf Rang und Vornehmheit machen durfte. Die sie begleitenden Kinder waren noch ärmlicher gekleidet, der kleine etwa achtjährige Knabe ging zwar reinlich, aber sehr geflickt, und das kleine Mädchen hatte wohl ein neugewaschenes, aber sehr verblichenes Kattunkleidchen an. Waldemar war durch einen größeren Busch gedeckt, so daß er nicht bemerkt wurde, selbst aber alles trefflich wahrnehmen konnte. Das junge Mädchen wand einen Kranz aus Kornblumen und die Kinder liefen geschäftig hin und her, ihr diese zuzutragen. Jetzt war der Kranz fertig; sie legte ihn befriedigt auf den Schoß, doch schnell hatte die Kleine ihn ergriffen, und bevor die junge Schöne es wehren konnte, hatte sie ihr den Kranz aufgesetzt. »Nicht doch, Klärchen,« sagte das junge Mädchen, lieblich lächelnd. »Der Kranz soll ja nicht für mich, sondern für deine Mutter sein, welche Geburtstag hat.« »Aber, Fräulein Hildegard, Sie sehen so schön in dem Kranze aus, lassen Sie ihn noch ein wenig, es schadet ihm ja nicht.« Still jedoch nahm Hildegard den Kranz vom Kopfe, legte ihn neben sich, setzte ihren Strohhut auf und sagte zu den Kindern: »Nun wollen wir unser Pfingstlied noch einmal sagen, dann ist es Zeit, nach Hause zu gehen.« Da traten beide Kinder mit gefalteten Händen an sie heran und begannen mit ernster, langsamer Stimme:

»O heil'ger Geist, kehr bei uns ein
Und laß uns deine Wohnung sein,
O komm! du Herzenssonne.
Du Himmelslicht, laß deinen Schein
Bei uns und in uns mächtig sein,
Zu steter Freud' und Wonne.
Sonne, Wonne, himmlisch Leben
Willst du geben, wenn wir beten,
Zu dir kommen wir getreten.«

Daran knüpfte Hildegard eine Erklärung des Verses, die von ihrem frommen Sinn Zeugnis ablegte. Sie sprach in einer für die Kinder verständlichen Weise von der Bedeutung des Pfingstfestes, legte den Kleinen ans Herz, wie sie bitten müßten um den heiligen Geist, daß Er Wohnung mache in ihren Herzen, und daß gleich wie die Sonne mit ihren Strahlen die Erde erleuchte, so auch der heilige Geist als Herzenssonne die Herzen erleuchte, daß es hell und licht darin werde, daß die Sünde weiche und der Herr Jesus einkehren könne.

Die Kinder lauschten andächtig und in dem Gebüsch stand der Soldat und hatte unwillkürlich bei der frommen Rede des Mägdleins die Hände gefaltet. Begierig sog er die Worte, die von ihrem Munde kamen, ein, und wie eine welke Blume, vom Tau getränkt, sich wieder aufrichtet, so wurde sein erstarrtes Herz von dem süßen Himmelstau des Wortes Gottes weich gemacht. Der Herr, der damals seine Wunder offenbarte an den Jüngern, als der Tag der Pfingsten erfüllt war, sandte auch an diesem Pfingstmorgen seinen Geist in ein Herz, das seiner vergessen, das nach den Lüsten des Fleisches gelebt und Gefahr lief, im Strudel der Welt unterzugehen. Was ging nur auf einmal in ihm vor! Es war ihm, als hörte er Stimmen aus dem Vaterhause; alte Erinnerungen an die Heimat wurden wach, an die Heimat, wo die treue Mutter ähnlich zu dem heranwachsenden Knaben gesprochen, wenn sie abends mit ihm gebetet, oder nach der Morgenandacht. Im Elternhause hatte er eine christliche Erziehung gehabt, wie war das alles so anders geworden! Durch leichtsinnige, weltliche Freunde immer mehr dem Christentum entfremdet, hatte er aufgehört, die Kirche zu besuchen, und als ob er fühle, daß im Elternhause ihn eine unsichtbare Macht zurückziehen wollte in das frühere Leben, fing er an, dasselbe zu meiden. Seine Besuche wurden immer kürzer, er suchte nach Gründen, die sein kurzes Bleiben entschuldigten, dagegen fand er am Kartenspiel und Trinken großes Wohlgefallen. Noch die letzte Nacht hatte er wüste zugebracht, eine bedeutende Summe verspielt und sich dadurch in solche Verlegenheit gebracht, daß er irgend einen klugen Einfall ersinnen mußte, von seinem Vater, der sehr streng war, eine Summe zu erpressen. Wie kam es, daß durch die einfache Rede des Mädchens auf einmal sein sündliches Leben so schwer vor ihm stand? Es war die Gnade Gottes, die sich des Sünders erbarmt und ihn ruft, ob er hören will. Der Herr rief sein »Hephata« in die Seele dieses jungen Mannes, und das Wort Gottes ergriff ihn mit ähnlicher Gewalt, wie einstmals Saul auf dem Wege nach Damaskus.

Jetzt erhob sich das junge Mädchen. Durch den Aufbruch in seinem Versteck beunruhigt, wandte sich der Offizier zum Gehen, doch der Knabe hatte ihn bemerkt.

»Fräulein, ein Soldat!« rief er, Hildegard am Kleide zupfend. Diese warf einen Blick nach dem nahen Gebüsch und erschrak heftig. Eine glühende Röte überzog ihr Antlitz, sie nahm die beiden Kinder an die Hand und wollte sich eiligst entfernen. Doch der Offizier vertrat ihnen den Weg. »Erschrecken Sie nicht, mein Fräulein,« sagte er mit wohltönender Stimme. »Am liebsten wäre ich ungesehen entflohen, nun Sie mich bemerkt haben, lassen Sie mich Ihnen danken. Ich war unfreiwilliger Zuhörer ihrer Rede. Sie haben mich gelehrt, an die Bedeutung des heutigen Festes zu denken.«

»Wenn ich zu den Kindern davon redete,« versetzte das Mädchen ernst, »würde ich es doch nie getan haben, wenn ich gewußt hätte, daß ich nicht allein sei.«

»Und doch hat Gottes Wort durch Sie bei mir angeklopft.«

»Gottes Wort wird uns überall reichlich geboten. Hören Sie die Kirchenglocken? Sie rufen zum Gotteshaus! Dort werden uns Schätze geboten, die unvergänglich sind,« erwiderte das junge Mädchen einfach.

Unter diesen Worten waren sie weiter geschritten. Einige Leute kamen den Landweg herauf. Ängstlich bittend sah Hildegard den Offizier an. Er verstand sie. »Sie sollen durch mich nicht in Verlegenheit gesetzt werden,« sagte er. »Ich werde nie vergessen, welchen Dank ich Ihnen schuldig bin.« Mit diesen Worten grüßte er und machte sich eiligen Schrittes davon. Wieder kam er in die von Menschen gefüllten Alleen. Er achtete nicht auf die Menge. Tönten die Glocken heute besonders laut und feierlich, oder war es, daß der Herr den Tauben hörend gemacht hatte? Immer wieder war's ihm, als seien die Glockentöne Stimmen, die ihm zuriefen: »Kommet alle, kommet her, kommet ihr betrübten Sünder! Jesus rufet euch und Er macht aus Sündern Gottes Kinder. Hört es doch und glaubt daran: Jesus nimmt die Sünder an.«

Unter solchen Gedanken hatte er seine Wohnung erreicht. Er sammelte sich zum Kirchgang. Er ahnte, der heutige Tag sollte ein Wendepunkt in seinem Leben sein. Wie oft hatten seine Eltern darauf hingewiesen, wie er, als einstmaliger Erbe großer Reichtümer, doppelte Verantwortung für die Verwendung seiner Güter haben werde. Ein alter Onkel in fernen Landen, Inhaber eines bedeutenden Majoratserbes, war kinderlos, nach seinem Tode ging Titel und Grundbesitz auf Waldemar als den nächstberechtigten Erben über. War es nicht natürlich, daß die Eltern wünschten, ihr Sohn möchte sich würdig erzeigen seines künftigen Berufes? Daß sie besorgt sahen, wie er sich mehr und mehr dem Leichtsinn hingab und in demselben noch bestärkt wurde durch den Gedanken, daß künftige große Reichtümer ihn in den Stand setzen würden, seinen kostspieligen Neigungen noch mehr nachzugehen. Aber Gott hatte gesprochen: »Bis hierher und nicht weiter«. Es war Waldemar, als ob ihm dies durch Engelsstimmen zugerufen worden. So machte er sich mit einem Herzen, das hungerte und dürstete nach der Gerechtigkeit, auf. Und das Wort Gottes, an heiliger Stätte gepredigt, erwies sich an seiner Seele lebendig und kräftig.

Kaum war er vom Gottesdienst zurück, so hörte er stürmisch an seiner Wohnung klingeln. Frau Brendel, bei der er einige Stuben gemietet, öffnete und ließ einen Leutnant ein, der, sich den Schnurrbart streichend, eilig nach Herrn von Buchwald fragte.

»Er ist soeben nach Hause gekommen,« hieß es und in demselben Augenblick hatte der Leutnant schon geklopft und war eingetreten. »Wie soll ich mir das reimen?« begann er. »Wir haben den ganzen Morgen im Restaurant auf dich gewartet und nahmen an, daß dir der gestrige Abend schlecht bekommen sein müsse. Du siehst aber gut aus, scheinst mir nicht unwohl, he?«

»Ihr werdet wohl noch manchmal auf mich warten,« versetzte Buchwald. »Ich war heute statt in der Kneipe im Gotteshaus und der Tausch gefällt mir nicht übel. Ich denke, es von nun an alle Sonntage so zu machen.«

»In – – der – – Kirche?« rief der Leutnant halb erschrocken, halb spöttisch. »Was hat dich denn da hineingetrieben? Sei doch nicht närrisch! Was ficht dich an?«

»Ich habe seit gestern viel erlebt,« versetzte Buchwald ernst. »Willst du mit mir gehen, soll es mir recht sein, ich gehe von nun an nicht mehr mit euch. Ich habe das unordentliche Treiben satt.«

»Du hast wohl zu viel eingebüßt gestern und bist timide geworden, mein Jüngelchen? Na, frisch auf, heut' abend kann's wieder besser gehen. Jetzt komm mit und laß uns eins trinken, damit die Grillen aus dem Kopfe gehen, hallo!«

»Gib dir keine Mühe,« sagte Buchwald entschieden. »Ich rühre keine Karten mehr an und das Kneipen hat auch ein Ende.«

»Möchte wissen, wer dir den Kopf verdreht hat,« sagte der Leutnant lachend. »Nun, ich denke, diese Einfälle werden sich bis heute abend legen. Um fünf Uhr komme ich, dich abzuholen.«

Als er gegen Abend wieder kam, mit noch zwei anderen Kameraden als Verstärkung, erfuhren sie, daß Herr von Buchwald nicht zu Hause sei. So mußten sie sich diesen Abend ohne ihn vergnügen. Daß aber viel über ihn gespöttelt und gelacht wurde, läßt sich denken. Er wußte dies recht gut, wußte auch, daß ihm noch manche Kämpfe bevorstehen würden, ehe er los sein würde von der leichtsinnigen Gesellschaft. Er wußte aber ebenso gut, daß es gediegene, solide Leute im Regiment gab, und beschloß, sich baldmöglichst an diese anzuschließen.

Am liebsten wäre er gleich nach Hause geeilt, doch am Mittwoch hatte er Dienst, so beschloß er, Ende der Woche Urlaub zu nehmen, was er, wie wir gesehen haben, ausführte.

Wenden wir uns nun zu Hildegard zurück. Dieselbe war sehr erschrocken über diese Begegnung und vor allen Dingen besorgt, daß sie von den Leuten gesehen worden sei in Begleitung eines Offiziers. Dieser Gedanke war schmerzlich, denn die jungfräuliche Ehre stand ihr hoch. Doch bald konnte sie sich beruhigen. Die Leute, die sie hatten kommen sehen, gingen lachend und schwatzend vorüber, zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, als daß sie Zeit gehabt hätten, sie zu beobachten. So zog sie wieder ruhig ihres Weges, sich freuend an den fröhlichen Kindern, die so glücklich waren, ihrer armen Mutter zum Geburtstag etwas bescheren zu können. Hildegard hatte am Tage zuvor die Kinder, die in demselben Hause mit ihr wohnten, belauscht, wie sie in kindlicher Weise miteinander redeten. »Weißt du, Klärchen, daß morgen der Mutter Geburtstag ist?« hatte der kleine Fritz gesagt, »wenn wir ihr nur etwas schenken könnten.« »Wir sind nur so arm,« hatte das Klärchen geantwortet, »kaufen können wir ihr nichts.« – »Nun,« sagte Fritzchen, »die Mutter sagt immer, der liebe Gott sei reich über alle, vielleicht schenkt Er ihr etwas.« »Da müssen wir ihn darum bitten, aber ganz leise,« meinte Klärchen, »daß es die Mutter nicht hört!«

Jetzt trat Hildegard, die unten auf dem Flur gestanden, hervor: »Kinder, ihr habt recht,« sagte sie, »Gott ist reich über alle. Er läßt viele schöne Blumen wachsen, die er uns alle umsonst schenkt. Ich will morgen mit euch in die Felder gehen, da wollen wir Blumen pflücken und einen schönen Kranz für die Mutter winden.« – Bevor Hildegard am andern Morgen ihre einfache Toilette beendet, standen die glücklichen Kinder schon fertig angezogen an der Tür, ihrer harrend.

Jetzt nun, nachdem Hildegard mit ihnen mehrere Straßen durchwandert, und beim Bäcker den versprochenen Kuchen gekauft, bogen sie in die Steinstraße ein und verschwanden in dem Hause gegenüber dem uns bekannten Nro. 20. Nachdem Hildegard sich von den Kindern verabschiedet, klingelte sie in der zweiten Etage. Ein freundliches, blondes Mädchen öffnete. »Es ist gut, daß du kommst,« sagte dasselbe, »wir haben schon mit dem Kaffee gewartet.«

Hildegard betrat die kleine Wohnstube, die mit ihren hellen Möbeln und weißen gehäkelten Decken einen freundlichen, aber sehr bescheidenen Eindruck machte. Ein Bild über dem Sofa zeigte das Porträt eines Mannes in hohem, braunen zugeknöpften Rock; es war der verstorbene Rendant Schmidt, dessen Witwe, eine kränkliche, blasse Frau, jetzt hier wohnte. Die schmale Pension war kaum hinreichend für die Bedürfnisse der Familie, und die fleißigen Hände mußten sich rühren, um durch Näharbeit einen kleinen Zuschuß zu gewinnen. Die beiden Töchter, Hildegard und Minchen, waren sehr verschieden beanlagt. Während letztere praktisch begabt war und ihre volle Befriedigung im Wirtschaften fand, strebte Hildegards Geist höher. Schon als Kind war ihr größter Wunsch, recht viel zu lernen, und da die geistige Befähigung da war, sowie reges Interesse an allem Hohen und Edlen, so dienten die Schuljahre dazu, alle Gaben und Talente reichlich in ihr zu entwickeln. Die guten Eltern hatten sie die letzten Jahre in eine höhere Lehranstalt geschickt, als es ihrem Stande angemessen war. Als Hildegard bat, Minchen dieselbe Schule besuchen zu lassen, hatte selbige gemeint: Das sei nicht nötig, sie habe keine Lust, ihren Kopf noch mehr anzustrengen. Und die Mutter hatte hinzugesetzt, daß für beide die Schule zu kostspielig sein würde. Dies betrübte Hildegard; sie wollte nichts vor der Schwester voraus haben und doch wollte es ihr scheinen, als ob die Mutter sie in manchen Dingen bevorzuge. Nun, eins stand fest, Hildegards Erziehung hatte bedeutend mehr gekostet als Minchens, zumal auch Musik- und Singstunden dazu kamen. So war Hildegard ihrerseits aber auch fest entschlossen, mit den erworbenen Kenntnissen treu hauszuhalten und durch Stundengeben möglichst viel zu verdienen, um die treue Mutter zu unterstützen. Auch war sie nicht abgeneigt, später eine Stelle als Gouvernante oder Gesellschafterin in einem vornehmen Hause anzunehmen, wenn sich Gelegenheit dazu bieten würde. Einstweilen war sie ja erst 17 Jahre alt und daheim beim Mütterchen lebte sich's doch am besten.

Am Nachmittag des Festtages finden wir Hildegard allein, am Fenster sitzend. Sie war müde gewesen und hatte Kopfschmerzen gehabt, als die Mutter mit Minchen und ihr ausgehen wollte. Sie schloß sich sonst nie aus von den gemeinsamen Spaziergängen, aber heute sehnte sie sich nach Ruhe, und die Mutter, die sie blaß aussehend fand, drang nicht weiter in sie, mitzugehen. So saß sie lange, den Kopf in die Hand gestützt. Allerlei Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Die Begegnung mit dem jungen Mann diesen Morgen war doch seltsam gewesen! Immer wieder tauchte seine Erscheinung vor ihr auf, wie er vor ihr stand, sie so ernst anblickend. »Wer mochte er nur sein, und was konnte er getan haben?« Doch jetzt lenkte lebhafter Verkehr auf der Straße ihre Gedanken von dem Erlebnis ab. Ein eleganter Wagen kam gefahren. Ein Diener sprang herab, öffnete den Wagenschlag und ließ die Herrschaft, die von einer Spazierfahrt zurückkehrte, aussteigen. »O,« sagte Hildegard zu sich, das Köpfchen zurücklehnend, »es muß ganz hübsch sein, vornehm zu sein, möchte auch so im Wagen sitzen und mich spazieren fahren lassen!« Doch gleich besann sie sich und dachte: »Wie hochmütig! Aber wie kommt es nur, daß ich mich oft aus dieser engen Sphäre hinaus sehne in höhere, gebildetere Kreise hinein? Wie undankbar! Ist das der Lohn dafür, daß Mütterchen mir eine so gute Erziehung gab? Es war vielleicht nicht gut, daß ich in der Schule mit so vielen vornehmen Mädchen zusammen kam und von ihnen Dinge hörte, die meinen Neid erregten. Was habe ich jetzt davon? Ist mir eine Freundin geblieben? Nein, stolz sehen sie auf mich herab, viele mögen mich nicht kennen, wenn wir uns begegnen. Ich will mir lieber ein Beispiel nehmen an meinem vis-à-vis. Dort ist wieder das ältere Fräulein mit dem gütigen, zufriedenen Gesicht am Fenster bei ihren Blumen. Wo mag das hübsche, blonde Mädchen stecken? Ich wollte, ich dürfte mit dieser Familie verkehren. Es scheint ein seiner christlicher Ton dort zu herrschen. Wie schön, wenn Sonntags der würdige Herr mit seinen Pflegesöhnen in die Kirche geht, hintendrein die Dame des Hauses mit ihren Töchtern.«

Also denkend hatte Hildegard unverwandt nach den gegenüber liegenden Fenstern gesehen, und Emma, die gleichfalls Hildegard scharf ins Auge gefaßt, konnte nicht anders als freundlich nicken, als ihre Blicke sich begegneten. Der Gruß wurde von Hildegard erwidert, und somit war der erste Schritt zur Annäherung getan.

»Tantchen,« meinte Emma später, »unser vis-à-vis zieht mich an, besonders das schöne Mädchen mit den großen, dunklen Augen, ich glaube, wir werden noch Freunde.« – »Kind,« sagte die Professorin, »knüpfe nur nicht noch mehr an. Unser Bekanntenkreis ist schon so groß, wir dürfen ihn nicht erweitern.«

»Nun, so weit ist es noch nicht,« sagte Emma, »aber wenn ich dem Mädchen einmal auf der Straße begegne, dann rede ich sie an!«

Die Feiertage waren vorüber. Hildegard saß bei einem englischen Buch, um Studien zu machen – da klopfte es bescheiden an der Tür. Es war Klärchen aus dem oberen Stockwerk. »Die Mutter ist krank,« begann sie schüchtern, »ob nicht eins von den Fräuleins zu ihr kommen wollte?«

Minchen war in der Küche und wusch, so machte sich Hildegard schnell von ihrem Buche los und ging mit der Kleinen hinauf. In einem engen Stübchen lag auf dürftigem Lager eine blasse Frau. Es war ein heißer Plättdunst in der Stube, und ringsumher auf Tisch und Stühlen lag sauber geplättete, feine Wäsche.

»Ach Fräulein, es ist gut, daß Sie kommen, die Arbeit will gar nicht mehr gehen. Ich war kaum fertig, so kam ein so heftiger Hustenanfall, daß ich mich legen mußte.« »Gute Frau,« sagte Hildegard, »Sie sollten bei Ihrer schwachen Gesundheit gar nicht solche Arbeit machen.« – »Ich muß wohl,« seufzte die arme Frau. »Aber das Schlimmste ist – die Wäsche soll bis heute Abend bei den Herrschaften abgeliefert sein, ich habe es fest versprochen – – nun liege ich da. Klärchen ist zu klein – da wollte ich« – –

»Da wollten Sie uns bitten,« fiel Hildegard ein, »die Sachen den Herrschaften abzuliefern. Ich sehe, es ist nur feine Wäsche, die sich in einen kleineren Korb packen läßt.«

»Ach, ich kann es ja nicht von Ihnen verlangen, Fräulein. Ich dachte: vielleicht Fräulein Minchen.« – »Ich bin nicht besser als Minchen,« sagte Hildegard ärgerlich. »Ich werde es Ihnen besorgen, sagen Sie nur wohin.«

»Die Kragen und Häubchen sollen zu Frau von Hattig, die immer gleich bezahlt. Das andere geben Sie, bitte, bei Frau Brendel ab, Harte Straße 91. Sie bezahlt monatlich, Sie brauchen also nur dort zu klingeln und die Wäsche abzugeben.«

Ein neuer Hustenanfall hinderte die arme Frau am Sprechen; Hildegard legte die Wäsche zierlich zusammen und ging damit hinunter. »Mütterchen,« sagte sie, »hast du nicht noch etwas von deinem Hustenthee, Frau Berger oben ist wieder recht elend; geh doch einmal hinauf, ich mache unterdes eine Besorgung für sie.«

Die Wohnung der Frau von Hattig war bald erreicht. Die freundliche, alte Dame nahm ihr selbst die Wäsche ab, erkundigte sich teilnehmend nach Frau Berger und versprach, einmal selber nach der Kranken zu sehen. – Nun noch zu Frau Brendel! Die Wohnung war nicht so schnell erreicht. Die Harte Straße lag ziemlich weit von der Steinstraße, doch machte sich Hildegard nichts daraus, der Gedanke, einer Kranken etwas zu liebe tun, belebte sie. Endlich stand sie vor der Wohnung. Sie erstieg die Treppe und klingelte. Eine bejahrte Frau öffnete und sah sie erstaunt an.

»Ich bringe Ihre feine Wäsche von der Frau Berger, welche krank geworden« –

»Ja so,« meinte Frau Brendel. »Packen Sie nur aus, der junge Herr wollte selbst noch etwas sagen, ich sollte es melden, wenn die Wäsche gebracht würde.« – »Junger Herr!« dachte Hildegard. »Das wäre mir höchst fatal! Mit einem jungen Herrn möchte ich nicht zu tun haben!« Doch bevor sie Frau Brendel zurückrufen konnte, hatte diese die Tür geöffnet und hineingerufen: »Herr Leutnant, die Waschfrau ist da!«

»Sagen Sie ihr. ich möchte die Kragen und Manschetten steifer haben als das letzte Mal,« tönte eine Stimme heraus, die Hildegard schon einmal gehört zu haben glaubte, doch eh' sie sich besinnen konnte, stand in der Tür ein junger Leutnant. Es war Waldemar von Buchwald, dem die Worte im Munde stecken blieben, als er Hildegards ansichtig wurde. »Sie – – meine Waschfrau« – – stotterte er verlegen.

»Das kann doch wohl nur ein Mißverständnis sein, Herr Leutnant,« sagte Hildegard stolz und richtete sich hoch auf. Sie nahm den Korb, der unterdes ausgepackt war, und verließ ohne Gruß die Wohnung. Sie war innerlich so erregt, daß sie mehr lief als ging, um aus dieser Straße zu kommen. Erst als sie eine gehörige Strecke zurückgelegt, nahm sie wieder einen langsameren Schritt an. »Muß mir dieser Herr immer in den Weg laufen, oder vielmehr ich ihm! Nein, ich will nicht,« sagte sie heftig und stampfte ein klein wenig mit dem Fuß auf. Ja, was wollte sie nicht? Seit jenem Pfingstmorgen war die Gestalt des jungen Offiziers immer wieder und wieder in ihr aufgetaucht. Sie wollte nicht an ihn denken und je mehr sie es sich vornahm, desto mehr hatte sie zu beklagen, daß die Gedanken sich nicht im Zaum und Zügel halten ließen. »Es ist ja Unsinn,« hatte sie sich gesagt. Und nun? Nun konnte sie ja zufrieden sein. Die heutige Begegnung war derart gewesen, daß sie nach keiner Seite hin befriedigen konnte. »Gut,« sagte sie trotzig, »er hält mich für seine Waschfrau!« – Nach einer Weile fuhr sie fort; »Lächerlich! sehe ich denn wie eine Waschfrau aus? Nun, Herr Leutnant, wir haben uns hoffentlich zum letzten Mal in unserm Leben gesehen, – ich trage wenigstens kein Verlangen nach einer nochmaligen Begegnung! So romantisch die erste, so prosaisch die letzte!«

Und er? Ihm war's, als ob jemand einen Eimer kalten Wassers über ihn ausgeschüttet. »Also in diese Sphäre gehört das schöne Mädchen, das in letzter Zeit meine Ruhe gestört! Denn ist sie auch selber nicht Waschfrau, so doch jedenfalls die Tochter einer solchen und du, Waldemar, träumst dich an ihrer Seite! Nun, dem sei wie ihm wolle, das Mädchen zieht mich gewaltig an, ich hoffe, wir haben uns nicht das letzte Mal gesehen. Es ist etwas Hohes, Edles in ihr, trotz der niedrigen Geburt. Wie schön war sie in ihrem Stolz, als sie so trotzig die kleinen Lippen aufwarf. O, gäbe es doch keinen Standesunterschied!«

Hildegard kam still nach Hause. Sie lieferte Frau Berger das Geld ab und sagte nur: »Sie konnten es mir vorher sagen, daß die andere Wäsche einem Herrn gehörte, es war mir sehr unangenehm, mit demselben zusammenzutreffen.«

Frau Berger war so unglücklich, das Fräulein in Ungelegenheit gebracht zu haben, daß Hildegard alles aufbieten mußte, sie zu beruhigen. Dadurch wurde sie selbst über die Sache ruhiger, ja mußte schließlich lächeln, daß sie überhaupt deswegen Unruhe empfunden. Dem Mütterchen sagte sie nichts von der Sache, warum auch? Dadurch wurde erst etwas, was eigentlich doch nichts war. Sie ging wieder, nachdem sie ihren Hauptfehler, den bösen Stolz, bekämpft, still und demütig ihren Weg, und suchte mit Ernst und Treue in der niedrigen Sphäre, in die Gott sie gesetzt, zu dienen und zu arbeiten.

 


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