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12. Ein wichtiger Brief

Der junge Pfarrer zu Nienhagen stand an dem Fenster seiner Studierstube, mit ernstem sinnendem Gesicht, und sah hinaus. Leise fielen die Schneeflocken zur Erde und leise bewegte er die Lippen und sagte: »Wenn der Winter ausgeschneiet, tritt der schöne Sommer ein, also wird auch nach der Pein, wer's erwarten kann, erfreuet – alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit. – Ja, Seine Treue und Barmherzigkeit ist groß,« fuhr er in leisem Selbstgespräch fort, – »sie ist jeden Morgen neu, auch bei mir. O, mein Gott, willst du meine Trübsal wenden und mir auch nach dürrer, kalter Winterszeit deine Sonne wieder scheinen lassen?« – Er nahm einen Brief zur Hand, den er seit gestern schon unzählige Male gelesen, durchflog ihn noch einmal, stand wieder eine Weile sinnend und sagte dann: »Wunderbar! Gestern bat ich Gott inbrünstig, mir ein Zeichen zu geben, ob es sein Wille sei, daß ich ledig bleiben soll, oder ob er mir eine Gefährtin zuführen wolle, und gestern abend kommt dieser Brief. Treues Schwesterherz, welche Liebe spricht aus den Zeilen! Wie könnte ich dir zürnen!«

Auf einmal flog ein schalkhaftes Lächeln über die sonst so ernsten Züge. Er nahm seine Pfeife zur Hand, stopfte dieselbe, und mit den Worten: »Wohlan, kühne Tat lebe,« trat er an sein Schreibpult. Doch plötzlich lagerte tiefer Ernst auf seiner Stirn. Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, blieb wieder am Fenster stehen und sah sinnend dem Durcheinanderwirbeln der Schneeflocken zu. Dann, als reue ihn seine Unentschlossenheit, ging er ans Pult, holte Tinte, Feder und Papier, sandte einen Blick nach oben und unter dem Seufzer: »In Gottes Namen denn,« tauchte er die Feder ein und schrieb. Was der Brief enthielt, werden wir, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreicht hat, erfahren.

 

Im Rotheschen Hause in der Residenz war wieder einmal große Aufregung. Des Hausherrn Geburtstag war da und sollte würdig begangen werden. Als Vorfeier war großes Reinigungsfest, was der Professor mit stillen Seufzern und verzweifelten Ausrufen begleitete. Mutter und Tochter ließen sich jedoch nicht irre machen, sondern liefen geschäftig hin und her, um alles festlich zu machen. Schöner Kuchenduft, der aus der Küche drang, erfüllte die Nasen und Magen der Pensionäre mit festlichen Vorgefühlen.

Emma malte eine ausdrucksvolle »66« auf die eben aus dem Ofen kommende Torte, zeigte sie im Triumph der Tante und freute sich mit ihr und Mariechen gemeinsam auf den morgenden Festtag, der viel Freude, aber auch eine ungeahnte Aufregung bringen sollte.

Mittag war vorüber. Mariechen war in der Klavierstunde, die Tante hatte sich zur Mittagsruhe niedergelegt, Emma saß in derselben Stube an ihrem Nähtisch und ruhte von ihrer Hände Taten. Sie hatte ein Buch ergriffen und blätterte darin, als laut die Glocke ertönte. »Wieder in der Mittagsstunde,« rief sie unwillig und ging leise hinaus, um die Tante nicht zu stören. Dore hielt einen dicken, doppelten Brief in der Hand.

»Fräulein Emma, für Sie,« rief sie triumphierend.

Ungläubig, daß heute an sie ein Brief eintreffen könne, heute, an des Onkels Geburtstag, streckte sie die Hand danach aus. Kaum hatte sie die Adresse erblickt, so erbleichte sie und die Hand zitterte bedenklich. Sie nahm schnell den Brief, kehrte ins Zimmer zurück an ihren Nähtisch, öffnete, las und rief, alles um sich her vergessend:

»Tante, liebste Tante, ein Brief von Hermann! Und was enthält er!«

»Doch wohl eine Gratulation für den Onkel,« sagte die so unsanft aus dem Schlummer erweckte Tante, halb unwillig.

»Ja, wenn es nur das wäre, hätte ich dich nicht gestört,« antwortete Emma erregt. »Nein, denke dir! Hermann möchte Käthe kennen lernen! Möchte sie, so es Gottes Wille ist, zu – – seiner Frau!«

Jetzt war's an der Tante, zu erschrecken. Sie richtete sich schnell auf. Alle Müdigkeit war verschwunden; sie starrte Emma an und sagte: »Wie ist denn das möglich! Er kennt sie ja gar nicht!«

»Ach Tante! Ich habe kürzlich – – ich weiß nicht, wie es kam – –, ich glaube, der liebe Gott hat mir's in die Feder gegeben – – ich habe ihm neulich von Käthchen geschrieben, dachte aber gar nicht, daß er darauf eingehen würde! Höre nur, was er schreibt –« »Rufe doch erst den Onkel!«

Emma klinkte die Tür leise auf und rief: »Onkel, bitte komm herein, es gibt etwas ganz Neues!«

Der Onkel fuhr vom Sofa auf. »Kinder, ist es denn etwas so gar Wichtiges, daß ihr mich in der Mittagsruhe stört?« Er kam aber doch mit den Worten: »Nun, was gibt's?«

»Ein Brief von Hermann aus Niendorf; er hat Lust, Käthchen kennen zu lernen – – und – – sie schlimmsten Falls – – zu heiraten!« – setzte sie stotternd hinzu.

»Das ist ja köstlich, ganz köstlich,« sagte der Professor schmunzelnd. »Lies doch, Emma, lies, was schreibt der gute Hermann?« Emma entfaltete den Brief aufs neue und las ihn den mit höchster Spannung lauschenden Verwandten vor.

Als sie zu Ende war, faltete sie ihn wieder zusammen und sah Onkel und Tante mit einem unbeschreiblichen Blick an. Die Tante war tief bewegt und hatte die Hände gefaltet. Der Onkel sagte wieder dieselben Worte wie vorher: »Kinder, das ist ja ganz köstlich! – Ich habe es immer gesagt: Emma schreibe nur einmal dem Hermann von unserer Kleinen!«

»Ja, Onkel, auf dein Wort hin hab' ich's auch eigentlich nur gewagt. Aber ich dachte nicht, daß Hermann darauf eingehen würde. Und jetzt ist mir sehr bange dabei.«

»Nun, wie Gott es fügt,« sagte der Onkel und sah dabei so zuversichtlich und fröhlich aus, daß auch die beiden Damen Mut gewannen und Worte fanden, sich darüber auszusprechen. Sie gaben sich untereinander das Versprechen, ein tiefes Schweigen über die Sache zu beobachten, auch Mariechen nichts zu verraten. »Und das beste ist,« fügte die Tante, gegen Emma gewendet, hinzu, »du gibst Fräulein Walter, wenn sie nach Hause geht, den Brief, wie es dein Bruder wünscht, und bittest sie, denselben zu lesen. Alles andere müssen wir Gott befehlen.«

War es ein Wunder, daß Emma das Herz gewaltig klopfte, als es klingelte und Käthchen, nichts ahnend, frisch und fröhlich wie immer eintrat, um ihrem lieben Herrn Professor zu gratulieren. War es ein Wunder, daß Käthchen, nachdem sie ein Weilchen in traulichem Familienkreise gesessen, eines nach dem andern musterte und endlich ausrief: »Frau Professorin, es ist doch nichts passiert. Wie sehen Sie denn alle aus?«

»Es ist ja Geburtstag!« antwortete die Professorin ausweichend. Doch das kluge Mädchen sagte: »Das ist es nicht. Es liegt ein so feierlicher Ernst auf allen Gesichtern – – –«

Jetzt mußte Emma lachen. »Käthe, du bist sehr klug, aber alles kannst du doch nicht ergründen. Kommst du heute zum Leseabend?«

»Gewiß, wenn derselbe heute stattfindet.«

»Mein Mann hat nichts dagegen, im Gegenteil, es macht ihm Vergnügen, heute dabei sein zu können, da er am Geburtstag nicht ausgehen will. Also bitte, kommen Sie ja, Fräulein Walter!« bat die Professorin.

»Dann will ich mich aber jetzt verabschieden, und meine Bücherkorrekturen beseitigen, damit ich heute abend frei bin.«

»O, du armes Mädchen,« dachte Emma. »Wirst nicht weit im Bücherkorrigieren kommen.«

Als Käthchen sich verabschiedet hatte, begleitete Emma sie hinaus, griff herzhaft in die Tasche, holte ihres Bruders Brief hervor und steckte ihn Käthchen in die Hand mit den Worten: »Bitte, lies diesen Brief und sage mir heute abend, wie du darüber denkst.«

Käthe musterte die ihr unbekannte Handschrift Und sagte verwundert: »Von wem ist er denn, und was soll ich damit?«

»Bitte, frage mich nichts weiter,« sagte Emma entschieden. »Sieh auch den Brief nicht weiter an, sondern stecke ihn ein und nimm ihn erst zu Hause heraus!«

»Wunderlich,« sagte Käthe kopfschüttelnd, steckte aber gehorsam den Brief ein und sagte nur: »Emma, dein ernstes Gesicht zwingt mich, alles zu tun, was du gebietest. Auffallend ist mir aber doch –«

»Bitte, Käthe, geh nur und frage nichts. Ich kann dir nichts weiter sagen –«

»So, nun werde ich auch noch hinausgeschoben,« sagte Käthe schalkhaft und verschwand mit fröhlichem Lachen eiligst hinter der Tür.

Emma wirbelte es im Kopf. Es war halb vier; bald würden die Kaffeegäste kommen und noch war nichts zum Empfang derselben vorbereitet. Sie wollte sich aller aufregenden Gedanken entschlagen und an ihre Pflichten denken, doch heute war das alte Fräulein wie ein gedankenloser Backfisch. Bald vergaß sie dies, bald jenes. Dazu klingelte es draußen unaufhörlich; alle die verschiedenen Tanten, Nichten und Neffen trafen ein, um des lieben Hausherrn Geburtstag würdig mitzufeiern. Emma eilte, sie von ihren winterlichen Hüllen zu befreien; sie lud sie freundlich ein, näher zu kommen; sie brachte Tassen, Kuchen und die dampfende Kaffeekanne, sie schenkte ein und reichte herum; doch alles geschah mechanisch, immer wieder waren ihre Gedanken bei Käthe und dann flogen sie über Berg und Tal zum geliebten Bruder, – dann dachte sie an beide zusammen, und das Geplauder am Kaffeetisch klang nur wie leeres Getöse an ihr Ohr.

Und die arme Professorin saß mitten in der Gesellschaft und mußte nach allen Seiten hin die liebenswürdige Wirtin machen. Ihr, der sonst so redegewandten und geistig frischen Frau, ging die gehabte Aufregung so nach, daß es ihr schwer wurde, die Unterhaltung zu führen. Eine der Tanten sah sie besorgt an und sagte:

»Arme Mathilde, du mußt heute viel aushalten, die Unruhe ist auch etwas zu groß!«

Die Professorin dachte für sich: »Wenn ihr wüßtet, was außer dem Geburtstagstrubel noch die Gemüter bewegt!«

Der Professor allein saß in behaglicher Ruhe und Gemütlichkeit in seinem Lehnstuhl und sah so vergnügt drein, daß jeder das Geburtstagskind gern ansah. Emma, die sich nun auch in den Damenkreis gesetzt und bemüht war, die Tante in der Unterhaltung zu unterstützen, sprang plötzlich auf und eilte zur Tür hinaus.

»Dore,« rief sie, »ich hätte ja bald unsere Kinder vergessen.«

»Ich wollte eben klopfen, Fräulein Emma. Sie sind lange aus der Schule und warten auf ihren Kaffee.«

»Den sollen sie haben und tüchtig Kuchen dazu, das wird sie versöhnen!« sagte Emma und dachte: »Wie gut, daß nicht alle Tage solche Briefe kommen, wie der heutige, das ginge über meine Kräfte!«

Doch auch dieser Nachmittag verging wie alle. Die Gäste verabschiedeten sich, das Abendbrot wurde eingenommen und dann rüstete man zum Kränzchen. Professors kamen nicht dazu, die wichtige Angelegenheit noch einmal mit Emma zu besprechen.

Ein Klingeln an der Vorsaaltür verriet, daß die Mitglieder des Leseabends heranrückten. »Wer wird die erste sein?« dachte Emma und eilte laut klopfenden Herzens hinaus. Es war Frau Dr. K., die ausnahmsweise zeitig kam, und Emma hatte gehofft, Käthe würde die erste sein.

Jetzt ertönte wieder ein Klingeln, aber ganz leise, fast unhörbar. Emmas geschärftes Ohr vernahm es. Sie eilte, um selbst zu öffnen, und wirklich, da stand das Käthchen, sie fest und ernst mit ihren schönen Augen ansehend. Das schalkhafte Lächeln, mit dem sie am Nachmittag entschlüpfte, hatte einem tiefen Ernst Raum gemacht.

»Bist du mir böse?« sagte Emma, ihr beide Hände entgegenstreckend und die ihrigen innig drückend.

»Nein,« sagte Käthchen fest.

»Und was sagst du zu allem, Käthe?«

»Ich war anfangs sehr erschrocken, wie du dir denken kannst. Doch kann ich darin bei ernster Erwägung nur die Hand Gottes erkennen. Die Sache ist ohne mein Zutun, ohne daß ich die leiseste Ahnung davon hatte, an mich herangetreten. Will dein Bruder an mich schreiben, so mag und kann ich es nicht wehren. Ich bin bereit, ihm zu antworten.«

»O du gute, einzige Käthe,« sagte Emma bewegt und drückte sie an sich. Doch mußte sie sich hüten, ihren Gefühlen einen lauten Ausdruck zu geben; es war ja ein tiefes Geheimnis, von dem niemand etwas wissen durfte!

Es war von Käthchen nicht anders zu erwarten gewesen, als daß sie abends eine bestimmte Antwort, sie sei nun verneinend oder bejahend, bringen würde. Sie war ein klarer, bestimmter Charakter, der sehr bald wußte, was er zu tun hatte.

Wer aber Gelegenheit gehabt hätte, das kleine, frische, fröhliche Käthchen nachmittags in ihrem Stübchen allein zu beobachten, würde gesehen haben, daß sie große, innere Kämpfe zu bestehen hatte, ehe sie diesmal zur Klarheit kam. Ihre Gedanken hatten sich auf dem Nachhauseweg viel mit dem Brief beschäftigt. Etwas Absonderliches mußte darin enthalten sein. Aber daß es mit ihr selbst Zusammenhang habe, ja, daß sie gewissermaßen eine Hauptrolle darin spiele – das ahnte sie nicht. Sie setzte sich ans Fenster unter ihre Blumen und begann zu lesen. Doch plötzlich ließ sie den Brief auf den Schoß sinken, preßte die Hände ineinander und sagte: »O mein Gott, was ist denn das!« Sie stand auf und ging einige Male in ihrem Zimmer auf und ab, dann trat sie ans Fenster, nahm den Brief wieder auf und las ihn entschlossen zu Ende.

»Du böse Emma, was hast du angerichtet!« war das erste Wort, das ihr entschlüpfte. »Der Brief ist aber schön, und der ihn geschrieben, muß ein ernster, frommer Mann sein, ein Mann, der dir Stütze und Halt im Leben sein könnte, dem du dich mit vollem Vertrauen hingeben könntest.«

Und wie es nun weiter so natürlich ist, sie träumte sich in ihren Gedanken an die Seite eines Eheherrn, den sie freilich noch gar nicht kannte. Und was lag noch alles dazwischen! Was war's, das ihren Gesichtszügen plötzlich einen so traurigen Ausdruck verlieh? Zuerst hatte sie den inneren Wert des Mannes, der sie begehrte, geschätzt, nun malte sie sich in Gedanken seine äußere Erscheinung aus. Ein Bild hatte sie nie von ihm gesehen, nur Emma hatte ihr gesagt, daß er keine Ansprüche auf Schönheit machen dürfe. Diese seine äußere Erscheinung, die sich in Gedanken nicht vorteilhaft vorstellte, machte ihr viel zu schaffen. Auf einmal, nachdem sie wieder einige Male im Zimmer auf- und abgegangen, stand sie entschlossen still und sagte: »Ich will. Eine harmlose Korrespondenz kann ja schließlich nichts schaden, auch wenn sie nicht zu dem gewünschten Resultate führen sollte. Ich will mich nicht eigenwillig abschließen gegen das, was mir so unmittelbar aus Gottes Hand zu kommen scheint.« Darauf setzte sie sich an ihren Schreibtisch und nahm die Bibel zur Hand, um sich daraus Rat und Kraft zu holen. Sie schlug den 37. Psalm auf. Ihr Blick fiel auf die Worte: »Befiel dem Herrn deine Wege und hoffe auf Ihn, Er wird's wohl machen.« Und weiter: »Sei stille dem Herrn und warte auf Ihn.« Dann bat sie den Herrn um Erleuchtung in dieser Sache, und je mehr sie betete, desto mehr legte sich das stürmisch bewegte Meer und in ihr ward es ganz still.

Die Stunden verrannen, sie wußte nicht wie. Während Emma in vollster Geschäftigkeit hin- und herlief, ihre Gäste zu bedienen, war Käthchen in ihrem einsamen Stübchen mit sich und ihren Gedanken allein. Wie wohl tat ihr die Ruhe, wie dankbar war sie, daß heute nicht wie sonst dieser oder jener Mädchenbesuch an ihre Tür klopfte! Je länger sie die Sache erwog, desto klarer und fester wurde sie in dem einmal beschlossenen: »Ich will!« – »Und nun,« sagte sie, »ist's abgetan, jetzt geht's an die Pflicht.« Sie betrachtete seufzend den hohen Stoß Bücher und setzte sich davor. Wenn sie heute einige Fehler durchschlüpfen ließ, so war es verzeihlich. Es war unmöglich, so wie sonst mit ihren Gedanken bei der Arbeit zu sein. Bald trat ein Pfarrgehöft dazwischen, bald sah sie sich hoch aufgeschürzt in der Milchkammer stehen oder mit den Mägden in die Ställe gehen, bald war sie im Pfarrgarten, pflanzte, säete und begoß die Blumen. Dann sah sie sich in die Studierstube eines Pfarrers versetzt, und am Schreibtisch saß ein ernster Mann, sie stand an seiner Seite und legte die Hand auf seine Schulter – doch schnell fuhr sie aus ihren Träumen und strafte sich innerlich, daß sie so wenig Aufmerksamkeit bei den französischen Büchern zeigte. Sie ertappte sich sogar dabei, daß sie Buchstaben wegstrich, die ganz richtig dastanden, und an einer andern Stelle grobe Fehler übersah, die sie sonst scharf gerügt haben würde. Endlich war das letzte Heft durchgesehen. »Gott sei Dank!« sagte sie, aus tiefstem Herzensgrund, steckte die Bücher in ihre Schultasche, damit alles zum andern Morgen bereit sei, und machte sich auf den Weg zu Professors.

Wir haben gesehen, wie sie Emma mit wenigen Worten ihren Entschluß mitgeteilt. Letztere war dankbar und froh bewegt; die Professorin drückte Käthchen verstohlen die Hand, Käthe erwiderte den Händedruck bedeutungsvoll und sah sie innig an. Als aber die andern Damen sich gegen zehn Uhr zum Aufbruch rüsteten, flüsterte die Professorin Käthchen ins Ohr: »Fräulein Walter, Sie müssen unbedingt noch bleiben!« Und als sie endlich allein waren, sagte sie mütterlich: »Nun, mein liebes Käthchen, setzen Sie sich zu mir, Sie haben heute einen schweren Tag gehabt und wir alle mit Ihnen!«

»Und ich habe alles angerichtet!« setzte Emma, komisch seufzend hinzu.

»Ja,« sagte Käthe, auch leise seufzend, »Sie müssen nun Elternstelle an mir vertreten, da meine Eltern in weiter Ferne weilen und ich sie schriftlich nicht in das Geheimnis einweihen kann.«

»Das wollen wir, Fräulein Walter,« sagte der Professor herzlich und väterlich. »Die Korrespondenz soll unter meinem besonderen Schutz stehen!«

»Also finden Sie es nicht leichtsinnig, Herr Professor, wenn ich auf einen Briefwechsel mit einem Unbekannten eingehe?«

»Durchaus nicht. Ich habe zu Ihnen das feste Vertrauen, daß Sie sich die Sache ernstlich mit Gott überlegt haben. Ich finde kein Unrecht darin, daß mein Neffe an Sie schreiben will und Sie ihm auf seinen Brief antworten. Alles andere wird sich finden!«

»Ja, ich will auch vorläufig an gar nichts weiter denken, als daß ich ihm seine Briefe beantworte. Die Sache ist schon schwierig genug!«

»Das wird sich zeigen,« sagte der Professor. »Nur unverzagt und Gott vertraut!«

Dabei sah er sie so fröhlich und siegesgewiß an, daß es Käthe auch ganz froh zu Mute war, und alle Schwierigkeiten, die sich vor ihr aufgetürmt, wichen. Sie saßen noch lange zusammen, redeten hin und her. Emma erzählte von ihrer inneren Unruhe, die sie gehabt, seit sie den verhängnisvollen Brief an ihren Bruder geschrieben – wie sie aber nur die schwesterliche Liebe dazu getrieben, wie ihr größter Wunsch sei, ihren Bruder glücklich zu wissen, und wie sie hoffe, daß er es ganz und völlig durch Käthe werden könne.

»Das ist die große Frage,« versetzte Käthe bange. »Den besten Willen hätte ich wohl, einen Mann glücklich zu machen, – doch kann ich ihm so wenig bieten,« setzte sie demütig hinzu.

»Davon wollen wir nicht reden,« sagte Emma. »Eine große Hauptsache ist aber auch, daß du, liebe Käthe, durch ihn glücklich wirst.«

Käthe sah sie ernst an. »Das kann geschehen, wenn wir innerlich harmonieren. Wir stehen auf einem und demselben Glaubensgrund. Finden unsere Herzen sich in Ihm, so ist das, glaub' ich, Bürgschaft für unser künftiges Glück. Aber wir sind Menschen und die äußere Erscheinung tut viel. Ich weiß sehr wohl, daß ich ebensogut davon abhängig bin als andere Mädchen, doch denke ich mit Gottes Hilfe alle diese Bedenken zu überwinden.«

»Ja, es ist die Frage, ob dir Hermann seiner äußeren Erscheinung nach gefallen wird,« versetzte Emma nachdenklich. »Ich sagte dir schon einmal –«

»Kinder, laßt das Reflektieren und Meditieren und befehlt die Sache Gott dem Herrn!« unterbrach sie der Professor. »Was mit Ihm angefangen, wird auch von Ihm herrlich hinausgeführt werden. Fräulein Walter, es ist bald Mitternacht, ich werde Sie heute nach Hause geleiten!«

»Schon so spät!« rief Käthchen und sprang erschrocken auf. »Es ist gut, daß solche Briefe nicht alle Tage kommen!« Sie verabschiedete sich herzlich und innig von der Professorin und Emma, ließ an Mariechen, die schon längst zur Ruhe gegangen, viele Grüße zurück, worauf sie an der Seite des Professors tapfer ihrer Behausung zutrabte. –

Und wer in fernen Landen auf dem einsamen Pfarrgehöft zu Nienhagen gestanden, konnte noch spät die Lampe in der Studierstube des jungen Pastors brennen sehen. Er beugte sich über die Bibel und las die Worte des 37. Psalms; »Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf Ihn, Er wird's wohl machen« und weiter unten: »Sei stille dem Herrn und warte auf Ihn.«

»Jetzt kann mein Brief in ihren Händen sein,« sagte er leise vor sich hin. »Wie wird sie ihn aufnehmen?«

 


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