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3. Mariechen als Gouvernante

Der Nachtwächter hat dir das gesagt?«

»Ja, gnädige Frau, bis um drei Uhr hat er Licht im Zimmer des Fräuleins gesehen,« versetzte die gesprächige Jungfer.

»Nun, Fräulein hat vielleicht noch zu arbeiten gehabt. Es ist gut, Minna, du kannst gehen!«

Mariechen kam gefaßt und ruhig zum Morgenkaffee. Sie sah wohl bleicher als gewöhnlich aus, doch konnte das ja nicht auffallen, da sie hier fremd war und niemand ihre gewöhnliche Gesichtsfarbe kannte. Die gnädige Frau war allein im Speisezimmer.

»Ei, ei, Fräulein Rothe,« sagte sie, den Finger drohend erhebend, »Sie sehen aus, als ob Sie nicht geschlafen. Was hat es denn gegeben, daß Sie erst so spät, oder vielmehr so früh die Ruhe gesucht?«

Mariechen wurde verwirrt. Ausflüchte hatte sie nie gemacht und die Wahrheit gestehen konnte sie unmöglich. Sie sagte nur: »Woher wissen gnädige Frau, daß ich so lange aufgewesen?«

»Der Nachtwächter hält strenge Kontrolle. Doch im Ernst, Fräulein Rothe, wir lieben das Spätaufbleiben im ganzen nicht.«

»Ich werde mich danach richten, gnädige Frau!«

Wie ganz anders hatte sich Mariechen den Schulanfang gedacht! Frisch und fröhlich wollte sie an ihre Arbeit gehen und nun war sie auf einmal wie gelähmt. Doch anhaltendes Gebet und Vertrauen auf Gottes Hilfe ließ sie allmählich alles Schwere überwinden; kaum war eine Woche vergangen, so hatte sie sich in ihren Beruf hineingearbeitet. Die unnützen Gedanken wurden mehr und mehr durch die Arbeit, welche ihr die Stunden verursachten, zurückgedrängt, und das frische, fröhliche Wesen der Kinder verfehlte seine Wirkung bei dem von Natur fröhlich angelegten Mariechen nicht.

Wie froh war sie, daß Ulbersdorffs nichts von ihren inneren Erlebnissen wußten; auch den Eltern gegenüber hatte sie geschwiegen. Es war besser so, sie wollte es allein durchkämpfen. Am nächsten Sonntag fuhr sie mit in die Kirche. Sie hatte Gott gebeten, sein Wort an ihrem Herzen zu segnen, so sah sie in Werner nur den Verkündiger des seligmachenden Wortes. Sie saß in einer Ecke der Kapelle, wo sie den Prediger nicht sehen, nur hören konnte.

Die Predigt gab ihr Trost und Frieden. Werner sprach über die Freude der Christen. Es war der Sonntag Jubilate und der Text aus dem Johannisevangelium.

Als der Gottesdienst beendet war und Mariechen aus der Kirche trat, leuchtete aus ihren Augen Friede und Freude und ihr Herz war fröhlich und guten Mutes. Sie wollte sich nun nicht mehr grämen um Dinge, die nicht mehr zu ändern waren. Wie gern hätte sie Pastor Werner die Hand gereicht und gesagt: »Verzeihen Sie mir.« Aber das konnte sie nicht, wenn er keine Gelegenheit dazu bot. Sie legte darum alles in Gottes Hand, und wollte ganz ihrem Beruf, die Kinder durch Wort und Beispiel dem Herrn zuzuführen, leben.

Das war keine ganz leichte Aufgabe. Die Kinder waren verzogen, weder an strenges Gehorchen noch an Pünktlichkeit gewöhnt, und der häufige Wechsel von Bonnen und Gouvernanten hatte zur Folge, daß sie sich schwer anschlossen und im ganzen wenig Respekt zeigten. Die Schule sollte um acht Uhr beginnen, und Mariechen hegte nicht den mindesten Zweifel, daß die Kinder auch ohne ausdrücklichen Befehl zu dieser Zeit im Schulzimmer sein würden. Wie erstaunte sie, als am ersten Schultage niemand kam. Sie setzte sich an den Schultisch, wartete fünf, ja zehn Minuten, doch keine Schülerin ließ sich sehen.

»Du kannst doch nicht gehen und dir die Kinder zusammensuchen, das ist ja gegen allen Respekt!« dachte sie. Sie wartete also noch weitere fünf Minuten und als sich noch nichts regte, erhob sie sich kopfschüttelnd und öffnete die Tür. Da sah sie Gretchen mit ihrer Puppe im Arm ankommen.

»Nun, Gretchen, was heißt dies? Ihr sollt um acht Uhr im Lehrzimmer sein und jetzt ist es ein viertel auf neun; wo sind die Schwestern?«

»Ach, die kommen noch nicht gleich. Luise besorgte noch etwas für Mama und Adele spielt mit Puppen.«

»Aber Kinder, es ist euch doch gesagt, daß die Stunden um acht beginnen, da muß ich entschieden um mehr Pünktlichkeit bitten!«

»Das nehmen wir nicht so genau,« meinte Gretchen. »Bei den andern Erzieherinnen sind wir auch erst um halb neun, oder wie es paßte, hinaufgegangen!«

»Ich wünsche aber entschieden, daß ihr Punkt acht auf euren Plätzen sitzt,« sagte Mariechen in so ernstem Ton, daß Gretchen scheu zu ihr aufsah. »Geh schnell, rufe die Schwestern, sage ihnen, ich sei sehr böse, daß sie nicht da seien.«

Gretchen setzte ihren Puppenjungen auf den Stuhl am Tisch und wollte eilig fortrennen.

»Was soll das!« sagte Mariechen. »Nimm die Puppe mit!«

»Mein Heinrich hört immer zu in den Stunden,« sagte Gretchen mit solcher kindlicher Unschuld, daß Mariechen beinahe lachen mußte. Doch nahm sie sich zusammen und sagte ernst: »Nimm die Puppe mit und laß sie mich während des Unterrichts nicht wieder im Schulzimmer sehen!«

»Hier mußt du strenge Saiten aufziehen,« seufzte sie. »Die Gräfin hatte recht!«

Jetzt kamen die wilden Mädchen trap trap herauf. Sie rissen das Schulzimmer auf und stürzten alle drei auf einen Stuhl los.

»Hier sitze ich!« – »Nein ich! ich habe immer hier gesessen!« Mariechen schlug mit der Hand auf den Tisch und rief mit lauter Stimme: »Ruhe!« Dies eine mit Energie gesprochene Wort machte einen sichtlichen Eindruck auf die Kinder. Sie wurden still und sahen ihre Lehrerin verdutzt an. Diese schwieg eine Weile und sagte dann mit ernster, ruhiger Stimme: »Ich werde euch die Plätze anweisen. Hier,« auf einen Stuhl zu ihrer Rechten deutend, »Gretchen, hier Adele und mir gegenüber Luise.« Die Mädchen setzten sich und Mariechen fuhr fort: »Von morgen an habt ihr präzise acht Uhr hier zu erscheinen, wer eine Minute zu spät kommt, bleibt eine Viertelstunde da! Und dann wünsche ich, wenn es zur Stunde geht, daß ihr sittsam und ordentlich erscheint; mir ›Guten Morgen‹ bietet, was heute nicht geschehen (die Mädchen sahen sich verlegen an und wurden rot) und darauf still an eure Plätze geht. So ist es Gebrauch und Sitte in der Welt, wenn ihr nicht unter ›die Wilden‹ gerechnet sein wollt! Jetzt wollen wir anfangen!«

Mariechens Rede hatte den kleinen Wilden sichtlich imponiert. Sie waren still und aufmerksam und gaben keinen Anlaß zur Unzufriedenheit. Schon glaubte Mariechen gewonnen zu haben, mußte aber im Laufe des Tages noch einen Strauß mit der gnädigen Frau bestehen.

»Fräulein Rothe, die Kinder sagen mir, daß Sie ungehalten gewesen sind über ihr verspätetes Kommen. Da muß ich Ihnen doch sagen, daß Luise für mich etwas zu besorgen hatte, also durchaus nicht früher kommen konnte!«

»Aber, gnädige Frau,« antwortete Mariechen erstaunt, »Sie schlugen bei der Beratung des Stundenplanes selbst vor, daß die Schule um acht Uhr beginnen möchte –«

»Nun, auf ein paar Minuten ab und zu kommt es doch nicht an –«

»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen widersprechen muß. Es ist für die Kinder unbedingt notwendig, daß sie sich von frühester Jugend an an Pünktlichkeit und Ordnung gewöhnen. Ich als Lehrerin habe die Pflicht, darauf zu sehen, und muß mit Strenge darüber wachen, daß der Unterricht pünktlich beginnt. Wenn Sie also nicht wollen, gnädige Frau, daß die Kinder bestraft werden, helfen Sie mit dazu, daß sie um acht Uhr oben sind.«

»Sie nehmen ja einen gewaltig sträflichen Ton an, Fräulein Rothe,« sagte die gnädige Frau etwas verstimmt. »Wir sind doch nicht in einer Bürgerschule, wo alles nach Maß und Schablone geht. Sie unterrichten meine Kinder, und wenn ich mir von der einen oder der andern vor Schulanfang noch etwas besorgen lasse, werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben.«

»Wenn die Kinder nicht zur rechten Zeit erscheinen können,« sagte Mariechen fest, »so bin ich gezwungen, mir eine andre Stelle zu suchen, wo meinen Wünschen in dieser Beziehung mehr Rechnung getragen wird.«

Frau von Ulbersdorff erschrak. Sie hatte den immerwährenden Wechsel der Gouvernanten satt und war froh, eine Persönlichkeit gefunden zu haben, die ihr konvenierte. »Nun, nun, Fräulein Rothe,« sagte sie besänftigend, »nur nicht gleich so hitzig. Meinetwegen können Sie die Kinder zu der gewünschten Zeit haben, ich werde Ihnen nichts in den Weg legen.«

Mariechen mußte sich zufrieden geben, wenngleich sie gewünscht hätte, die Mutter ihrer Zöglinge etwas mehr um das wahre Wohl ihrer Kinder besorgt zu sehen. Frau von Ulbersdorff war froh, wenn sie der Mühe mit den Kindern überhoben war, und wohl fühlend, daß in Mariechen ein tüchtiges Erziehungstalent steckte, lenkte sie ein und gab diesmal nach.

Gretchen zeigte, seit die Schule begonnen, nicht mehr die große Zuneigung zur Gouvernante wie in den ersten Tagen. Sie gehorchte, weil sie mußte, hielt sich aber außer den Schulstunden möglichst fern. Als aber Mariechen am Samstag nachmittag Gretchen zu sich winkte, sie freundlich ansah und sagte: »Jetzt hole deine Puppe, ich will mit dir spielen,« da wurde das kleine Mägdlein ganz rot vor Freude und rief erstaunt aus:

»Sie wollen mit mir und meinen Puppen spielen? Das haben die andern Gouvernanten nie getan!«

»Magst du es nicht?«

»O ja, sehr gern! Wie gut Sie sind!« Mit diesen Worten schlang sie ihre Arme um Mariechen und sagte: »Seien Sie mir nicht böse, ich habe gesagt, ich könnte Sie gar nicht mehr leiden, weil Sie mir nicht erlaubten, meine Puppe in des Stunden neben mich zu setzen, und weil Sie so sehr strenge wären!«

Mariechen streichelte das Kind freundlich und sagte: »Wenn ich euch strafen muß, so tut es mir weher als euch, aber ich habe euch lieb und will nur euer Bestes. Nun lauf und hole die Puppen!«

Und als Mariechen nun kindlich und fröhlich mit den Kindern spielte, denn Luise und Adele hatten sich gar bald dazu gefunden, da gab es einen fröhlichen Samstag nachmittag, und als die Gouvernante versprach, es jeden Samstag so zu machen, wenn sie die Woche über artig und gehorsam gewesen, da strahlten die Kinder und versprachen alles mögliche Gute. So gewann sich Mariechen durch Ernst und Liebe, jedes zu seiner Zeit, bald die Herzen der Kinder, und nach einigen Wochen war der gute Einfluß merklich zu spüren. Dennoch hatte Mariechen einen schweren Stand, da die Eltern ihr sehr wenig in der Erziehung zur Seite standen und die ältere Schwester sogar störend in den Weg treten konnte.

Mariechen bedurfte der Weisheit von oben, um das Rechte zu treffen, besonders Theodora gegenüber. Anfangs hatte sie geglaubt, letztere, nur einige Jahre jünger als sie, würde mit ihr Freundschaft schließen, wie ehedem Röschen von Buchwald es getan. Theodora ließ sie aber auf empfindliche Weise merken, daß sie das gnädige Fräulein sei und Mariechen die von ihren Eltern besoldete Gouvernante, daher letztere sich möglichst von ihr zurückzog, um sich nicht fortwährenden Demütigungen auszusetzen. In der Stille hoffte sie, daß die gräflichen Herrschaften in der Nachbarschaft Hildegard Schmidt engagieren würden, und dann hatte sie ja auch eine Freundin, gegen die sie sich aussprechen konnte. Gegen Ulbersdorffs hatte sie noch nichts erwähnt von ihrem Zusammentreffen mit diesen Leuten; sie wollte es ruhig abwarten, bis Hildegard etwas von sich hören ließe.

So war der Mai herangekommen, ja schon zur Hälfte überschritten. Mariechen lebte ganz auf, wenn sie mit ihren Kindern in Wald und Feld umherschweifte und sich des Frühlings freute. In der Nähe von Birkenfelde war ein prächtiger Wald, Maiblumen gab es darin und vieles andere Schöne! Wie ging Mariechen das Herz auf, wenn sie die Vöglein singen hörte und das frische junge Grün sprießen sah. Sie wand mit den Kindern Kränze und sang mit ihnen Frühlingslieder, alles Kummers und aller Sorgen vergessend.

Es waren Wochen vergangen und sie hatte Werner nur Sonntags auf der Kanzel gesehen. Da sie nach der Kirche stets gleich nach Hause fuhren und das Pfarrhaus, hinter Bäumen versteckt, an der andern Seite des Kirchhofs lag, so wußte Mariechen nicht einmal, wo er wohnte. Es war ihr sehr lieb, daß sie nicht weiter mit ihm in Berührung kam, und die schweren Gedanken, die sie sich am ersten Sonntag in Birkenfelde gemacht, zerflossen wie der Nebel vor der Frühlingssonne.

 


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