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5. Gräfin Hoheneck

Wir wollen aufhören, Hildegard,« sagte die Gräfin Hoheneck zu einer Jungfrau, mit der sie auf der Terrasse vor ihrem Schloß saß, und von der sie sich vorlesen ließ. Die Gräfin ruhte in einem bequemen Lehnsessel, während Hildegard ihr gegenüber Platz genommen, um ihr, wie sie es gern hatte, die Nachmittagsstunden mit Lektüre zu vertreiben. Bei den Worten der Gräfin machte Hildegard das Buch zu und griff nach einer Stickerei.

»Mein liebes Kind, nicht immer arbeiten,« sagte die Gräfin in gütigem Ton. »Sie sollen jetzt ein wenig spazieren gehen, damit die Landluft Ihnen frischere Farben macht!«

»Sie sind zu gütig, gnädige Frau Gräfin.«

Die Gräfin lächelte und streckte ihr die Hand hin. »Meine liebe Hildegard, Sie lassen sich unsere Pflege so angelegen sein, sorgen so treu für uns, daß wir mit Ihnen gar wohl zufrieden sind. Dafür muß ich nun aber auch auf Ihr Wohl bedacht sein, und da Ihre liebe Mutter so fern ist, Mutterstelle an Ihnen vertreten. Sagen Sie, haben Sie schon von Mariechen Rothe gehört?«

»Bis jetzt noch nicht, Frau Gräfin. Ich wollte ihr immer schreiben und meine Ankunft melden, bin aber noch nicht dazu gekommen.«

»Ich habe die Absicht,« sagte die Gräfin, »Ulbersdorffs zum Freitag einzuladen und werde Fräulein Rothe auffordern, mitzukommen.«

»Es ist zu gütig von Ihnen,« sagte Hildegard vor Freude errötend.

»Ich freue mich selbst, die kleine, liebenswürdige Blondine wieder zu sehen,« versetzte die Gräfin. »Ich höre, daß Ulbersdorffs sehr mit ihr zufrieden sind; sie soll, trotz ihrer Jugend, ausgezeichnet mit der kleinen, wilden Gesellschaft fertig werden und soll sich wirklich Respekt verschafft haben. Bis jetzt hat keine Gouvernante länger als ein viertel, höchstens ein halbes Jahr ausgehalten. Bin gespannt, wie lange Ihre Freundin bleiben wird.«

»Sie ist sehr selbstlos und pflichttreu und wird, wenn sie die Kinder einmal lieb hat, nicht um äußerer Bequemlichkeit halber die Stelle aufgeben.«

»Recht so, das gefällt mir. Doch nun gehen Sie, Kind, ich will unterdes schreiben. Um sieben Uhr bereiten Sie uns den Tee!« Mit diesen Worten verließ die Gräfin die Terrasse und Hildegard stieg die Stufen hinunter, um sich in dem gräflichen Park Bewegung zu machen.

Wohl und wehe war es ihr ums Herz. Wohl, weil sie sich in einer Umgebung sah, die so ganz ihren Wünschen entsprach. Hier fühlte sie sich heimisch; die edle Vornehmheit des alten Paares zog sie an, das prächtige Schloß mit seinen schönen Sälen, reich ausgestatteten Zimmern, luxuriösen Boudoirs, mit seinen Kunstschätzen und Bildern, – o, es war ihr nicht eng und beklommen zu Mute, wie andern Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen; nein, es war ihr, als gehörte sie hinein, als müßte alles so sein! Ein schmerzliches Gefühl jedoch beschlich sie, wenn sie an ihr Mütterlein daheim dachte. Wenn sie mit ihr hier sein könnte, alles mit genießen, dann wäre sie vollkommen glücklich gewesen. Aber die treue Mutter war ja bei der Schwester so gut aufgehoben, sie fühlte sich durchaus befriedigt, was bei Hildegard, wenn sie mit der Schwester und dem Schwager hätte leben sollen, nicht der Fall gewesen wäre. So war ja allen Teilen geholfen und Hildegard freute sich, wenn sie der geliebten Mutter von ihren ersten Ersparnissen würde schicken können. Einstweilen wollte sie ihrer Pflicht treu nachkommen und den alten Herrschaften eine gute Gesellschafterin sein. Schwierig war die Stellung durchaus nicht, es wurde im ganzen wenig von ihr verlangt und doch war sie gebunden. Die Herrschaften wollten sie haben zu jeder Stunde, wenn sie Gesellschaft wünschten. Sie mußte ihnen erzählen, vorlesen, vorspielen und singen: den Kaffee und Tee bereiten, die Rechnungen über wirtschaftliche Ausgaben führen usw. Ihr feiner Takt, ihre Schönheit und Anmut machte sie dem hohen Paare von vornherein angenehm, sie bewegte sich unter ihnen wie ihresgleichen, so daß Graf Hoheneck am ersten Abend ihres Kommens zu seiner Gemahlin äußerte: »Wo hat nur die Kleine dies savoir vivre her!«

Hildegard erging sich im Park, bewunderte immer wieder aufs neue die schönen Blumen und ausländischen Gesträuche, ließ ihre Blicke über die sammetgleichen Rasenflächen schweifen, blieb am Springbrunnen stehen und lauschte seinem Geplätscher, – dann ging sie weiter in den waldigen Teil des Parkes, wohin eine köstliche Buchenallee führte. Wie schön war das verschiedenartige Grün, wie lieblich der Vöglein Gesang, wie frisch und stärkend die Landluft! Sie hatte jahrelang in der Residenz gelebt, Stadtluft eingesogen, war treppauf, treppab gelaufen, um Privatstunden zu geben, war wenig ins Freie gekommen. Das hatte die Wangen gebleicht und der stille Kummer im Herzen mochte wohl auch dazu beitragen, daß das Aussehen nicht mehr so frisch und rosig war, wie es ihren dreiundzwanzig Jahren angemessen war. War's ein Wunder, daß in dieser stillen, vornehmen Umgebung ihre Gedanken immer wieder zu dem einen kehrten, der fest und treu in ihrem Herzen lebte? Sie hatte nicht die geringste Kunde von ihm, wußte nicht, ob er ihr treu geblieben, oder sich, wie es der Wille seiner Eltern war, mit einem Mädchen seines Standes verheiratet hatte. Es war ja auch im Grunde gleich, sie durfte und wollte sich keine Hoffnung machen, und hier in fernen Landen konnte sie sich sicher und frei fühlen, brauchte keine Begegnung zu fürchten! Sie war Mariechen Rothe von Herzen dankbar, daß dieselbe ihr diese für sie so passende Stelle verschafft. Und was sie hauptsächlich freute, war, daß ihr Mütterchen mit dem Plan sofort einverstanden gewesen, als die Gräfin geschrieben, ja fast mit fieberhafter Aufregung Hildegard zur Zusage bestimmt hatte. Es war ihr im ersten Augenblick befremdlich, daß die Mutter sie so willig in weite Ferne ziehen lassen wollte, aber als sie sah, wie dieselbe leuchtenden Antlitzes die Hände faltete und sagte: »Das kommt vom Herrn!« da waren auch ihre Bedenken geschwunden; sie schrieb ein freudiges Ja auf die Anfrage der Gräfin. Acht Tage später hielt sie ihren Einzug in Schloß Klosterberg. Nun war sie fast drei Wochen hier, und es deuchte ihr, als seien es Jahre, so vollständig eingelebt und zu Hause war sie!

Die Gräfin hatte ihren Brief beendet und war wieder auf die Terrasse getreten. Ihre Augen suchten Hildegard, sie fehlte ihr, wenn sie sie nicht sah! Sie setzte sich nieder und sah still vor sich hin. Wenn sie allein war, nahmen ihre Züge immer einen schmerzlichen Ausdruck an; ihre Augen füllten sich auch heute mit Tränen, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Mamachen, nicht so traurig, wo ist denn die kleine Gesellschafterin, die ich speziell zu deiner Aufheiterung habe kommen lassen?«

»Gerade sie ist es, die mir Tränen entlockt. Ich werde durch sie mehr wie je an unsere Adelheid erinnert.«

»Wunderbar,« sagte der alte Herr. »Ich fand den ersten Abend eine große Ähnlichkeit zwischen ihr und unserer verstorbenen Adelheid, sagte aber absichtlich nichts, um keine schmerzliche Saite bei dir zu berühren!«

»Und ich mochte dir nichts sagen. Es war mir, als sei unsere Adelheid wieder zum Leben erwacht.«

»Unser Kind kommt nicht zu uns zurück. Wir wollen ihr die ewige Ruhe gönnen, aber an ihrer Statt wollen wir das fremde Mädchen lieb haben, weil sie uns an die Verstorbene erinnert. Sieh, jetzt kommt sie!«

Eben tauchte Hildegards schlanke Gestalt in der gerade der Terrasse gegenüberliegenden Buchenallee auf. Ihre Wangen waren vom Gehen gerötet, die dunklen Augen leuchteten so fröhlich, als sie ihre liebe Gräfin auf der Terrasse erblickte. Mit schnellen, elastischen Schritten näherte sie sich dem Schloß.

»Wie schön sie ist!« flüsterte die Gräfin ihrem Gatten zu.

»So schön, wie du warst in ihrem Alter und es noch heute für mich bist!« Mit diesen Worten reichte der Graf seiner Gemahlin den Arm, sie in das Speisezimmer führend, wo schon der Diener den Tisch gedeckt und die Spirituslampe mit dem Teewasser gebracht hatte.

Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte Frau von Ulbersdorff zu Mariechen: »Gräfin Hoheneck in Klosterberg bittet um unsern Besuch am Freitag und fügt gleichzeitig eine besondere Einladung für Sie bei!«

»Das ist gewiß die Frau Gräfin, mit der ich zusammen gereist bin. Ihren Namen habe ich nicht erfahren, auch nicht, wo sie wohnt, aber sie sagte mir, daß in der Nähe von Birkenfelde auch ihre Heimat sei.«

»Davon haben Sie uns ja nichts erzählt?«

»Ich glaubte, es würde Sie nicht interessieren, gnädige Frau. Hat Frau Gräfin etwas von einer Gesellschafterin erwähnt?«

»Ja freilich. Eine von Ihnen empfohlene Gesellschafterin sei engagiert und seit einigen Wochen bei ihnen!«

»O, das ist herrlich,« rief Mariechen, aufs höchste erfreut. »Nun habe ich eine Freundin in der Nähe und kann mit Ihrer Erlaubnis öfter mit ihr verkehren.«

»Mama,« sagte Theodora später, als Mariechen das Zimmer verlassen, »ich finde es sonderbar, daß die Gräfin unsere Gouvernante mit uns einladet. Die kann doch ihre Freundin ein andermal besuchen, es paßt ja gar nicht!«

»Du weißt, Hohenecks sind sehr leutselig und gütig gegen ihre Untergebenen; übrigens sind die Kinder mit eingeladen und damit ist das Mitkommen der Gouvernante ganz begründet!«

Am Freitagnachmittag hielt der offene Omnibus vor dem Herrenhaus in Birkenfelde, und nachdem Frau von Ulbersdorff mit ihrer Tochter eingestiegen, setzten sich auch Mariechen und die Kinder fröhlich in den Wagen. Es war ein herrlicher Junitag, auf den Wiesen lag das Heu und duftete so lieblich, die Luft war rein und köstlich, der Himmel blau und klar, heute war kein Gewitter zu fürchten. Klosterberg lag in der entgegengesetzten Richtung von Arnsgrün, es ging zwischen Wiesen und Feldern hin, Wald gab es nicht auf der Strecke. Endlich rief Gretchen: »O, ich sehe den Schloßturm von Klosterberg und jetzt das ganze Schloß.«

Mariechen wandte neugierig den Kopf, es interessierte sie sehr, den neuen Wohnort der Freundin kennen zu lernen. »Hohenecks wohnen wohl schon lange in Klosterberg?« fragte sie bescheiden.

»Nein, erst seit sechs oder sieben Jahren,« entgegnete Frau von Ulbersdorff. »Das heißt, das Gut ist alter Familienbesitz, aber Graf und Gräfin Hoheneck wohnten früher auf einem Gut in Sachsen oder Schlesien. Schwere Schicksalsschläge veranlaßten sie, ihren Wohnsitz dort aufzugeben und dies Schloß für sich herrichten zu lassen. Sie sind viele Jahre auf Reisen gewesen, doch jetzt sind sie alt und haben sich hier zur Ruhe gesetzt. Sie verkehren im ganzen wenig mit ihrer Nachbarschaft, doch werben alle um ihre Bekanntschaft, da sie sehr angesehen sind und zu den Vornehmsten des Landes gehören. Wir werden gleich da sein!«

Sie fuhren schon durch das freundliche, saubere Dorf mit seinen netten roten Häuschen. »Der Graf tut sehr viel für seine Leute,« sagte Frau von Ulbersdorff, »er kann es auch, denn er gebietet über enorme Mittel, hat aber leider keine Kinder.«

»Keine Kinder!« sagte Mariechen traurig. »Ich dachte es schon nach einigen Äußerungen der Frau Gräfin.«

»Das heißt, ein Sohn war da, ist aber seit vielen Jahren verschollen. Wissen Sie, leichtsinnig gewesen – eine Mesalliance getan – die Leute munkeln allerlei!« Frau von Ulbersdorff schwieg, denn eben fuhren sie durch das herrschaftliche Tor, und nachdem die Pferde schnell um den großen, vor dem Schloß befindlichen Rasenplatz getrabt, hielt der Wagen. Ein Diener in reicher Livree kam die Schloßtreppe herunter und öffnete den Wagenschlag. Nachdem er den Herrschaften in der Halle die Sachen abgenommen, öffnete er die Türen des Empfangszimmers. Die alte Gräfin kam Frau von Ulbersdorff mit Herzlichkeit entgegen, begrüßte Theodora freundlich und sagte dann: »Nun, wo ist meine kleine Freundin, unsere liebe Reisebegleiterin?«

Mariechen, die sich im Hintergrunde gehalten, trat jetzt vor und verbeugte sich zierlich. Die Gräfin reichte ihr jedoch so herzlich die Hand, sah sie so liebevoll und gütig an, daß Mariechen im Herzen gar wohl den Unterschied zwischen ihr und ihrer Herrin fühlte und Hildegard glücklich pries, einer solchen Herrin dienen zu dürfen.

Während Mariechen mit der Gräfin sprach, war Hildegard eingetreten, und nachdem sie sich mit Anmut und Ehrfurcht vor den Herrschaften verneigt, flog sie auf die Freundin zu. Sie mit sich ins Nebenzimmer ziehend, sagte sie: »Wie großen Dank ich dir schulde, kann ich kaum mit Worten aussprechen, ich fühle mich so glücklich hier, so ganz an meinem Platz, die alten Herrschaften liebe ich fast wie Eltern, sie sind so gütig gegen mich.« – »Der Herr hat alles so wunderbar gefügt,« setzte Mariechen ernst hinzu, »danke Gott, nicht mir, die ich nur Sein schwaches Werkzeug war!«

»Geht es dir denn auch gut?« fragte Hildegard und sah sie forschend an.

»O ja, ganz gut. Aber ich glaube, meine Aufgabe ist etwas schwerer als die deine. Ich habe im Hause mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen und auch außerdem« – wollte sie hinzufügen, doch sie schwieg. Sie konnte ja unmöglich Hildegard alles Erlebte jetzt mitteilen, vielleicht später.

Der Diener betrat wieder das Zimmer. »Frau Gräfin wünschen, daß die Damen den Kaffee mit den Herrschaften einnehmen.«

»Eigentlich wäre es hübscher in deinem Zimmer,« flüsterte Mariechen befangen.

»Warum?« fragte Hildegard, »ich trinke ihn stets mit der Gräfin zusammen.« Mit diesen Worten betrat sie samt Mariechen den Salon.

»Sie kleine Böse,« rief die Gräfin lächelnd den Finger erhebend, »sollen mir nicht entkommen, ich habe Sie nicht allein für Hildegard eingeladen, sondern will auch von Ihnen etwas haben. Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir, wie es Ihnen ergangen, seit wir uns zuletzt gesehen!«

Theodora warf spöttisch die Oberlippe auf, mußte aber jetzt schweigen. Später jedoch sagte sie, sich an ihre Mutter wendend: »Mama, ich sehe die Kinder gar nicht, es wäre wohl gut, Fräulein Rothe schaute einmal, was sie treiben!«

»Fräulein Rothe laß ich jetzt nicht fort,« versetzte die Gräfin lächelnd. »Sie ist heute bei mir zum Kaffee und soll einmal aller Pflichten ledig sein. Seien Sie unbesorgt, liebe Theodora, meine Kastellanin, Frau Müller, ist für heute nachmittag beauftragt, sich mit den Kindern zu beschäftigen. Sie hat die große Puppenküche vom Boden holen müssen und kocht mit ihnen. Später können wir uns alle einmal das Vergnügen ansehen.« Mit diesen Worten nickte sie Mariechen freundlich zu und bewirkte dadurch, daß selbige, die bei den Worten Theodoras schnell aufgestanden war, sich wieder setzte.

Theodora biß sich unmutig auf die Lippen und ließ sich nicht herab, ein freundliches Wort mit der Gouvernante oder Gesellschafterin zu reden, obwohl es junge Mädchen waren wie sie. Desto mehr unterhielt sich die Gräfin mit Mariechen und zeichnete sie so aus, daß es Mariechen fast peinlich war Theodora gegenüber. Als nach dem Kaffee die Damen sich auf die Terrasse begaben, um sich im Park zu ergehen, flüsterte Mariechen Hildegard zu: »Ich möchte doch nun nach den Kindern sehen.« Die Gräfin, merkend, was Mariechen wollte, sagte: »Gehen Sie nur zu Ihren Kindern und dann lassen Sie sich von Hildegard ihr Stübchen zeigen und plaudern Sie noch ein wenig zusammen, aber vergessen Sie das Wiederkommen nicht, denn Sie sind mein Gast heute!«

Mariechen verneigte sich dankend und verließ mit Hildegard die Damen. Sie durchschritten eine lange Reihe prächtiger Zimmer und betraten einen großen Saal von ungeheurer Ausdehnung. Große Büfetts an den Seiten kennzeichneten ihn als den Speisesaal, doch erklärte Hildegard, daß derselbe nur bei großen Festivitäten gebraucht und jetzt, wo die Herrschaften fast gar keinen Verkehr unterhielten, eigentlich gar nicht benutzt werde. Mariechen sah staunend auf die Reihen alter Ahnenbilder, die sich ihren Augen darstellten. Plötzlich rief sie: »Da bist du ja, Hildegard!«

Sie stand vor einem Bild, das ein junges Mädchen vorstellte, das allerdings in Gestalt, Form des Gesichts, Ausdruck und Farbe der Augen merkwürdige Ähnlichkeit mit Hildegard hatte. Ein dunkelblaues Kleid umschloß die Gestalt und Mariechen sagte: »Gerade in solchem blauem Kleide habe ich dich zuerst gesehen, ganz so sahest du aus an jenem Abend der Ausführung!«

Hildegard zuckte zusammen. Der Abend war ihrem Gedächtnis treu eingeprägt, derselbe war der für ihre Liebe entscheidende gewesen. Sie ging nicht weiter auf diese Bemerkung Mariechens ein, sondern sagte nur: »Es haben schon mehrere hier im Schloß gesagt, daß ich dem Bilde ähnlich sei. Frau Müller nennt mich sogar oft »Fräulein Adelheidchen«, weil sie sagt, daß ich sie an die verstorbene Tochter, Komtesse Adelheid, erinnere. Es kommt ja vor, daß ganz fremde Leute sich oft ähnlich sehen, und ich freue mich, wenn die Herrschaften durch mich an ihre Tochter erinnert werden. Übrigens weiß ich nicht, ob sie selber es denken: sie haben noch nie etwas darüber geäußert!«

»Wie merkwürdig das Bild absticht gegen alle die altmodischen Kostüme,« sagte Mariechen, sinnend die andern Bilder betrachtend. »Aber was ist denn das, o Hildegard, sieh das reizende Bild.« Sie stand jetzt vor dem Porträt zweier Kinder, die allerdings lieblich anzusehen waren. Es war ein Knabe und ein Mädchen, beide von großer Schönheit. Der Knabe, braungelockt, mit feurigen Augen, spielte mit einem Ziegenbock, während das Mädchen im Grase saß, einen Kranz von Kornblumen windend.

»Das Mädchen ist dasselbe, wie auf dem Bilde da, also die verstorbene Tochter, da ist wohl das der Bruder des Mädchens, der leichtsinnige Sohn des Hauses?« forschte Mariechen.

»Ich weiß nichts von einem Sohn,« entgegnete Hildegard, »bin überhaupt noch nicht in die Familiengeheimnisse der Herrschaften eingeweiht. Haben denn Graf Hohenecks einen Sohn gehabt?«

»Ja!« erwiderte Mariechen leise, sich ängstlich umschauend, ob auch niemand sie höre. »Frau von Ulbersdorff erzählte mir auf dem Wege hierher, daß Hohenecks viel Kummer erlebt an einem ganz mißratenen, leichtsinnigen Sohn! Näheres weiß ich auch nicht.«

Die beiden Mädchen schwiegen und sahen lange ernst das Bild an. Endlich sagte Mariechen:

»Der Knabe sieht so schön und unschuldig aus und blickt so fröhlich in die Welt. Wer kann sich denken, daß er seinen Eltern solchen Kummer verursacht hat?«

Hildegard wischte sich eine Träne aus den Augen. Sie wurde so seltsam bewegt, je länger sie das Bild ansah. Darum nahm sie Mariechen unter den Arm und sagte: »Komm, ich bin nicht gern in diesem großen Saal, wo die Vergangenheit so mächtig zum Herzen redet; laß uns zur fröhlichen Gegenwart zurückkehren, höre nur, wie deine Kinder in der Nebenstube jauchzen!«

Mit diesen Worten öffnete sie eine Tapetentür; durch dieselbe betraten sie einen Flügel des Schlosses, der zu Wirtschaftszwecken diente und zugleich Wohnräume für die Dienerschaft enthielt. Sie betraten ein freundliches Zimmer, einfach und hübsch möbliert, und der Anblick, der sich ihnen bot, war ein so ergötzlicher, daß sie bald von der fröhlichen Laune angesteckt wurden. Eine behäbige alte Frau in weißem Häubchen und weißer Latzschürze trat den Damen freundlich entgegen und sagte:

»Nun, Fräulein Hildegardchen, das ist recht, daß Sie uns auch besuchen. Das ist wohl Fräulein Rothe, von der die Kinder mir so viel erzählten. Auch ein hübsches Fräulein, aber ganz blond! Nun, wie's der liebe Gott gibt, ist's gut. Ich habe das Schwarze lieb, weil unser Adelheidchen, Gott hab' sie selig, auch so dunkel war!«

»Ich sehe, es geht euch hier sehr gut,« sagte Mariechen zu den Kindern.

»O, es ist wunderschön in Klosterberg,« war die Antwort.

»Du siehst, Mariechen, die Kinder sind in besten Händen, so kannst du ihretwegen außer Sorge sein. Jetzt komm, ich zeige dir noch mein Stübchen und später gehen wir in den Park zu den Herrschaften.«

Sie stiegen die breiten Treppen hinauf und Hildegard öffnete, nachdem sie lange Korridors durchschritten, eine Tür mit den Worten: »Sieh, hier ist mein kleines Reich!«

Als Mariechen über die schöne und reiche Ausstattung des Zimmers ihr Erstaunen aussprach, sagte Hildegard:

»Ja, es ist alles eigentlich viel zu prächtig für mich, wenn ich denke, wie mein Mütterchen daheim einfach wohnt und sich mit so wenigem begnügen muß. Das Schönste ist aber der Blick aus meinem Fenster!«

Mariechen sah hinaus. Eine prächtige Aussicht bot sich auf den das Schloß umgebenden Park, und über denselben hinweg sah man einen durch Wald begrenzten See, der der ganzen Gegend etwas Freundliches, Belebtes verlieh.

»Und siehst du dort,« sagte Hildegard, mit dem Finger nach Osten deutend, »dort am Ende des Sees, unter Bäumen versteckt, einen Turm –«

Mariechen beugte sich zum Fenster hinaus und rief: »Ja, ganz deutlich! Das ist doch keine Kirche?«

»Nein,« sagte Hildegard eifrig, »es ist der Schloßturm von Horst. Das ist ein wunderschönes Gut, gehört aber einem alten, wunderlichen Junggesellen, dem Grafen Horst. Er kommt zuweilen zu Hohenecks, lebt aber sonst ganz einsiedlerisch und zurückgezogen. Ich habe ihn nur flüchtig gesehen, als ich vorige Woche mit den Herrschaften spazieren fuhr. Das Gut macht einen sehr hübschen Eindruck. Das Schloß ist zwar altertümlich, soll aber prächtig eingerichtet sein; die Wirtschaftsgebäude sind alle neu und stattlich, ebenso die Häuser des Dorfes, wie bei uns. Ich liebe Horst so aus der Ferne; der Blick über den See auf das hinter Bäumen versteckte alte Schloß ist höchst romantisch. Ich sitze gerne hier und schaue hinüber auf den See, sinne und träume –«

»Hildegard, es scheint mir, du hast es sehr gut hier,« sagte Mariechen, »fast wie eine Tochter des Hauses!«

»Nein, daran fehlt noch viel!« lachte Hildegard. »Das will und mag ich auch gar nicht sein, aber Hohenecks sind so lieb und gut mit mir, daß ich es mir nicht besser wünschen kann.« – Ein leiser Seufzer, der diese Worte begleitete, entging Mariechen nicht.

Sie umschlang Hildegard und sagte: »Und doch bist du nicht ganz glücklich, Hildegard, komm, laß uns Freundinnen sein, ich weiß ja, was dich drückt, wenn wir uns auch nie darüber ausgesprochen, so habe ich doch damals genug über die Geschichte gehört.«

»Mariechen,« sagte Hildegard plötzlich, »hast du nie wieder von – Buchwalds – von Waldemar von Buchwald gehört?«

»Wenigstens lange nicht,« sagte Mariechen. »Du weißt, wir haben die Residenz verlassen und sind weit weg in ein stilles Dorf gezogen. Der Verkehr mit Buchwalds ist, nachdem wir die Pension aufgaben, ganz eingeschlafen. Ich kam aufs Seminar und schrieb von da aus noch einmal an Röschen; da sie mir aber nicht geantwortet hat, habe ich natürlich nicht wieder geschrieben. Der Leutnant ging ja auf Reisen; doch denke ich, daß er jetzt wieder zurück sein muß. Aber – da fällt mir ein, hat Emma dir dein Album geschickt?«

»Wie kommst du von Herrn von Buchwald auf mein Album?«

»Nun, es fiel mir nur so ein. Er hat sich dort eingeschrieben!«

Hildegard errötete tief. »In mein Album?« rief sie erstaunt.

»Ja, denke dir! Du warst so schnell abgereist, niemand wußte wohin, da hat Emma das Buch unter ihre Bücher verpackt und jahrelang liegen gehabt. Beim Umzug fand es sich, da wir jedoch euren Wohnort nicht wußten, ist es bei uns liegen geblieben. Emma schrieb neulich, nachdem ich ihr erzählt, daß du vielleicht in meine Nähe kommen würdest: Melde es mir ja, wenn Hildegard zu der Gräfin kommt, damit ich ihr endlich das Album zustellen kann.«

»Es wäre mir freilich lieb, das längst verloren geglaubte Buch wieder zu bekommen. Doch wir verplaudern die Zeit, Mariechen: ich muß hinunter, den Tee zu besorgen! Wie glücklich bin ich, dich zur Freundin zu haben!«

»Ja, wir wollen uns recht lieb haben,« sagte Mariechen aus tiefstem Herzensgrunde. »Zu dir habe ich Vertrauen, ich könnte dir alles sagen!«

Hildegard sah sie prüfend an. »Du hast wohl auch schon etwas erlebt, Kleine –«

»Viel, sehr viel! Und glaube mir, Hildegard, trotzdem daß deine Liebe hoffnungslos ist, möchte ich lieber an deiner Stelle sein, als an der meinen! Hildegard, ich muß dir einmal in einer ruhigen Stunde alles erzählen.«

»Du hast mich so gespannt gemacht, daß ich mir am liebsten sofort erzählen ließe.« »Siehst du,« fügte Hildegard lächelnd hinzu, »wenn ich nun Tochter des Hauses wäre, würde sich Komtesse Hildegard in die schwellenden Kissen ihres Sofas niederlassen, ihrer Dienerschaft Befehl geben, den Tee zu bereiten, und ihrer Freundin zuhören! Da ich aber das nicht bin, so geh' ich mit dem Schlüsselkörbchen am Arm bescheiden meiner Pflicht nach und bezähme meine Neugierde. Doch komm, Mariechen, es ist die höchste Zeit!«

Der alte Graf war nun auch erschienen und begrüßte Mariechen als eine alte Bekannte. Er unterhielt sich auf das angelegentlichste mit ihr, während Frau von Ulbersdorff ihrerseits Hildegard mit Liebenswürdigkeit begegnete. Endlich wurde der Wagen gemeldet und unter herzlicher Verabschiedung ging es von bannen. Mariechen war innerlich voller Jubel über den wunderschönen Tag, und da sie ihren Gefühlen Ausdruck geben mußte, so dankte sie der gnädigen Frau warm, daß sie ihr die Freude gemacht, sie mitzunehmen.

Die gnädige Frau war sehr liebenswürdig und sagte Mariechen, wie sie Hildegard aufgefordert, so oft sie wolle nach Birkenfelde zu kommen, wie sie sich für Mariechen freue, daß sie in der Nähe eine Freundin habe usw.

Theodora fragte Mariechen neugierig über Hildegard aus. Sie wollte wissen, wer die Eltern des Fräuleins seien, wer die Geschwister, an wen die Schwester verheiratet sei, und als Mariechen alles der Wahrheit gemäß berichtet, meinte sie spöttisch: »Aso Schreiber war der Vater, Tischler ist der Schwager! Eine sehr spießbürgerliche Familie! Und doch tut dies Fräulein, als sei sie mindestens ebenso vornehm als ihre Grafen!«

»Sie scheint sehr unterrichtet,« wandte Frau von Ulbersdorff begütigend ein, »und hat ein feines Benehmen –«

»Der Geschmack ist verschieden,« erwiderte Theodora. Innerlich aber war sie doch ärgerlich, wie viel mehr Hildegard und Mariechen von Hohenecks beachtet gewesen als sie, und sie nahm sich vor, sich gegen diese beiden möglichst von oben herab zu benehmen. Mariechen fühlte sich gekränkt durch ihre Art, doch war sie zu glücklich über den heute verbrachten Tag, um lange darüber nachzudenken. Noch in ihre Träume hinein verwebte sie Klosterberg, Graf Hohenecks, den See, das alte Schloß: sie träumte wunderlich seltsame Dinge, während Hildegard an jenem Abend noch lange wach lag und sich mit dem Gedanken beschäftigte, was ihr wohl Waldemar könnte ins Album geschrieben haben, und was wohl Mariechen für Erlebnisse gehabt habe.

 


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