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9. Hildegard

Es war Silvester. Herr und Frau Professor, Wilhelm und Marie rüsteten sich zum Abendgottesdienst. Auch Dore sollte gehen, während Emma beim Kranken bleiben und ihm die Zeit kürzen wollte mit Vorlesen u. dgl. Sie hatte Hildegards Anerbieten, herüberzukommen und etwaige Störungen fernzuhalten, dankbar angenommen, da sie ihre Zeit möglichst dem Patienten widmen wollte.

»Es ist nur schade, Fräulein Hildegard,« sagte Emma nach der Begrüßung, »daß wir nicht zusammensitzen können, aber unser armer Konrad langweilt sich so sehr, ich muß bei ihm bleiben, ihm erzählen und vorlesen.«

»Sie wissen, Fräulein Emma, daß ich nur gekommen bin. um Ihnen zu helfen, nicht um mich zu amüsieren. Und überdies,« fuhr sie errötend fort, »möchte ich Ihnen so gerne zeigen, daß ich nichts lieber tue, als Sie besuchen.«

»Sie Böse haben uns aber auch ganz vernachlässigt, haben so selten unser Haus betreten. Doch jetzt darf ich nichts sagen, in der Zeit unserer Einsamkeit sind Sie unser täglicher Trost gewesen. Haben Sie tausend Dank! Wenn Sie mir nun die Vorbereitungen zum Abendbrot abnehmen wollen, wird Ihnen die ganze Familie zu Dank verpflichtet sein. Kommen Sie in die Küche, ich will Sie instruieren. Später setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Sie finden dort Bücher, Zeitungen u. dgl. Vertreiben Sie sich die Zeit so angenehm wie möglich und wenn es klingelt, sind Sie so freundlich nachzusehen. Ich mag nicht gern, direkt vom Kranken kommend, mit andern Menschen in Berührung geraten.«

Hildegard tat, wie ihr geheißen. Nachdem sie mit geübter Hand den Aufschnitt zum Tee besorgt, Semmelschnitte geröstet und den Teetisch zierlich geordnet hatte, setzte sie sich in einen Lehnstuhl. Die Hängelampe warf ein mildes Licht über das Zimmer, es war so still und friedlich, sie mochte nicht lesen, nur denken und sinnen. Sie hatte, wenn auch das Leben äußerlich ruhig dahingeflossen, innerlich so viel erlebt, so viel gekämpft. Wie kam es nur, daß wenn sie allein war, immer wieder die Gedanken zu dem wanderten, an den sie am wenigsten denken wollte? Wie kam es, daß ihr Herz heftiger pochte, wenn sein Name im Rotheschen Hause genannt, wenn seiner lobend erwähnt wurde? War denn der mächtige Zug zu ihm, den sie von jenem Pfingstmorgen an gespürt, noch nicht bekämpft? Und doch hatte sie ja alles getan, ihn zu meiden, absichtlich war sie Sonntags nie im Rotheschen Hause erschienen, weil sie wußte, daß Waldemar seit jener Ausführung regelmäßig Sonntags da war! Und doch! – hatten sie sich nicht abermals getroffen, ganz unerwartet, ganz wunderbar? Sie dachte zurück.

Es war ein sonniger, warmer Herbsttag gewesen, ein Tag, wie man ihn im späten Oktober selten hat. Frau Geheimrätin von Rosen, die Hildegard engagiert hatte, ihren beiden kleinen Mädchen Arbeitsstunde zu geben, hatte ihr gleichzeitig die Bedingung gestellt, täglich mit den Kindern einen Spaziergang zu machen. So wanderte sie denn auch in den letzten Tagen des Oktober mit den beiden artigen, wohlerzogenen Mägdlein dem großen Garten zu. Bald hatten sie denselben erreicht und betraten die zum Schloß führende Hauptallee. Die Kinder freuten sich über die schöne Färbung des Laubes und Hildegard mit ihnen, doch konnte sich letztere eines wehmütigen Gefühles, wie es uns oft in der Herbstzeit beschleicht, nicht erwehren. Sie ging jedoch freundlich auf die Reden der Kinder ein, erzählte ihnen und ließ sich erzählen, und so verstrich die Zeit. Eben wollte Hildegard den Rückweg durch dieselbe Allee, welche sie gekommen, antreten, als eines der Mädchen plötzlich rief: »Da kommt Röschen von Buchwald aus Wiesendorf!« Mit diesen Worten lief sie mit ihrer Schwester auf ein junges Mädchen zu, die am Arm eines Offiziers die Allee herunterkam. Röschen, denn sie war es, rief ganz erstaunt: »Annemarie und Mathilde, wo kommt ihr her? Wie geht's der Mama?« Sie grüßte Fräulein Schmidt flüchtig und wandte sich dann wieder zu den Kindern und plauderte eifrig mit denselben. Sie mußten jedenfalls sehr bekannt miteinander sein. Und Waldemar? Ja, da stand er wieder und verbeugte sich höflich vor Hildegard. »Fräulein Schmidt,« begann er nach einer peinlichen Pause, »wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Es ist mir nicht aufgefallen,« sagte Hildegard kurz.

»Sie besuchen wohl Ihre Freunde in der Steinstraße nicht mehr?« fuhr Waldemar unbeirrt fort.

»O ja, ich gehe gern zu Professor Rothes.«

»Das heißt, wenn ich nicht da bin,« fügte Waldemar leise hinzu, »denn ich bin jeden Sonntag bei Rothes gewesen und habe Sie nie getroffen.« – »Wenn Sie deshalb hingehen, um mich dort zu treffen, so ist es für mich ein Grund mehr, fern zu bleiben,« erwiderte Hildegard.

»Habe ich Ihnen etwas zuleide getan?« sagte Waldemar, sie traurig ansehend, als eben Röschen, die mit den Kindern vorangeschritten, sich nach ihrem Bruder umsah und ausrief: »Waldemar, sieh, das sind Frau von Rosens kleine Mädchen, ich habe dir neulich von ihnen erzählt.« Sich dann zu den Kindern wendend: »Das ist wohl eure Gouvernante?«

»Ja, Fräulein Hildegard Schmidt!«

»Nicht eigentlich Gouvernante,« fügte Hildegard freundlich hinzu; »ich gebe den jungen Mädchen nur Arbeitsstunden und gehe mit ihnen spazieren.«

»Fräulein Schmidt! O, jetzt erkenne ich Sie wieder,« rief Röschen belebt, »wir waren ja einen Abend zusammen bei Professors. Wie geht es Ihnen?«

Hildegard antwortete einige Worte darauf, sah aber dann ihre Pflegebefohlenen an und sagte: »Ich glaube, Annemarie und Mathilde, wir müssen uns beeilen, es ist bald Mittagszeit, die Mama wird uns erwarten!«

So verabschiedete sie sich mit den Kindern möglichst schnell und wandte sich dem Ausgange zu.

»Ein hübsches Mädchen ist doch das Fräulein Schmidt,« äußerte Röschen gegen ihren Bruder.

»Schön ist sie,« verbesserte er, – »aber auch von einem unbesiegbaren Stolz scheint sie zu sein. Sie tut gegen uns, als ob sie die Adelige sei und wir die armen Leute. Da lob ich mir mein Röschen, die ist doch freundlich gegen alle Leute, vorzüglich gegen ihren armen Bruder.«

»Du kannst doch nicht verlangen, daß Fräulein Schmidt ebenso freundlich gegen dich sein soll, als ich es bin,« lachte Röschen unbefangen und vergnügt. »Doch nun laß uns eilen. Ich muß Professors Mariechen noch besuchen. Sie würde sehr böse sein, wenn ich in der Stadt wäre und käme nicht zu ihr.« –

»Annemarie,« sagte Hildegard unterwegs, »kennt ihr Buchwalds?« – »Ja,« sagte die Kleine, »die kennen wir sehr gut. Mama und Tante Buchwald sind Freundinnen. Wir waren auch schon einmal in Wiesendorf und Tante Buchwald kommt mitunter zu uns. Aber Röschens großen Bruder haben wir noch nicht gekannt, der war nie bei uns.«

Der Gedanke, daß Buchwalds auch mit dieser Familie, in welcher sie aus- und einging, bekannt waren, machte Hildegard unruhig. Es war ihr eine große Entbehrung, Sonntags nicht zu den lieben Rothes zu gehen. Aber diese Entbehrung hatte sie sich selbst auferlegt, sie wußte warum.

So war Weihnachten herangekommen und wir wissen aus Emmas Briefen an die Ihrigen, was sich im Rotheschen Hause zugetragen.

Sobald Hildegard davon hörte, atmete sie auf und dachte: »Nun kann ich getrost im lieben Nachbarhause aus- und eingehen. Der, den ich meiden will, kommt jetzt nicht.« Sie war Rothes eine wahre Erquickung und Hilfe in der Krankheitszeit, zumal Käthe verreist war. Sie besorgte Einkäufe, wenn Emma verhindert war, und machte sich in jeder Beziehung so unentbehrlich, daß sie bald der Frau Professorin ganzes Herz gewonnen hatte. Heute also war sie auch zur Aushilfe im Rotheschen Hause. Sie fühlte sich unendlich wohl in der Familie und gab sich diesem Gefühl mit einer behaglichen Ruhe hin, da sie wußte, daß, so lange die ansteckende Krankheit herrschte, niemand aus dem Buchwaldschen Hause die Schwelle übertreten würde.

Jetzt störte ein Klingeln sie in ihren Träumereien. Sie eilte hinaus, um nichts zu versäumen. Es war der Postbote, der einen Brief brachte. Während sie dann in der Küche war, um nach dem Feuer zu sehen, klingelte es wieder. Diesmal war es die Butterfrau, welche die bestellte Butter ablieferte. Eben hatte Hildegard die Vorsaaltüre geschlossen und wollte sich in das Wohnzimmer zurückbegeben, als sie eilfertige Schritte die Treppe heraufkommen hörte, und in demselben Augenblick tönte die Glocke von neuem. Hildegard ging wieder, um zu öffnen. »Ist der Herr Professor zu Hause?« sagte eine nur zu bekannte Stimme. Waldemar von Buchwald und Hildegard standen abermals einander gegenüber.

Hildegard, die bleich geworden, brachte mühsam die Worte heraus: »Herr von Buchwald, hier ist Scharlach im Hause!«

»Also machen Sie, daß Sie fortkommen,« bemerkte er schelmisch. »Es tut mir leid, Fräulein Schmidt, Ihrem Wunsche diesmal nicht willfahren zu können. Ein direkter Auftrag meiner Mutter führt mich hierher. Ich soll mich nach dem Gesundheitszustand im Rotheschen Hause erkundigen und über Kurts etwaiges Wiedereintreffen mit Professors sprechen. Sie sehen also, mein Eintritt hier ist gerechtfertigt, bitte, darf ich hineingehen?«

Mit diesen Worten schlüpfte er in die offenstehende Wohnstube und Hildegard, die sich nun erst besann, daß sie gar nicht gesagt, daß niemand zu Hause sei, eilte ihm erschrocken nach und stotterte verlegen, daß alle, außer Emma, zur Kirche seien und letztere, als bei dem Kranken weilend, außer stande, mit ihm zu sprechen. »Sie haben daher die Güte, morgen wiederzukommen?«

»Gewiß!« Er stand aufrecht da, ihr ernst und ruhig ins Auge sehend. »Lassen Sie die Feindseligkeit einige Minuten ruhen, Fräulein Hildegard, lassen Sie mich einige Worte zu Ihnen sprechen, jetzt, da wir abermals durch eine wunderbare Fügung einander gegenüberstehen.«

Hildegard stand mit gesenktem Auge vor ihm. Sie hatte diesmal keine kühle Antwort zur Hand, so fuhr er in ernstem weichem Ton fort: »Erinnern Sie sich jenes Pfingstmorgens, an dem Sie zu den Kindern von dem Kommen des heiligen Geistes in unsere Herzen sprachen? Ich habe an jenem Morgen meinen Glauben wiedergefunden. Finden Sie es nicht begreiflich, daß es seitdem meinem Herzen Bedürfnis war, derjenigen, die mir Gott gesandt, mich aus meiner Verirrung zu reißen, von Herzen zu danken? Sie haben es mir nie gestattet, und je stolzer Sie sich von mir gewandt, desto dringender ist mir der Wunsch geworden, Ihnen näher treten zu dürfen, – Ihnen zu sagen, daß ich noch mehr als Dankbarkeit in meinem Herzen fühle. Ich habe mich lange geprüft, ich habe gekämpft, die Gefühle in mir zu besiegen, – es geht nicht, Hildegard. Ich glaube, wir sollen einander angehören für Zeit und Ewigkeit!«

»Halten Sie ein, Herr von Buchwald,« rief Hildegard in höchster Aufregung. »Ich bitte Sie.«

»Ja so,« entgegnete Waldemar traurig; »wir gehen uns ja nichts an! Und dennoch frage ich Sie noch einmal: Meinen Sie wirklich, daß wir uns nichts angehen? Finden Sie nichts Wunderbares in unserem Zusammentreffen? Können Sie diese meine Liebe, die fest und unerschütterlich ist, nicht erwidern? Sagen Sie nur ein Wort, Hildegard!«

Mit diesen Worten ergriff er ihre Hand, die sie ihm nicht entzog. Er sah ihr ins Auge und ein wunderbarer Glanz leuchtete ihm daraus entgegen. Er hätte vor Freuden aufjauchzen mögen, denn er las die Antwort darin.

Doch schon richtete sich Hildegard hoch auf, sah ihn voll und gerade an und sagte laut und vernehmlich: »Herr von Buchwald, Sie wollen eine Antwort, hier ist sie: Ich habe damals gesagt, ich finde nichts Wunderbares in unserem Zusammentreffen, und doch konnte ich mich bei näherer Prüfung des Gedankens nicht erwehren, daß es dennoch so sei. Ich will offen sein, wiewohl mich mein Geständnis mehr demütigt, als Sie ahnen. So hören Sie denn: Ich liebe Sie und mein schönstes Erdenglück wäre, an Ihrer Seite durchs Leben zu gehen, uns gegenseitig fördernd auf dem Weg zum Himmel. Doch solch ein Glück ist mir nicht beschieden. In ärmlichen Verhältnissen geboren, habe ich entbehren gelernt und weiß, daß ich nun die höchste Entsagung üben soll, daß ich auf Sie verzichten muß. Die Kluft zwischen uns ist zu groß, als daß je an eine Vereinigung zu denken wäre.«

»Ist es nur das, Hildegard, meine Geliebte,« rief er, »dann bist du mein, auf ewig mein!« Mit diesen Worten breitete er seine Arme aus und wollte sie an sich ziehen.

Sie wehrte ihm. »Jetzt nicht, Herr von Buchwald. Das kann nur geschehen angesichts der Eltern, deren Segen den Kindern Häuser bauet. Kommen Sie mit diesem elterlichen Segen, dann bin ich die Ihrige, ohne denselben nie.«

»Meine Eltern werden mir denselben nicht vorenthalten,« antwortete Waldemar ernst. »So weit ich sie kenne, müssen sie sich freuen, wenn ich ihnen eine ernste, fromme Braut zuführe. Mein Vater hält freilich etwas an Standesvorurteilen; ob meine Mutter ganz frei davon ist, ich weiß es nicht. Doch es muß sich ja alles ebnen, da die Hauptsache überwunden ist, da ich weiß, daß du mich liebst, Hildegard.«

Mit diesen Worten streckte er ihr beide Hände entgegen und drückte die ihrigen innig und warm. Sie entzog ihm dieselben mit den Worten: »Herr von Buchwald, soweit sind wir noch nicht. Ich mache die Bedingung, daß wir uns nicht wiedersehen, bis Sie mit Ihren Eltern gesprochen. Von ihrer Entscheidung hängt das Glück ab und der Segen.«

Jetzt öffnete sich die Tür und Emmas Kopf wurde sichtbar. »S–ie s–i–nd's, Herr von Buchwald,« sagte sie in langgedehntem Ton und machte ein über alle Maßen erstauntes Gesicht. Herr von Buchwald faßte sich schnell, sagte mit kurzen Worten, was er gewollt, und daß er in diesen Tagen wieder kommen würde, um mit Professors das nötige zu besprechen. Dann verbeugte er sich vor den Damen und verließ schnell das Zimmer.

Hildegard lehnte mit dem Kopf an der Tür, preßte die Hände fest ineinander und stöhnte: »O mein Gott, mein Gott!«

Emma, über ihr bleiches Aussehen erschrocken, ging zu ihr, nahm ihre kalten Hände in die ihrigen und sagte weich: »Hildegard, Kind, was bedeutet dies alles? Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, aber vielleicht wird Ihnen leichter, wenn Sie mir alles sagen können. Konrad ist über meinem Vorlesen eingeschlafen, ein halbes Stündchen haben wir noch Zeit, bis Onkel und Tante aus der Kirche kommen.« Mit diesen Worten zog sie Hildegard, die sich schluchzend an ihren Hals geworfen, zu sich aufs Sofa. Ihre ganze Art und Weise hatte etwas so Wohltuendes, daß Hildegard bald ruhiger wurde und, unter vielen Tränen zwar und unter dringenden Bitten, das Gesagte als tiefes Geheimnis verschließen zu wollen, Emma alles erzählte, von jenem Pfingstmorgen an, von ihren weitern Begegnungen und schließlich von der gegenseitigen Liebe. »Glauben Sie mir, ich habe bis aufs äußerste gekämpft, um diese Gedanken, die ich für stolz und töricht hielt, zu unterdrücken, ich habe jede Gelegenheit, Herrn von Buchwald zu sehen, vermieden. Und doch sind wir uns immer wieder begegnet. O, raten Sie mir, was soll ich tun?«

»Es ist schwer, da etwas zu sagen. So schön es ist, wenn sich zwei Herzen finden, so traurig wieder, wenn die äußeren Verhältnisse so wenig passen. Buchwalds sind gute, prächtige Leute, aber von altem Adel und sehr vornehm. Es wird, fürchte ich, harte Kämpfe kosten, eine bürgerliche Schwiegertochter einzulassen, – doch mit Gottes Hilfe wird sich ja alles ebnen.«

»Eindrängen mag ich mich nicht in die Familie und von oben herab betrachtet werden auch nicht,« sagte Hildegard.

»Nun so entsagen Sie,« erwiderte Emma erleichtert. »Das ist der beste Ausweg.«

»Aber schwerer als Sie denken. Nun da ich weiß, daß Waldemar mich liebt, ist der Gedanke, ihn aufzugeben, doppelt schwer.«

»Ich glaub's wohl,« sagte Emma. »Nun, befehlen Sie alles in Gottes Hände, er wird's wohl machen.«

Nachdem die Mädchen noch lange von allem geredet, was das Herz bewegte, sprang Hildegard plötzlich auf mit den Worten: »Ich muß zu meinem Mütterlein! Entschuldigen Sie mich bei Professors, ich kann den Abend nicht bleiben.«

»Gehen Sie, meine liebe Hildegard. Was Sie gesagt, bleibt fest verschlossen bei mir. Es ist gut, daß ich alles weiß, ich werde Sie nie drängen, zu uns zu kommen, solange Buchwalds bei uns aus- und eingehen, – bis sich alles geebnet.« Sie küßte Hildegard und entließ sie, ihr an der Tür leise die Worte zuflüsternd: »Nur unverzagt und Gott vertraut, es muß doch Frühling werden!«

Die gute Emma saß noch eine Weile nachdenklich in der stillen Wohnstube. »Was erlebt man doch alles mit andern,« dachte sie, »und wie trägt man mit ihnen Freud und Leid. Möchte sich doch alles Leid in Freude verkehren! Bei dieser Geschichte ist mir bange, ich glaube, der armen Hildegard wird es nicht leicht gemacht. Und doch paßt sie ihrer äußern Erscheinung nach ganz in ein Schloß, in adelige Umgebung –«

»Fräulein Emma!« ertönte eine Stimme aus dem Krankenzimmer. Mit Emma's Träumereien war's vorbei. Und als einige Minuten später Professors ins Wohnzimmer traten und sich dann gemütlich um den Teetisch setzten, ahnte kein Mensch, was sich eine Stunde früher in diesen Räumen zugetragen.

Hildegard klopfte an die mütterliche Wohnung.

»Schon wieder da, mein Töchterchen, ich glaubte, du wolltest den Abend bei Professors bleiben.«

»Nein, ich fühle mich angegriffen, möchte zeitig zu Bett gehen. Wo ist Minchen?«

»Zu Reimanns, unsern Freunden, gegangen, um den Abend bei ihnen zu verleben.«

Warum durchfuhr es Hildegard unangenehm: »Reimanns, unsern Freunden?« Sie waren Tischlersleute, und wenn sie sich die vornehmen Buchwalds dazu dachte, das konnte sich nimmer reimen.

»Kind,« sagte die Mutter, »du siehst blaß aus, dir ist doch nichts begegnet?«

»Ja, Mutter, mir ist viel begegnet. Ein reicher Offizier will mich heiraten, und ich habe ihm auch gesagt, daß ich ihn liebe.«

Der Mutter entfiel die Arbeit. Sie sah Hildegard starr an, als ob sie sie nicht verstanden, und fand keine Worte, ihr zu antworten. »Mein liebes Mütterchen, erschrick nicht so, ich will dir alles erzählen.« Und nun beichtete sie zum zweitenmal und schüttete ins treue Mutterherz alle ihre Sorgen, ihre Kümmernisse, verhehlte ihr aber auch nicht, daß sie sehr glücklich sei in dem Gedanken, sich geliebt zu wissen.

Und die Mutter? Sie schlang den Arm um Hildegard, sah ihr treu und mütterlich in die Augen und sagte bewegt: »Gott der Herr mache alles, wie's ihm gefällt. Warte in Geduld, was er über dich beschlossen. Geben Buchwalds Eltern ihre Einwilligung, so sollst du auch meinen vollen Segen haben; sind sie den Wünschen ihres Sohnes entgegen, Hildegard, so versprich mir, daß du freudig entsagen willst. Ich habe einmal in meinem Leben erfahren, wie eine Heirat ohne elterlichen Segen eine Kette von Leiden und Kümmernissen nach sich zog, darum möchte ich dich, mein herzlich geliebtes Kind, davor bewahren!« – Sie schien noch mehr sagen zu wollen, doch schwieg sie und sah Hildegard mit einem Blick unendlicher Traurigkeit an. Diese rief aus:

»O Mutter, sieh mich nicht so an. Dir zu Liebe kann ich auch dem größten Glück entsagen, wenn es sein muß –«

»Du weißt, mein Kind, daß ich dein wahres Bestes suche. Ob diese Heirat zu deinem Heil gereicht, wer kann's sagen. Laß uns die Sache Gott im Gebet vortragen, und gegen jedermann schweigen. Auch Minchen sage vorderhand nichts davon, bis alles sich klärt.« – So redete die Mutter in treuer Liebe zur Tochter, und Hildegard wunderte sich, wie kein hartes Wort von ihren Lippen kam, wie gar kein Unwille sich regte, daß Hildegard daran dachte, die Gattin eines vornehmen, adeligen Offiziers zu werden.

Jetzt kam Minchen nach Hause. »O Mutter, es ist so hübsch bei Reimanns, sie lassen dich und Hildegard schön bitten, auch ein wenig herüber zu kommen. Frau Reimann hat eine Punschbowle gemacht und wir möchten zusammen das neue Jahr erwarten. Kommt doch, es ist so gemütlich drüben. Jettchen steht draußen und wartet auf mich. Hildegard, du siehst recht echauffiert aus!«

»Ich habe Kopfschmerzen,« sagte diese kleinlaut, »und möchte lieber dableiben –«

»Ja, wenn es zu Reimanns geht, bist du nie dabei! Jettchen hat auch schon gesagt, du seiest recht stolz geworden, seit du mit Professors verkehrst. Nun, wenn du nicht mit willst, laß es bleiben – aber wundern werden sich Reimanns!«

»Ich gehe mit,« sagte Hildegard entschlossen.

Die Mutter sah sie erstaunt an. »Mütterchen, komm,« flüsterte sie ihr zu, »es bringt uns auf andere Gedanken und – ich möchte nicht stolz erscheinen! Laß Jettchen nicht warten, Minchen, wir kommen gleich!«

»Ich bin zu angegriffen, um jetzt gehen zu können,« erwiderte die Mutter. »Geht ihr beide, vielleicht hole ich euch später ab!«

Als sie nach einigen Stunden zurückgekehrt waren, flüsterte Hildegard ihrer Mutter beim Gutenachtsagen die Worte zu: »Sei mir nicht böse, Mütterchen, wenn ich dich betrübt habe! vergib mir alles, womit ich dich im letzten Jahr gekränkt!« Frau Schmidt küßte sie auf die Stirn und sagte: »Du bist mir stets ein gutes und folgsames Kind gewesen, der Herr behüte dich, schlafe in Frieden!«

Schwerlich ahnte Hildegard, welche inneren Kämpfe ihre Mutter durchgemacht, nachdem sie von Hildegards Liebe gehört. Kaum waren die beiden Töchter ins Nachbarhaus gegangen, so ging Frau Schmidt in tiefer Bewegung im Zimmer auf und ab. Oft blieb sie stehen und preßte die Hände aufs Herz, dann wieder faltete sie sie wie zum Gebet und seufzte: »Herr, mein Gott, hilf, rate, was soll ich tun! Das einer Sterbenden gegebene Versprechen bindet mich, sonst müßte ich jetzt reden, müßte Hildegards Herkunft offenbaren. Aber ich höre heute deutlicher denn je ihrer Mutter Stimme, die sagt: ›Wilhelmine, versprich mir hier angesichts des Todes, daß es nie über deine Lippen komme, wer des Kindes Eltern gewesen. Es sei denn, die Großeltern fänden sich und machten an dem Kinde gut, was sie an den Eltern versehen. Sonst laß sie nie erfahren, daß du nicht ihre Mutter bist!‹ Was würde es mir auch nützen, wenn ich Buchwalds allerlei Aufklärungen machen wollte. Würden sie mich nicht für eine Abenteurerin halten und mich auslachen? Das Forschen nach den Großeltern, das mein Mann bei Lebzeiten eifrig betrieben, ist ohne jeglichen Erfolg geblieben; nur durch sie könnte alles, was ich weiß, bestätigt werden. Und gesetzt den Fall, sie fänden sich und der alte Stolz, die alte Härte wäre noch vorhanden, so würde es Hildegard nichts nützen. Darum muß ich schweigen – schweigen, bis es Gott gefällt, alles Verborgene ans Licht zu bringen. Schweigen, wenn selbst Buchwalds Hildegard um ihrer niedrigen Stellung willen nicht annehmen. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum besten dienen!« So dachte die fromme Mutter, und je mehr sie die Angelegenheit im Lichte des Wortes Gottes betrachtete, um so ruhiger wurde sie. Sie wollte die Sache ihren Gang gehen lassen, ohne selbst helfend einzugreifen. »Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlt's ihm nicht,« sagte sie gläubig und zuversichtlich, und beschloß so das alte Jahr im Vertrauen auf die Hilfe des, der alles so herrlich regieret.

 


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