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4. Das Gewitter

Es war Mariechens Geburtstag. Frau von Ulbersdorff, die nichts davon wußte, war am Nachmittag mit den Kindern ausgefahren, um eine Tante zu besuchen. Mariechen aber war, da es an Platz fehlte, daheim geblieben. Sie saß einsam in ihrem Stübchen. »Mein erster Geburtstag, der nicht gefeiert wird! Kein Mensch weiß es hier, sonst hätte man mir gratuliert.« Sie las die lieben Briefe von daheim alle noch einmal, und gab dann den auf sie einstürmenden Gedanken Raum.

Wie war es doch vor sechs Jahren gewesen, als sie ihren siebenzehnten Geburtstag feierte! Ob wohl Werner sich dieses Tages noch erinnerte? Ein wehes Gefühl beschlich ihr Herz, sie stand schnell auf und nahm Bücherkorrekturen vor, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Später wanderte sie dem nahen Walde zu. O, wie wonnig und schön war es dort. Sie hatte ihre Lieblingsplätze, wo sie unter dem Laubdach der Bäume so gern saß und den Blick ins Grüne schweifen ließ. Sie setzte sich nieder, zog ein Büchlein aus der Tasche und las. Es war ein heißer Tag da draußen, darum tat der Waldesschatten doppelt wohl; und es las und träumte sich so schön darin!

Mariechen überhörte fernes Donnern, sie merkte auch nicht, daß sich dunkle Wolken am Horizonte zusammenzogen, die auf ein nahes Gewitter deuteten. Sie las und blickte sinnend vor sich hin, in den grünen Wald hinein, der in lichtem Frühlingsschmuck prangte. Plötzlich gewahrte sie, nicht weit von sich, blühende Maiblumen. »Da ist ja meine Geburtstagsblume,« rief sie fröhlich, »heute muß ich mir selbst einen Strauß pflücken, tut es doch sonst niemand.« So suchte und pflückte sie emsig und kam unvermerkt tiefer in den Wald hinein. Auf einmal schreckte das Brausen des Windes sie auf. Was war denn das? In den Bäumen rüttelte und schüttelte es gewaltig; es war ganz finster geworden und einzelne große, schwere Regentropfen fielen auf ihre Hand. Sie sah sich im Waldesdickicht, der Weg, den sie gekommen, war nirgends zu sehen. Sollte sie sich rechts oder links, vorwärts oder rückwärts wenden? Jetzt zuckte ein Blitz und ein heftiger Donner folgte. Armes Mariechen! Sie eilte vorwärts, bog die Zweige auseinander, sprang über Baumwurzeln und Gestrüpp, immer nach einem Ausweg schauend. Endlich entdeckte sie einen Fahrweg. Sie kannte freilich nur den Fußsteig, der aus dem Walde nach Birkenfelde führte, aber dieser Weg würde sie sicher auch nach Hause bringen. Doch konnte sie ans Nachhausegehen denken? Sie war leicht bekleidet, hatte weder Schirm noch Regenmantel bei sich, und die Schleusen des Himmels hatten sich geöffnet, der Regen ergoß sich in Strömen.

»O mein Gott, hilf mir,« betete Mariechen aus innerstem Herzen, als sie unter einem großen Baum dastand, einigermaßen Schutz gegen den Regen suchend.

Gott half. Ein weibliches Wesen, in einen großen, grauen Regenmantel gehüllt, mit riesigem Regenschirm über sich, wurde sichtbar. Mariechen, in ihrem hellen Gewand, trat schüchtern hervor, um sich bemerkbar zu machen.

»Armes Kind!« ertönte jetzt eine Stimme. »Um Gotteswillen, wer sind Sie und was wollen Sie hier!«

»Wollen Sie so freundlich sein, mich mitzunehmen,« bat Mariechen. »Ich bin die Gouvernante der Ulbersdorffschen Kinder aus Birkenfelde –«

»So, so,« sagte die Dame. »Ich kannte Sie noch nicht, bin vorgestern erst von einer längeren Reise zurückgekehrt. Natürlich nehme ich Sie mit, kommen Sie unter meinen Schirm, es ist für zwei Platz darunter. Zum Sprechen und Bekanntschaftmachen ist jetzt nicht Zeit. Nur vorwärts! Kommen Sie!« Ein greller Blitz und ein unmittelbar darauf niederprasselnder Donnerschlag ließ beide einen Augenblick stillestehen. »O, wie froh bin ich, daß ich nicht mehr allein bin!« sagte Mariechen leise.

Die Dame drückte ihr die Hand und erwiderte: »Kind, das ist ein schweres Gewitter; wir wollen Gott danken, wenn wir zu Hause sind!« Sie beschleunigte ihre Schritte und riß Mariechen mit sich fort. Es ging noch eine Strecke durch den Wald, dann einen Wiesenweg entlang, der aber dermaßen vom Regen erweicht war, daß die Damen kaum die Füße aus dem Schlamm zu heben vermochten. Doch »gerade durch!« hieß es, es war ihnen ganz gleich, wie sie aussahen, nur ins Trockene, nur ein Obdach, das war ihr Begehr! Die Dame im grauen Regenmantel öffnete endlich eine Tür, Mariechen, die gar nicht unter dem Schirm vorgeguckt, sah jetzt, daß es in einen großen Obstgarten ging. Nun wurde ein stattliches Haus mit rotem Ziegeldach sichtbar und eben, als Mariechen sich fragte: Wer ist nur die Dame und wessen Haus ist dies? ertönte eine männliche Stimme: »Gott sei Dank, Therese, daß du da bist! Wen bringst du denn mit?«

»Das war eine gnädige Bewahrung Gottes, lieber Bruder! – Hier, das junge Mädchen habe ich im Walde gefunden! Vor allen Dingen Wärme und trockene Sachen!«

Mariechen schlug ihre Augen auf und begegnete denen Werners. Maßloses Erstaunen war seinen Zügen ausgeprägt. Er stotterte: »Wie kommen Sie hierher?« Doch ahnend, daß dem jungen Mädchen, die vom Regen und Schmutz arg zugerichtet war, seine Gegenwart lästig sei, verschwand er eiligst, das Dienstmädchen zu ihrer Hilfe zu senden.

»Dörthe, hast du Feuer in der Küche?« rief Therese.

»Ja, Fräulein, es ist auch heißes Wasser da!«

»Nun, dann koche schnell einige Tassen Tee und gib uns trockenes Schuhzeug!«

Mit diesen Worten zog Therese Mariechen in die Küche, stellte sie ans Feuer und sagte: »Nun, liebes Fräulein, wärmen Sie sich, ich will für uns beide trockene Sachen holen.«

»Es tut mir leid,« sagte Mariechen schüchtern, »daß ich Ihnen so viel Umstände mache –«

»Und ich bin froh, daß ich Sie im Walde gefunden habe! Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Sie allein in dem Unwetter draußen geblieben wären? Kommen Sie in mein Zimmer, wir wollen uns umziehen!« Mit diesen Worten öffnete die kleine, bewegliche Dame eine Tür und schob Mariechen hinein. Dann holte sie Strümpfe und Schuhe und händigte sie Mariechen ein mit der Bitte, schnell die Fußbekleidung zu wechseln, um so einer Erkältung vorzubeugen. Sie selbst tat das Gleiche und sagte dann nachdenklich: »Wie wird es aber mit den andern Sachen?« Sie maß Mariechen mit den Augen. »Sie sind viel schlanker und größer als ich, es wird Ihnen wohl kaum eins von meinen Kleidern passen.«

»Fräulein, es ist auch wirklich nicht nötig,« rief Mariechen. »Sehen Sie, mein Kleid ist schon am Feuer recht schön getrocknet – allerdings schmutzig ist es!« –

»Nun, das sieht jetzt niemand mehr bei hereinbrechender Dunkelheit. Ich würde Ihnen sehr gerne aushelfen, aber ich fürchte, es paßt Ihnen nichts.«

Sie stand nun vor Mariechen und betrachtete mit Wohlgefallen das liebliche Gesicht. Vertraulich ihre Hände auf Mariechens Schulter legend, sagte sie dann:

»So, nun will ich Ihnen auch sagen, wer ich bin und wie ich heiße. Im Walde war es zur Vorstellung zu naß. Mein Name ist: Therese Werner; mein Alter 43 Jahre, mein Beruf: meinem ledigen Bruder, dem Pastor Robert Werner, die Wirtschaft zu führen. Ich war längere Zeit abwesend, um eine erkrankte, verheiratete Schwester zu pflegen, sonst hätten wir uns gewiß schon gesehen, d. h. wir kommen sehr selten nach Birkenfelde, Ulbersdorffs sind meinem Bruder nicht sehr sympathisch. Aber wir müssen gute Nachbarschaft halten, liebes Fräulein. Ich bin freilich gewiß noch einmal so alt als Sie, aber deshalb können wir doch freundschaftlich verkehren. Bei schönem Wetter ist der Weg nicht so schwierig wie heute,« fuhr sie lächelnd fort. »Ich hätte uns beide wohl sehen mögen, hoch aufgeschürzt durch die Wiese patschend! Ich hatte eine kranke Frau in Birkenfelde besucht und hoffte noch vor dem Gewitter heimzukommen. Und Sie?«

Mariechen erzählte, wie Ulbersdorffs mit den Kindern ausgefahren seien, und sie sich einen einsamen Waldspaziergang so schön gedacht; – wie sie sich beim Maiblumenpflücken verlaufen und schließlich vom Gewitter überrascht worden sei.

Therese nahm Mariechen nun unter den Arm und sagte: »Kommen Sie ins Wohnzimmer, eine Tasse heißen Tees wird alles wieder ins Gleichgewicht bringen!«

Mariechen sah ängstlich zu ihr auf. »Wenn Sie erlauben, möchte ich nicht erst eintreten, sondern mich auf den Heimweg machen. Der Regen hat nachgelassen und ich fürchte, nachher wird es zu spät!«

»Sie wollen heute abend noch nach Hause,« rief Therese erstaunt aus. »Daran ist gar nicht zu denken. Wir schicken einen Boten nach Birkenfelde und Sie gehen morgen, so früh Sie wollen, hinüber. Ich geleite Sie auf den rechten Weg.« Mit diesen Worten öffnete sie die Stubentür und rief, ihren Bruder am Fenster gewahrend: »Nicht wahr, Robert, das Fräulein darf heute abend nicht fort, wir freuen uns, wenn unser Gastzimmer besetzt ist?«

Werner, der am Fenster stand, wandte sich zu den Damen und sagte achselzuckend: »Ich weiß nicht, wie das Fräulein darüber denkt.«

»Wenn es irgend möglich ist,« sagte Mariechen in entschiedenem Ton, »gehe ich heute abend!«

»Doch keinesfalls, ehe Sie ein Abendbrot mit uns verzehrt haben, das andere wird sich finden.« Mit diesen Worten eilte sie in die Küche, um noch etwas Fehlendes herbeizuholen, und Werner verließ gleichzeitig von der andern Seite das Zimmer.

»Therese,« sagte er finster zu seiner Schwester, zu ihr in die Küche tretend, »ich wünsche durchaus nicht, daß das Fräulein die Nacht bleibt.«

»Robert, du übertreibst deinen Weiberhaß. Wie kannst du so lieblos sein gegen ein liebenswürdiges Wesen, das ich schon nach kurzer Bekanntschaft ganz in mein Herz geschlossen habe!«

»Ich habe meine Gründe!«

»Wie du willst! Du bist der Hausherr, ich deine gehorsame Untergebene. Gut, wir wollen die Kleine vor Nacht und Nebel aus dem Hause tun!«

Mariechen hatte sich unterdes in dem traulichen Wohnstübchen umgesehen. Es war mit alten Möbeln, die wahrscheinlich von den jüngst verstorbenen Eltern stammten, ausgestattet. Aber alles war sauber und nett, man sah, daß hier eine fleißige Hand und Schönheitssinn waltete. Ein Blick durchs Fenster zeigte ihr hübsche Rasenplätze mit Blumenbeeten und hochstämmigen Rosen, die Wege waren mit Kies bestreut, am Ende des Gartens war eine große Jasminlaube. Es mußte sich prächtig in dieser trauten Pfarre wohnen, mit dem Blick auf das halb hinter Linden versteckte Dorfkirchlein!

Therese betrat wieder das Zimmer und lud Mariechen zum Essen ein, doch schien sie etwas zu bedrücken. Sie sagte kleinlaut: »Wollen Sie wirklich heute abend noch nach Hause?«

»Jedenfalls,« war Mariechens entschiedene Antwort. Therese war beruhigt, da ihr Entschluß so ganz den Wünschen ihres Bruders entsprach.

»Der Regen hat aufgehört,« sagte sie freundlich, »und der Weg wird, da es vorher recht trocken war, auch nicht zu schlimm sein. Wir geben Ihnen aber jedenfalls das Geleit.«

Jetzt öffnete sich die Tür und Werner trat ein, mit Hut und Stock bewaffnet. »Nun, Robert, so eilig geht es nicht mit uns,« rief Therese, »erst wollen wir essen und du wirst hoffentlich einen kleinen Imbiß auch nicht verschmähen.«

»Es tut mir leid,« sagte Werner kurz, »ich bin soeben zu einem Kranken gerufen und muß gleich fort. Ich esse später!«

»So wirst du uns nicht begleiten?«

»Ich bedaure, nicht in der Lage zu sein. Dörthe kann wohl mitgehen, ich komme dir dann entgegen, Therese, Adieu!« Er reichte seiner Schwester die Hand, verbeugte sich stumm vor Mariechen und verließ das Zimmer.

Therese trat kopfschüttelnd an den Tisch. Sie sprach wenig und schien verstimmt. Mariechen sehnte sich von Herzen, aus dieser peinlichen Lage befreit zu werden; wie atmete sie auf, als Therese endlich sagte: »So, liebes Fräulein, wenn es Ihnen recht ist, können wir jetzt gehen.«

Mariechen wollte die Begleitung dankend ablehnen, doch davon wollte Therese nichts wissen.

»Ich gehe sehr gern mit. Die Luft ist köstlich erfrischend nach dem Gewitter, und der Weg nach Birkenfelde ist so hübsch. Mein Bruder kommt mir entgegen, daß ich den Rückweg nicht allein habe.«

Die beiden Mädchen gingen miteinander. Therese erkundigte sich nach Mariechens Leben und Treiben in Birkenfelde und schien sich für alles sehr zu interessieren. Sie wunderte sich, daß Mariechen mit den kleinen, ›unlenksamen Wilden,‹ wie sie allgemein in der Gegend hießen, fertig wurde, versprach auch einmal zu kommen und bat sehr dringend, Mariechen sollte ja recht bald und recht oft wiederkommen. Sie verabschiedete sich am Hoftor in Birkenfelde, und während Mariechen wieder für alle Freundlichkeit dankte, nickte ihr Therese noch einmal zu und ging mit eiligen Schritten heimwärts. Mariechen konnte eben noch die dunkle Gestalt Werners aus dem Walde treten sehen und ging, beruhigt über Theresens Heimweg, ins Schloß.

Es hatte wohl niemand ihre Abwesenheit bemerkt. Alles war still, nur aus den Gesindestuben ertönten lachende Stimmen. Sie ging die Treppen hinauf in ihr Zimmer, dort fand sie, wie gewöhnlich, ihre brennende Lampe, welche der Diener, mochte sie da sein oder nicht, ihr bei eintretender Dunkelheit aufs Zimmer brachte. Ihr war es ganz lieb, daß ihr Verschwinden unbeachtet geblieben, entging sie doch dadurch vielem lästigen Geschwätz.

Sie setzte sich aufs Sofa und legte die Hände vors Gesicht. Auf einmal stampfte sie leise mit dem Fuß auf und sagte: »Und Wohltaten habe ich annehmen müssen in diesem seinem Hause – von seinem Tisch habe ich essen müssen und ihn habe ich vertrieben! Denn natürlich ist er nur meinetwegen gegangen, weil er nicht mit mir zusammen sein wollte. Wie schrecklich ist dies Ignorieren! – Wohlan, er tut, als ob er mich vorher nie gekannt, ich werde jetzt auch mit keiner Miene verraten, daß ich ihn je gesehen! Und in sein Haus komme ich nie wieder, so nett und angenehm seine Schwester ist.« Mit diesen nichts weniger als freundlichen Gedanken ging sie schmollend an ihren Schreibtisch. Sie nahm noch einmal die Briefe heraus, las die treuen Wünsche ihrer Eltern und als sie an der Mutter ernste Ermahnungen kam, im neuen Jahr Gott um ein neues Herz, um einen neuen, gewissen Geist zu bitten, da waren die bittern Gefühle weg und sie sagte leise: »Vergib mir meine Schuld, wie ich vergebe meinem Schuldiger.«

»Ich bin ja schließlich schuld, daß er mich haßt,« fuhr sie im Selbstgespräch fort. »Emma hatte recht, als sie heute abend vor sechs Jahren zu mir sagte: Du hast in deinem Übermut Worte gesagt, die du dein Leben lang wirst zu bereuen haben; die Folgen mußt du demütig auf dich nehmen! Jetzt beginnt die Zeit der Züchtigung, es geschieht mir schon recht.« –

Werner ging schweigend neben seiner Schwester her. Sie sagte auch nichts, sie schmollte mit dem Bruder. Es war zu unrecht von ihm, sie heute so im Stich gelassen zu haben! Als sie spät heimkehrten, ging sie in das Wohnzimmer, Werner in die Studierstube. Sie setzte sich müde aufs Sofa, wartend, ob Werner nicht noch kommen würde, ihr, wie er gewöhnlich tat, gute Nacht zu sagen. Jetzt hörte sie seine Schritte. Er trat zu ihr ans Sofa, hielt ihr die Hand hin und sagte mit freundlicher Stimme: »Du bist böse auf mich, Therese!«

Dies Wort löste ihr die Zunge. »Ja, böser als ich je gewesen. Robert, du bist zu schroff, zu einsilbig, du bekommst in deinem ganzen Leben keine Frau. Wie hast du dich heute wieder abstoßend gegen dies junge, reizende, liebenswürdige Wesen benommen! Warum konntest du nicht mit uns essen? warum uns nicht das Geleit geben, es wäre viel weniger aufgefallen, als dies scheue Zurückziehen, dies höchst ungalante Benehmen!«

Werner ließ sie ruhig ausreden. Er lächelte trübe zu ihren Beschuldigungen, erst als sie sagte: »Früher warst du ganz anders, ganz das Gegenteil« – unterbrach er sie und sagte:

»Von dem, was ich jetzt bin!« Sich zu ihr aufs Sofa setzend und sie ernst ansehend, fuhr er fort: »Weißt du auch, durch wen ich so ganz anders geworden bin?«

Sie sah ihn fragend an.

»Durch dieses Mädchen, das du heute abend ins Haus brachtest. O, Therese, nun ist das Wort heraus, nun laß dir alles sagen! Es ist auch einem Manne Bedürfnis, sich einmal auszusprechen; auf dein treues Herz, auf deine Verschwiegenheit kann ich bauen.«

Und nun erzählte er ihr, wie er Hausfreund gewesen sei bei den Eltern des jungen Mädchens, wie ihr frisches, naives Wesen, ihr liebliches Gesichtchen ihn angezogen und ihn dermaßen gefangen habe, daß er sich nichts Schöneres hätte denken können, als sie einst sein eigen zu nennen. Wie er bis zum Antrag gekommen, und wie er zufällig Zeuge geworden eines Gesprächs, das ihm gezeigt, wie dieses von ihm geliebte Mädchen über ihn, sowie über einen etwa von ihm gestellten Antrag gedacht habe. Er erzählte ihr, wie ihn diese übermütigen, leichtfertigen Worte tief bis ins innerste Herz verletzt, wie sich dann seiner eine Verbitterung bemächtigt, die er schwerlich je ganz werde überwinden können; ja, wie er gegen das ganze weibliche Geschlecht seitdem so mißtrauisch geworden, daß er sich nie wieder einem Mädchen nähern würde.

»Ich habe zu tief geliebt, gar nicht an Gegenliebe von ihrer Seite gezweifelt, unbedingtes Vertrauen zu ihr gehabt, darum ist die Täuschung eine doppelt bittere! Nun habe ich mich durchgekämpft,« setzte er nach einer Weile hinzu, »ich will meinen Weg durchs Leben allein gehen, und seit ich dich, du treue Schwester, habe, fehlt mir ja nichts.« Er sah sie liebevoll an und reichte ihr die Hand.

Therese hatte mit atemloser Spannung zugehört. Sie, der die Worte stets zu Gebote standen, konnte nun keine finden, ihr Erstaunen auszudrücken! Endlich, als Robert schwieg, umschlang sie ihn leidenschaftlich und rief: »Du lieber Bruder, vergib mir, daß ich deine Handlungsweise getadelt. O mein Gott, wie wunderbar sind deine Wege! – Wie konnte ich ahnen, daß du mit diesem Mädchen in solchem Zusammenhang standest! Es ist eine verzweifelte Sache. Sie lebt nun in deiner Gemeinde, sie, von der du wünschen mußt, daß sie am äußersten Ende der Welt bliebe. In welch schwierige Lage bist du dadurch versetzt!«

»Ich bin ruhig darüber,« versetzte Werner ernst. »Als ich Fräulein Rothe an jenem Sonntag so unvermutet als Gouvernante in Birkenfelde wiedersah, war ich allerdings frappiert. Äußere Ruhe habe ich an jenem Abend bewahrt, aber als ich nach Hause kam, wogte und gärte es in mir und eine schlaflose Nacht war mein Teil. Ich habe alles reiflich und ernst erwogen und bin zu dem Schluß gekommen, daß es das Richtigste ist, unsere vorherigen Beziehungen zueinander gänzlich zu ignorieren. Sie ist für mich die Gouvernante der Ulbersdorffschen Familie, gegen die ich mich höflich zu bezeigen habe, die mich aber im übrigen nichts angeht. Und überdies! wie lange wird ihres Bleibens hier sein! Ich begreife nicht, wie man ein so unreifes, ungeschultes Kind in eine so schwierige Stellung hineinversetzen konnte. Die wilden Mädchen, die kaum durch einen Lehrer zu bändigen sind, werden einem solchen Kinde wenig parieren. Darum – nach einem Vierteljahr wird sie, wie so viele andere Gouvernanten, Birkenfelde den Rücken gekehrt haben, und unsere Gemütsruhe ist vollkommen wieder hergestellt.«

»Lieber Bruder, du vergißt, daß sechs Jahre vergangen, und daß Fräulein Rothe in diesen sechs Jahren reifer und verständiger geworden ist. Ich muß sagen, ich habe von ihr den Eindruck einer sehr gediegenen, tüchtigen Lehrerin.«

»Und ich habe von ihr den Eindruck eines übermütigen Kindes, das nicht wert ist, daß ein ernster Mann sich einen Augenblick um sie grämt! Doch es ist spät, Therese, laß uns zur Ruhe gehen. Du siehst jetzt vollkommen ein, daß ich in vollem Recht war, dein reizendes Wesen nicht unter meinem Dach zu behalten.«

»Natürlich! Unter diesen Umständen begreife ich es durchaus! Sie wird natürlich auch nicht wieder zu uns kommen, und ich hatte mich wirklich auf den Verkehr gefreut!«

»Nun, wenn ich verreist bin, kannst du sie dir ja einmal einladen, oder ihr könnt auf neutralem Gebiet miteinander verkehren, euch Rendezvous im Holz geben.«

»Nein, meine Gefühle für sie sind, nach dem, was du mir erzählt, bedeutend abgeschwächt, ich habe gar kein Verlangen nach näherem Verkehr!«

»Ich auch nicht,« sagte er, ironisch lächelnd. »Doch lassen wir das jetzt. Wir wollen Gott danken, daß Er uns ein Ziel gesetzt, dem wir unverrückt nacheilen sollen, daß Er uns durch den Glauben alles überwinden und durch denselben schauen läßt auf eine unvergängliche, ewige Herrlichkeit.« Mit diesen Worten trat er ans Klavier, griff einige Akkorde und spielte einen Vers des Liedes: »Warum sollt' ich mich denn grämen, Hab' ich doch Christum noch, wer will mir den nehmen?«

Als Werner seiner Schwester gute Nacht gesagt hatte, begab sich dieselbe in ihr Stübchen, um sich zur Ruhe zu legen. Doch kein Schlaf wollte heute kommen. »Hätt' ich doch nimmer gedacht, daß mich die Sache so aufregen könnte,« seufzte sie. Sie hatte ja gewußt, daß ihr Bruder eine Neigung gehabt, aber immer gehofft, er würde es mit der Zeit überwinden und sich zu einer andern Wahl entschließen. Daß nun der Gegenstand seiner früheren Liebe so nahe, ja mit ihr unter einem Schirm gegangen, in seinem eigenen Hause Obdach gefunden, das war doch etwas, was nicht oft im Leben vorkam. Sollte nicht eine leise Hoffnung darin liegen, daß zuletzt noch einmal alles gut werde? Warum mußte dies junge Mädchen gerade in Roberts Gemeinde kommen, während es doch so viel hundert Stellen gab, wo sie hätte hinverschlagen werden können. »Vielleicht nimmt es ein gutes Ende,« dachte sie, »denn des Herrn Rat ist wunderbar, und er führet es herrlich hinaus.«

Unter diesen hoffnungsreichen Gedanken schlief sie ein. Als sie am andern Morgen erwachte und sich alles Erlebte noch einmal vergegenwärtigte, war sie fröhlich und guten Mutes, daß ihr Bruder, den sie schon im Wohnzimmer, aus den Kaffee wartend, fand, lächelnd sagte: »Nun, Therese, du mußt nach dem gestrigen Abend sehr gut geschlafen haben, du stehst so heiter und rosig aus, wie nie zuvor.«

Therese umschlang ihn, zog ihn ans Fenster, zeigte auf die blühenden Blumen und Sträucher und sagte feuchten Auges: »Sieh, alles zeigt uns den Frühling im schönsten Schmuck, sollte nicht auch für dich noch ein Frühling erblühen, wenn Gottes Stunde gekommen? Also: nur unverzagt und Gott vertraut, es muß doch Frühling werden!«

Werners Züge verfinsterten sich. »Für mich gibt es keinen Frühling mehr, ich habe ihn einmal von fern gespürt – aber seine Blüten durfte ich nicht genießen. Übrigen,« setzte er strenge hinzu, »wollen wir dies Thema nicht wieder berühren, denke ja nicht, daß ich mich noch einmal durch dies Mädchen betören lasse. Denkst du, daß ich einer, die gesonnen ist, mir zehnmal einen Korb zu geben, zum zweitenmal einen Antrag machen würde? Nun und nimmermehr. Das verträgt sich nicht mit eines Mannes Ehre! Schaff mir nur den Maiblumenstrauß da aus den Augen, das Fräulein muß ihn gestern dagelassen haben.«

Therese nahm die schon etwas welk gewordenen Blümchen, die Mariechen vergessen hatte mitzunehmen, sagte leise: »Ihr armen Blumen, was könnt ihr dafür?« und ging damit in ihr Zimmer. »Fortschaffen soll ich euch? – nein, das tu' ich nicht. Ich will euch trocknen und aufbewahren zum Andenken an den gestrigen, denkwürdigen Tag.«

Therese holte ein großes Buch, legte den Strauß hinein, preßte und trocknete ihn und legte ihn, nachdem sie Datum und Jahreszahl dabei geschrieben, zu ihrer Blumensammlung. Mit ihrem Bruder aber sprach sie nicht mehr von Mariechen.

 


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