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14. Die Verlobung

Mama,« rief Mariechen eines Tages ins Zimmer stürzend, »ich habe einen wunderschönen Brief von Rosa! Zu Ostern soll ich nicht kommen, wie es früher bestimmt war. Sie schreibt, es wäre gar nicht mehr wie sonst bei ihnen. Papa sei verstimmt, Mama traurig. Waldemar komme gar nicht, er habe kürzlich geschrieben, er wolle längere Zeit Urlaub nehmen und auf Reisen gehen. Ganz weit fort! ›Und siehst du,‹ schreibt sie weiter, ›wenn es so traurig bei uns ist, ist es besser, du kommst ein andermal. Herr Werner und Walter sind die einzigen vergnügten Menschen. Walter liebt seinen Herrn Werner sehr, muß sich aber leider bald von ihm trennen, da derselbe, wenn er sein Examen gemacht, in seine Heimat zurückgeht, um sich dort anstellen zu lassen.‹«

»So geht Herr Werner also auch bald fort,« sagte die Professorin. »Da wird unser Bekanntenkreis recht gelichtet. Hildegard kommt nicht mehr; Herr von Buchwald auch nicht, Herr Werner geht fort, Käthchen –«

»Käthe bleibt!« fiel Mariechen ihr energisch in die Rede. »Und das ist gut, sie ist doch unsere älteste und beste Freundin.«

»Wollte Gott, sie bliebe nicht,« sagte Emma leise zur Tante und verließ das Zimmer. Mariechen rückte näher zur Mutter und las ihr weiter den »wunderschönen« Brief von Rosa vor. Die traurige Geschichte ihres Bruders bildete natürlich das Hauptthema, und Mariechen wurde so ergriffen von ihrer Freundin Trauer, daß sie ausrief: »Ach Mama, warum liebt denn auch Herr von Buchwald die Hildegard? Ich denke, die Liebe ist etwas Schönes; wenn sie aber soviel Trübsal anrichtet, mag ich gar nichts von ihr wissen!«

»Du gutes Kind,« sagte die Professorin, Mariechen die rosigen Wangen streichelnd, »möge Gott dich behüten, daß du nie der Liebe Leid und Bitterkeit zu erfahren brauchst!«

Mariechen sah ihre Mutter verwundert an, als ob sie sie nicht recht verstehe. – In demselben Augenblick trat Kurt ein mit dem Schachbrett, Mariechen bittend, eine Partie mit ihm zu versuchen. Während Mariechen sich freundlich bereit dazu erklärte, ging die Professorin hinaus, um mit Emma noch allerlei zu besprechen. Der morgende Tag, zu dem Hermann sich angemeldet, sollte der vielbedeutende und entscheidende für Käthchen sein!

»Wir wollen alle Störung möglichst fernhalten,« sagte die Professorin. »Teilte ich dir schon mit, daß ich für morgen von Frau Dr. K. zum Kaffee eingeladen bin? Sie war selbst hier!«

»Aber du hast nicht angenommen?« versetzte Emma angstvoll.

»Natürlich nicht. Morgen vertreten wir Elternstelle an den jungen Leuten. Gott gebe nur, daß nicht unvorhergesehene Störungen eintreten. Ich hatte schon Schwierigkeiten genug, dem Kaffee zu entgehen, zumal ich keine stichhaltigen Gründe anzugeben wußte. Ich glaube, Frau Doktor hat gemerkt, daß etwas Außerordentliches vorliegt.«

Emma wollte antworten, da ertönten laute bekannte Tritte auf der Treppe. Sie öffnete die Tür und ließ erstaunten Blickes – Wilhelm ein!

»Wilhelm! Wo kommst denn du heute auch noch her!«

»Auch noch her? Das klingt gerade nicht sehr wie Willkommen. Guten Tag, Mutter, ich komme doch recht?«

»Zu jeder Stunde, Wilhelm,« sagte die gute Mutter. »Aber wenn wir uns hätten etwas wünschen können, hätten wir dich übermorgen noch lieber gesehen.«

»Nun, das Semester ist so ziemlich zu Ende, die Professoren haben fast alle aufgehört zu lesen, – das Geld war auch alle – und da bin ich nun! Apropos! morgen ist wohl etwas Besonderes vor, wobei ihr mich nicht gebrauchen könnt, ein Damenkaffee oder sonst etwas?«

Die Damen antworteten nicht weiter, sondern schoben Wilhelm vor sich her in die Stube, wo er von Mariechen mit großem Jubel begrüßt wurde.

»Du freust dich also, alte Mieze, mich heute zu sehen. Die Mutter und Emma hätten mich lieber erst übermorgen gehabt?«

»Warum?« sagte Mariechen verwundert. »Aber,« fügte sie hinzu, die beiden befremdet ansehend, »mir ist's heute den ganzen Tag so gewesen, als ob irgend etwas besonderes in der Luft liege. Wer weiß, was es für eine Überraschung gibt! Du weißt ja, Wilhelm, Emma denkt sich mitunter etwas Apartes aus!«

Inzwischen kam der Professor, der einen Ausgang gemacht hatte, nach Hause und das Gespräch nahm eine andere Wendung.

Der Abend verging wie alle Abende. Man legte sich zur Ruhe, doch Emma fand heute lange keinen Schlaf. Ihr stand immer Käthchen vor Augen, wie sie sie bei ihrem heutigen Besuch so traurig angesehen und gesagt hatte: »Ach Emma, wenn nur der morgende Tag erst vorüber wäre.« Endlich übermannte sie die Müdigkeit, sie schlief ein und erwachte erst, als Dore den Kopf zur Tür herein streckte und rief: »Fräulein Emma, es ist Zeit zum Aufstehen.« Schnell fuhr Emma aus dem Bett. »Heute gilt's die Gedanken zusammen zu nehmen,« dachte sie. »Du treuer Gott, hilf uns allen!«

Kurz vor acht, als Emma draußen zu tun hatte, kam Käthchen die Treppe heraufgesprungen, umarmte Emma und sagte: »Ich wollte mich nur anders zeigen als gestern Abend! Ich wollte dir nur sagen, daß ich getrost und sehr freudig bin.« Und eh' Emma sich besinnen konnte, war Käthchen wieder verschwunden, sie hörte nur noch die schnell sich entfernenden Tritte auf der Treppe.

»Wilhelm,« sagte etwas später Mariechen im Vertrauen zu ihrem Bruder, »was dies alles heißt, weiß ich nicht. Gestern abend war Käthchen Walter hier und ich hörte sie zu Emma sagen, sie sei traurig und verzagt, und heute früh komm ich dazu, wie sie sie innig umschlingt und ausruft: Ich bin getrost und sehr freudig!«

»Mieze, wer weiß, was die Mädchen zusammen haben! Warte nur fein geduldig, es wird schon an den Tag kommen.«

Gegen Mittag wurde Wilhelm von Mariechen ins Wohnzimmer gerufen.

Er trat ein. Ein junger Mann kam ihm entgegen. »Guten Tag, Vetter Wilhelm, kennst du mich noch?«

Wilhelm sah ihn einige Minuten prüfend an. Auf einmal rief er fröhlich aus: »Vetter Hermann aus Nienhagen: Das ist ja eine famose Idee. Tausendmal willkommen! Wie gut, daß ich gestern abend kam. Nun will ich mich gleich für heute nachmittag Beschlag auf dich legen –«

Emma und die Professorin sahen sich verlegen an. Da ergriff der Professor das Wort: »Wilhelm und Marie, ihr seid keine Kinder mehr, kommt her! So lange haben wir geschwiegen, weil wir schweigen mußten. Hört: Vetter Hermann ist gekommen, um Fräulein Walter kennen zu lernen. Die Hand auf den Mund und nichts verraten!«

Wilhelm legte schnell seine Hand auf Mariechens Mund. »Ein Mann weiß zu schweigen,« sagte er würdevoll, »doch ob dies Plappermäulchen still stehen wird, wer kann dafür bürgen?«

»Nun, Wilhelm, wenn du dir soviel zutraust,« sagte die Professorin lächelnd, »da will ich Mariechens Mund heute nachmittag unter deinen besondern Schutz geben. Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, daß wir euch beide heute wenig brauchen können.«

Wilhelm und Mariechen sahen sich beide verdutzt an, und Hermann lächelte still und verlegen. Auf einmal klärten sich Wilhelms Züge. Er lachte, schlug Mariechen auf die Schulter und rief: »Mieze, nun ist mir alles klar! Hier soll etwas Großes vorgehen, wobei wir beide überflüssig sind. Komm, ich führe dich heute nachmittag spazieren.«

»Ich danke schön bei dem Regen!«

»Wir nehmen einen › parapluie‹ und machens wie Paul und Virginie,« sagte Wilhelm heiter, Mariechen den Arm reichend und sie aus dem Zimmer ziehend.

»Mieze,« sagte er draußen, »wir wollen uns ja heute retiré halten, das ist nichts für uns Kinder!« –

Drinnen saß Vetter Hermann zwischen Onkel und Tante, die so herzlich und warm mit ihm sprachen, ihm das junge Mädchen, das er kennen lernen wollte, so fromm und gut schilderten, daß es Hermann mehr denn je verlangte, sich diese Perle zu erringen. »Aus ihren Briefen habe ich sie schon kennen gelernt,« sagte er bewegt, »und ist sie so, wie ich sie mir danach ausmale, dann bin ich ihrer nicht wert.«

»Dann nimmst du sie als ein Gnadengeschenk deines Gottes,« fiel der Professor ein – –

»Wenn sie dich will!« seufzte Emma, die bisher nichts gesagt, sondern ihren Bruder unverwandt betrachtete von allen Seiten, während Onkel und Tante mit ihm sprachen. »Ob er ihr wohl gefällt?« dachte sie; »er ist ja nicht hübsch, aber er hat ein kluges und interessantes Gesicht. Doch ich will sehen, daß der Braten fertig wird und Hermann nach der langen Fahrt ein gutes Mittagessen bekommt.«

Mittag war vorüber, Emma trug seufzend die Überreste des Mahles ab. »Fast gar nicht gegessen hat er, es mag ihm recht beklommen zu Mute sein.« Sie räumte ab und begab sich dann ins Wohnzimmer zur Tante. Der Professor war mit Hermann in den angrenzenden Salon gegangen, um dort zu warten, bis die verhängnisvolle Kaffeestunde und mit ihr die bekannte Unbekannte erschien.

Die Tante, von aller äußeren Unruhe und von allem, was das Herz bewegte, erschöpft, legte sich ein Weilchen aufs Sofa, während Emma leise den Kaffeetisch richtete. Dann begab sie sich ans Fenster, wo sie die Straße hinaufsehen konnte. Bange Minuten waren es, die sie dort erlebte. Ihr Herz pochte mächtig. Der Tag, auf den sie alle mit Spannung gesehen, war nun da, welche Entscheidung mochte er bringen?

Jetzt kam eine kleine Dame eilig die Straße hinunter. »Da ist sie! Tante, Käthe kommt!«

Die Tante erhob sich schnell, Emma eilte hinaus und breitete ihre Arme nach ihr aus. »Mein liebes, liebes Käthchen,« sagte sie, »sei getrost und unverzagt, der Herr ist bei uns!«

»Ich weiß es,« antwortete Käthe mit leisem Zittern der Stimme. Das sonst so rosige Mädchen sah heute bleich aus, doch festen Schrittes ging sie auf die Tür des Wohnzimmers zu. Die Professorin empfing sie mit inniger Umarmung.

»Ist er denn da?« fragte Käthe leise. Die Professorin nickte stumm und in demselben Augenblick öffnete sich die Tür und der Professor trat mit dem jungen Pfarrer ein. Mit großer Sicherheit und Ruhe ging der junge Mann auf Käthchen zu, reichte ihr die Hand und sagte: »Fräulein Walter, wir sind nicht mehr ganz unbekannt miteinander!«

Sie nahm die dargebotene Hand, sah schüchtern und verlegen zu ihm auf und nickte leise mit dem Kopf.

Reden konnte sie nicht. Einen Augenblick stockte alles in ihr. Erst als die Tante mit ein paar geschickten Worten über die erste Verlegenheit hinweggeholfen, fand auch Käthe die Sprache wieder und beteiligte sich an der ganz allgemein gehaltenen Unterhaltung, Emma schenkte Kaffee ein und präsentierte von ihrem Kuchen, merkte aber bald, daß kein rechter Appetit vorhanden war. Jetzt sprach Hermann eifrig mit dem Onkel. Schnell wandten Käthes Blicke sich ihm zu. Prüfend ließ sie die Augen auf ihm ruhen.

Sprach Käthe mit der Tante, so benutzte Hermann diesen Augenblick, sich auch einmal verstohlen seine Zukünftige anzusehen; so verging die erste Stunde, man fing eben an, sich behaglich zu fühlen, als ein Klopfen an der Tür die Gesellschaft auffahren ließ.

»Herr Gruber, Konrads Vater,« meldete Dore, und mit freundlichem Gruß betrat dieser Herr das Zimmer, nicht ahnend, welch ein unwillkommener Gast er gerade an diesem Nachmittag war. »Ich störe doch nicht? Komme nur, mir meinen Konrad zu holen, der ja heute nachmittag frei hat.«

Während der Professor den Herrn freundlich willkommen hieß, eilte Emma, Konrad zu benachrichtigen, winkte aber beim Hinausgehen Käthe verstohlen, ihr zu folgen.

Letztere folgte gern dem Wink. Sie stand schnell auf, verließ das Zimmer, und als Emma Konrad ins Wohnzimmer geschickt, eilte sie mit der Freundin in ihr Stübchen. Dort angekommen, legte Emma beide Arme auf Käthes Schultern, sah ihr treuherzig in die Augen und sagte: »Nun?«

Käthchen warf sich stürmisch in ihre Arme und rief unter Weinen und Lachen: »Emma, er er – – er ist ja gar nicht so häßlich.«

»Also ist der persönliche Eindruck kein ungünstiger? Gefällt dir der Mann?«

»Er ist prächtig,« sagte Käthe, und man sah es ihr an, wie ihr dieser Ausspruch von Herzen kam.

War es ein Wunder, daß sich die Bergeslast, die auf Emma gelegen, plötzlich abwälzte? War es ein Wunder, daß es ihr froh und leicht ums Herz wurde und sie aus tiefster Seele ausrief: »Gott sei Lob und Dank.«

»So weit sind wir noch nicht,« sagte Käthe ernst. »Du weißt ja gar nicht, ob dein Bruder mich mag!«

»Das wird sich finden,« sagte Emma, schlang den Arm um Käthe und mit den Worten: »Komm, ich höre eben Herrn Gruber mit Konrad fortgehen,« betrat sie samt derselben das Wohnzimmer. Die Fünf saßen nun ungestört beisammen. Der Regen schlug an die Fenster und der Wind pfiff sein Lied dazu.

»Emma,« flüsterte die Professorin, »weißt du, wo Wilhelm mit Mariechen hingegangen?«

»Nein, ich sah sie nur, als ich nach Tisch am Fenster stand, höchst fidel unter dem Regenschirm abwandern.«

»Wenn nur die Kinder sich nicht erkälten oder irgend eine Dummheit machen,« sagte die Professorin besorgt, prüfende Blicke zum Fenster hinauswerfend.

Plötzlich riß der Wind im andern Zimmer ein Fenster auf und stieß einen Blumentopf auf den Boden. Hermann eilte schnell, das Fenster zu schließen, während Emma und Käthchen eilfertig herzukamen, um die Erde in den Topf zu tun und das Blümchen wieder hineinzudrücken. Hermann stand hinter Käthe und sah ihr zu.

»Das ist wohl die Hyazinthe, von der Sie mir schrieben?« fragte er. Während Käthe antwortete: »Nein, das war eine andere, die ich mir selbst gezogen!« rief die Tante Emma, gab ihr einen Wink, die Tür zu schließen, und sagte: »Der Zufall ist uns günstig gewesen, der Wind hat sich ins Mittel gelegt! Laß die jungen Leute jetzt allein, die Zeit ist kurz, und wenn sie sich aussprechen wollen, ist jetzt die passendste Gelegenheit. Wer weiß, was sonst störend dazwischen kommt!«

So waren Hermann und Käthe allein! Was in der stillen Stunde zwischen ihnen gesprochen und ausgemacht wurde, haben sie niemand verraten, auch der treuen Schwester nicht. Letzterer wurde es sauer, so lange auszuhalten, doch ermahnte die Tante zur Geduld und zum Stillesein. Endlich, – Emma hatte zum Abendbrot gerüstet und fragte, ins Wohnzimmer tretend: »Immer noch nicht?« winkte die Tante mit der Hand und flüsterte: »Es scheint sehr ernst dort zuzugehen, doch, wenn ich nicht irre, nimmt die Sache einen guten Ausgang.« Tante und Emma waren unfähig gewesen, den Nachmittag irgend eine Arbeit vorzunehmen. Nur der gute Onkel bewahrte die ihm eigene köstliche Ruhe, saß gemütlich in seinem Lehnstuhl, las ein Zeitungsblatt nach dem andern durch und sagte nur von Zeit zu Zeit: »Kinder, wartet es doch ab, nur keine Übereilung!«

Endlich schlug die Abendstunde. Es war aufgetragen und Emma mußte, um wie immer pünktlich zu sein, die Glocke erschallen lassen. »Soll ich klingeln, Tante, oder noch warten? Ich denke nur, die Pensionäre werden ungeduldig. Ist Konrad wieder da?«

»Er ist eben angekommen!«

»Und Wilhelm und Marie?«

»Da klingelt's! Das werden sie sein!«

Eben wollte Emma hinauseilen, ihnen entgegen, doch plötzlich blieb sie wie gebannt stehen. Die Salontüre wurde geöffnet und Hermann erschien mit Käthchen am Arm!

»Lieber Onkel, liebe Tante,« sagte er mit bewegter Stimme, »der Herr hat mir eine liebe Braut geschenkt, gebt uns, an der Eltern Statt, euren Segen.« Während die Verwandten dem jungen Brautpaar von Herzen gratulierten, setzte Emma sich auf einen Stuhl und schluchzte laut. Es überwältigte sie. Aber nun lächelte sie unter Tränen, als das Brautpaar zu ihr trat, der Bruder sie in die Arme schloß und ihr dankte für ihre treuen Dienste.

Nachdem auch Käthchen und sie sich umarmt, überkam sie auf einmal eine solche Verlegenheit, daß sie hinausstürzte und laut zum Abendbrot schellte.

»Nein, Emma ist doch unvergleichlich. Kann sie uns denn nicht Zeit lassen, uns einigermaßen zu sammeln,« sagte die Professorin kopfschüttelnd. »Wer mag denn jetzt gleich ans Abendbrot denken!«

Doch die Pensionäre kamen schon herbei gestürzt, auch Wilhelms und Mariens Stimmen wurden vernehmbar. Was blieb also Professors und dem Brautpaar übrig, als sich auch zu Tische zu begeben.

Wilhelm und Marie warfen Hermann und Käthe verstohlene Blicke zu, konnten jedoch nichts merken. Hermann saß neben dem Professor, Käthchen hatte sich mitten unter die Pensionäre gesetzt, mit denen sie gut Freund war. Sie nannte ihn: »Herr Pastor,« er sie: »Fräulein Walter;« es war absolut nichts Auffallendes dabei.

»Nun, Mamachen, freust du dich nicht, uns wieder zu sehen?« sagte Wilhelm zu seiner Mutter.

»Gewiß, ich bin schon euretwegen in rechter Sorge gewesen. Wo habt ihr den Nachmittag zugebracht?«

»Das wollen wir dir dann privatim erzählen. Wir haben auch mancherlei erlebt!« Marie machte dazu eine ganz kummervolle Miene, so daß die Professorin dachte: »Was muß nur dem Kinde wieder passiert sein?« es jedoch einstweilen auf sich beruhen ließ, um sie nicht vor den Pensionären in Verlegenheit zu bringen.

Diese hatten nach Tisch vollauf zu arbeiten, da sie den freien Mittwochnachmittag ihrem Vergnügen gelebt hatten. So betraten sie heute abend das Wohnzimmer nicht, sondern der Professor begab sich nach dem Essen mit ihnen in die Arbeitsstube, um durch seine Gegenwart sofortiges Arbeiten zu erzielen.

Während Emma und Mariechen den Tisch abräumten, hatte Hermann seine Reisetasche geholt und suchte darin. Die Professorin umschlang Käthchen und ging mit ihr ins Wohnzimmer.

»Nun, mein liebes Fräulein Käthchen, oder wie es nun heißt: Nichte Käthe, bist du denn eine glückliche Braut?«

»O, ich bekomme einen prächtigen Mann, einen Mann, zu dem ich hoch aufsehen muß. Aber ernst – sehr ernst ist er!«

In diesem Augenblick trat Hermann mit einem kleinen Kästchen ein. Er setzte es auf den Tisch, öffnete es und holte einen zwischen feuchtem Moos liegenden, prächtigen Strauß Schneeglöckchen heraus. Er überreichte denselben seiner Braut mit den Worten:

»Sieh, ich hab dir auch etwas mitgebracht.«

Ein Aufleuchten in Käthes Augen überzeugte ihn mehr als ihre Dankesworte, daß er das Richtige getroffen. Diese zarte Aufmerksamkeit hatte sie von dem ernsten, fast düstern Mann nicht erwartet; sie erkannte darin seinen zarten Sinn, der, eine schöne Mitgabe fürs Leben, nicht jedem verliehen ist. Noch größer war ihre Freude, als sie bei näherer Betrachtung des Straußes denselben mit einem langen, schmalen Papierstreifen umwickelt fand, auf dem die von Hermanns Hand geschriebenen Worte standen:

»Nur unverzagt und Gott vertraut,
Es muß doch Frühling werden!«

»Sieh,« sagte er, sie an sich ziehend und ihr in die Augen sehend, »mit diesem Wort hast du einmal einen betrübten Mann aufgerichtet; nun mache ich dir mit denselben Worten eine Freude!«

Käthe nickte leise und war tief bewegt. Sie sahen sich an und in beider Augen leuchtete es wie Frühlingswehen.

Emma, die eben eingetreten, sah die Schneeglöckchen in Käthchens Hand. Sie trat zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: »Und ein neuer Frühling folgt dem Winter nach!«

In Käthens Augen glänzten helle Tränen, auch Emma wischte sich verstohlen die Rührung von der Wange und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte auch die Professorin das Taschentuch geholt. Doch daß die weiche Stimmung nicht Raum gewann, dafür sorgten die Kinder Wilhelm und Marie.

Energisch traten sie ein, Wilhelm machte eine feierliche Verbeugung vor dem Brautpaar und sagte mit komischem Pathos: »Ist es uns beiden, die wir doch gewissermaßen Familienglieder sind, nun endlich gestattet, näher zu treten?«

»Ja wohl, ja wohl,« rief Vetter Hermann fröhlich, »und ihr sollt uns gratulieren! Ihr habt nämlich ein Brautpaar vor euch.«

»Ich dachte mir so etwas, als ich euch in dieser Stellung gewahrte. Nun, das ist ja famos, ganz famos! Nun, Mieze, komm, jetzt kannst du gratulieren, nun kannst du auch wieder reden, kannst deinen Damen von heute nachmittag morgen, jeder einzelnen, eine Visite machen und sie aus ihren fürchterlichen Qualen reißen!«

»Wo waret ihr denn, Kinder?« fragte die Professorin unruhig.

»Das erzählen wir alles noch. Erst wollen wir uns über das Brautpaar freuen. Also Vetter Hermann –«

»Und Kousine Käthe,« fiel Käthchen fröhlich ein, Wilhelm die Hand reichend.

»Gut! Und hier Vetter Wilhelm,« sagte der Student, herzlich einschlagend. »Freue mich sehr, liebe Kousine!«

»Nun Kinder, wie steht's!« ließ sich jetzt die fröhliche Stimme des Professors vernehmen. »Meine Jungen sind bei der Arbeit, nun will ich mich mit euch freuen. Haben wir zuvor Elternsorgen mit euch gehabt, so ist es wohl billig, daß wir nun auch Elternfreuden genießen. Emma, hole eine Flasche Wein, wir wollen das Brautpaar leben lassen.«

Hell klangen die Gläser, als auf das Wohl der Verlobten angestoßen wurde, und hell und freudig glänzten alle Gesichter ob des vielen Glücks, das hier eingekehrt war.

Auf einmal rief Hermann: »Wilhelm und Mariechen müssen noch beichten, wie sie den heutigen Nachmittag zugebracht haben.«

»Gut,« sagte Wilhelm, »das wollen wir. Also erst: Spaziergang im Freien, bei strömendem Regen und leidlichem Sturm. Wir sind die Allee des großen Gartens wohl zehnmal auf- und abgerannt, bis Mieze entschieden zu opponieren begann und energisch in die Stadt zurückbegehrte. ›Wohin nur mit dir, liebes Kind,‹ sagte ich väterlich. ›Zu den Verwandten können wir nicht, da ist es zu schwer, dein Plappermäulchen im Zaum zu halten. Doch halt, jetzt fällt mir etwas ein! Mein Freund, Otto K., ist gestern mit mir aus Leipzig gekommen, den werde ich besuchen und du gehst unterdes ein Stündchen zu seiner Mutter, der Frau Doktor K. Da bist du sicher und geborgen. Sie ahnt nichts von allem, was sich bei uns entwickelt, kann also keine verfänglichen Fragen tun –‹«

»Und da seid ihr zu Frau Doktor K. gegangen,« rief die Professorin erschrocken, während Emma, in herzliches Lachen ausbrechend, sagte: »Auf eine dummere Idee konntet ihr gar nicht kommen!«

»Hättet ihr uns nur gesagt, daß dort großer Damenkaffee sei,« sagte Mariechen schmollend, »ich hatte ja keine Ahnung davon und bin richtig hereingefallen!«

»Erzähle, erzähle!« bat Emma begierig.

»Also Wilhelm ging zu seinem Freund, dessen Stube er ja kennt, und ich frage bescheiden das Dienstmädchen, ob ich Frau Doktor K. sprechen könne. Diese, wohl denkend, ich gehöre zu den geladenen Gästen, bat mich, abzulegen, und erst als ich dies verweigerte, ging sie, mich zu melden. Frau Doktor kam sofort und sagte erstaunt: ›Sie sind es, Fräulein Mariechen! Wir sprachen eben von Ihnen!‹ Mit diesen Worten zog sie mich in den Salon, wo ungefähr zwanzig alte Damen plaudernd um den Tisch saßen. Mir wurde heiß und kalt, ich bat inständigst, mich zurückziehen zu dürfen, doch eh' ich mich's versah, war ich mitten in dem Damenzirkel. Aller Augen waren auf mich gerichtet und ich wurde so verlegen, wie – ein Backfisch –«

»Es ist zu schade, daß die Mama nicht kommen konnte,« sagte die Doktorin, mich scharf fixierend – »sie hat wohl Besuch?«

»Ja – – nein – – sie erwartet wohl welchen – stotterte ich, und ich fühlte, wie eine glühende Röte mein Gesicht bedeckte. Da rief eine ältere Dame, eine Lehrerin: ›Heute abend ist Lehrerinnenkränzchen, aber Käthchen Walter hat sich entschuldigt, sie könne durchaus nicht kommen. Ist sie etwa bei Ihnen, oder wissen Sie etwas von ihr?‹«

»Ja – – nein – – stotterte ich wieder, und dabei wurde ich immer verlegener, weil alle Gesichter auf mir ruhten, alle mich so scharf fixierten, als wäre mein Gesicht ein offener Brief. Ich hätte weinen können. In solcher schrecklicher Lage steckte ich noch nie.« Alle lachten. »Armes Mariechen,« sagte Hermann mitleidig. »Du mußt eine besondere Gratifikation haben, weil du um unsertwillen so gelitten.«

»Jetzt ist es ja vorbei, aber es war fürchterlich,« seufzte Mariechen. »Als die alten Damen merkten, wie verlegen ich wurde, begannen sie zu flüstern. Ich hörte Käthchens Namen oft aussprechen, auch Wilhelms. Eine Dame sagte leise: ›Er ist gestern aus Leipzig gekommen.‹ – Die andere: ›Ich bitte Sie, er ist ja erst Student!‹ ›Na, dann bin ich mit meiner Weisheit zu Ende,‹ rief eine alte Dame, und warf ihr Strickzeug auf den Tisch.«

»Und was die andern entfernt Sitzenden alles redeten, habe ich natürlich nicht verstanden. Ich stand, nachdem ich die Prüfung eine Weile ausgehalten, auf und empfahl mich, trotz alles Zuredens zu bleiben. Ich war so ärgerlich und betrübt, daß es nur Wilhelms heiterer Laune zu verdanken ist, wenn ich jetzt wieder ein frohes Gesicht mache.«

»Ja, die arme Mieze war kreuzunglücklich, ich habe allen Humor aufbieten müssen, sie wieder zum Lachen zu bringen.«

»Also das haben sie doch herausgebracht,« examinierte Emma, »daß Käthchen bei uns sei?«

»Ja, das mußte ich endlich zugeben, leugnen konnte ich es nicht!« »Natürlich nicht,« rief Käthe fröhlich. »Also ich werde morgen als Verlobte gelten!« »Was du wirklich bist,« sagte Hermann, sie freundlich anblickend.

»Aber mit wem ich verlobt bin, das bleibt ein Geheimnis, da man von deiner Existenz nichts ahnt.«

»Wollen wir denn unsere Verlobung nicht gleich veröffentlichen?«

»Doch nicht eher, bis wir der Eltern Einwilligung haben.«

»Mein Mütterlein hat mir lange ihren Segen gegeben, jede Wahl, die ich treffen würde, sei ihr recht. Nur nicht lange warten solle ich, das war ihr Wunsch!«

»Und meine Eltern werden in Kürze ihren Segen geben. Aber noch eins. Ich möchte erst das Schulexamen hinter mir haben, bevor die Verlobung veröffentlicht wird. Meine Vorsteherin wird sonst fürchten, daß ich alle Gedanken verliere, und wird sich unnötige Sorgen machen.« »Ist mir alles recht,« sagte Hermann. »Aber was sagen Mariechens alte Damen, wenn morgen nichts passiert?« – »Die mögen nur ein wenig warten,« sagte Emma vergnügt.

»Aber ich bitte um eins,« sagte Mariechen dringlich. »Schickt mich nicht wieder zu Frau Doktor K., bis das Schulexamen vorüber ist.«

So wurde hin und her geplaudert, während Hermann und Käthe sich verstohlen die Hand drückten oder sich ansahen, eins des andern Glück aus den Augen lesend. Plötzlich sprang Käthe auf mit dem Bemerken, es sei höchste Zeit zum Aufbruch.

»Dann hat unsere Trennungsstunde geschlagen,« sagte Hermann traurig. »Ich muß heute nacht um drei Uhr abreisen, um morgen rechtzeitig in unserer Residenz einzutreffen. Doch ich geleite dich nach Hause, meine liebe Braut.«

»Teurer Vetter,« begann Wilhelm, »da muß ich mich zu deinem Begleiter anbieten. Du kennst weder Weg noch Steg in unserer großen Hauptstadt und würdest dich auf deinem Rückweg verirren! Ihr seht,« wandte er sich triumphierend an seine Mutter und Emma, »welch ein Glück es war, daß ich gestern schon kam, was hätte aus dem armen Bräutigam werden sollen ohne mich!«

»Guter Vetter, ich bin dir sehr dankbar,« sagte Hermann.

»Und ich nicht minder,« fiel Käthchen ein.

»Ich will mich auch bescheiden im Hintergrund halten und« schnell Käthchens Tasche ergreifend, »mit deiner Tasche folgen.«

So machte sich das Brautpaar auf den Weg, während Dore kopfschüttelnd die Tür schloß mit den Worten:

»Unser junger Herr wäre doch genug als Begleitung, warum muß der fremde Pastor auch mitgehen?«

Professors waren nun allein und redeten zusammen von dem ereignisreichen Tage. Doch war es nicht zu verwundern, daß sie große Müdigkeit fühlten. Darum bat Emma, als Hermann und Wilhelm zurückgekehrt waren, Onkel und Tante möchten zu Bett gehen, sie würde für alles übrige sorgen. Wilhelm legte sich auch zur Ruhe mit der Bitte, ihn ja halb drei Uhr zu wecken, da er den Vetter an den Bahnhof bringen wolle.

Inzwischen war im Hause Ruhe geworden, aber draußen tobte und heulte der Sturm und der Regen schlug prasselnd an die Fenster. »Ein fürchterliches Wetter das,« sagte Emma halblaut vor sich hin, als sie im Vorsaal an das Fenster trat.

»Der Frühling kommt mit Brausen,« ertönte eine Stimme hinter ihr, und als sie sich erschrocken umwandte, stand Hermann da und sagte: »Siehst du, so bin ich auch mit Brausen hereingebrochen und habe mir eine Braut im Sturm erobert.«

»Aber Hermann, du wolltest einige Stunden ruhen, du kannst es brauchen. Bist die vorige ganze Nacht gereist, hast nicht geschlafen –«

»Kann nicht, liebes Schwesterchen. Und wenn du auch noch munter bist, wollen wir uns auf das gemütliche Ecksofa im Salon setzen und zusammen plaudern.«

»Du hast recht, Hermann, wir Geschwister haben heute so gar wenig voneinander gehabt.« Da saßen nun die beiden Hand in Hand und redeten von dem, was ihnen das Herz bewegte.

»Liebe Schwester,« sagte Hermann, »ich kann mein Glück kaum fassen. Es ist mir, als beginne nun ein neues Leben, die Zukunft liegt vor mir in rosigem Licht! Ich habe mehr gefunden, als ich erwartete, eine edle Perle habe ich mir errungen.«

»Halte sie wert, Hermann, sie verdient es. Um euer Glück ist mir nicht bange, es ist fest begründet auf dem einzigen wahren Grund, welcher ist Christus. Was im Gebet und im Glauben angefangen, muß einen herrlichen Fortgang haben.«

So plauderten die Geschwister und die Stunden deuchten ihnen schier Minuten. Die Trennungsstunde kam nur zu bald. Wilhelm wurde geweckt und nachdem die beiden noch einen Imbiß genommen, verabschiedete sich Hermann.

»Tausend Grüße an meine liebe Braut, an Onkel und Tante, denen ich für alle Liebe danke. Nach Ostern komm' ich wieder – da geht's zu Käthchens Eltern.«

»Gott behüte dich, mein lieber Bruder.«

Emma leuchtete ihm und Wilhelm die Treppe hinunter, sie lauschte noch auf die in der Ferne verhallenden Tritte. Dann schloß sie die Tür und zog sich in ihr Zimmer zurück. Es wogte in Kopf und Gemüt wie in einem Chaos, aber die Grundstimmung, die sie beherrschte, war Lob und Dank. Immer und immer wieder drängten sich die Worte auf ihre Lippen:

Sollt' ich meinem Gott nicht singen,
Sollt' ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh' in allen Dingen,
Wie so treu Er's mit mir mein'.
Ist doch nichts denn lauter Lieben,
Das sein treues Herze regt,
Das ohn' Ende hebt und trägt
Die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit!

Werfen wir nun noch einen Blick in Käthchens Stübchen Auch sie liegt noch wach. Wie konnte sie heute schlafen, wo ihr so Großes begegnet! Sie vermochte es ja kaum zu fassen. Still und demütig hatte sie beim Empfang des ersten, verhängnisvollen Briefes ihr Herz im Glauben gebeugt und gesprochen: »Siehe, ich bin des Herrn Magd.« Nun hatte der Herr ihr über Bitten und Verstehen gegeben! Immer und immer wieder durchdachte sie die verflossene Zeit, wie wunderbar war alles gekommen! Hatte sie in der letzten Zeit oft schlaflose Nächte gehabt wegen innerer Unruhe und Skrupel, so war es in der heutigen nur freudige Aufregung, die sie wach erhielt. Endlich gewann's die Erschöpfung. Sie schlief ein mit den Dankesworten im Herzen und auf den Lippen:

Der Herr hat Großes an mir getan, des bin ich fröhlich!

 


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