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Im Norden

Als der Abt Trithemius im Anfang des 16. Jahrhunderts einer Einladung des Kurfürsten von Brandenburg folgend nach Berlin reiste, bekam er von dem nordöstlichen Lande einen ähnlichen Eindruck, wie Polen auf deutsche Reisende des 18. Jahrhunderts machte. Brandenburg schien außerhalb der deutschen Kultur zu liegen. Alles kam dem Abt öde vor, die Leute seien ungebildet, lebten in ihrer angeborenen Plumpheit dahin. Die Bauern fand er nicht bösartig, vielmehr unterwürfig und sehr kirchlich, aber faul, schmutzig und dem Trunk ergeben; infolgedessen herrsche Mangel. Der traurige Zustand des flachen Landes verschlimmerte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts beträchtlich. Die schwachen und einsichtslosen Landesherren lieferten die Bauern, von denen im 15. Jahrhundert ein Teil noch frei war, gänzlich den adligen Gutsherren aus. Da diese begannen, sich durch Export von Getreide und Vieh zu bereichern, trachteten sie nach Vergrößerung ihrer Güter und erreichten ihren Zweck auf Kosten der Bauern. Anstatt ihr unrechtmäßiges Vorhaben zu verhindern, unterstützte sie der Kurfürst, indem er ihnen ein schrankenloses Enteignungsrecht gegenüber den Bauern gewährte. Damit sie ihre vergrößerten Güter möglichst kostenlos bewirtschaften konnten, ließ er die Versklavung der Bauern zu, wobei ihm die im römischen Recht ausgebildeten Juristen zur Seite standen. In Pommern wurden die Bauern im Jahre 1616 schlechtweg als leibeigen erklärt. Günstiger für die Bauern waren die Verhältnisse in Niedersachsen, wo sich so große Güter wie in Pommern und Brandenburg nicht bilden konnten, und wo auch die Landesherren den Bauernstand einigermaßen schützten. Es fehlten im Nordosten die Reichsstädte, in denen sich im Süden und Westen ein selbständiges und gebildetes Bürgertum entwickelte. Dasjenige politische Gebilde, das im Mittelalter den Norden beherrscht und belebt hatte, die Hansa, löste sich im 16. Jahrhundert allmählich auf. Sie beruhte auf Voraussetzungen, die dem Mittelalter eigentümlich waren: nur inmitten fließender Verhältnisse konnte ein so lockeres, nicht durch Zwang gestütztes Gewächs entstehen und sich halten, in einer sich zentralisierenden Umwelt fiel es auseinander. Die Landesherren, die ihr Gebiet fest zusammenfaßten, gestatteten den Städten, über die sie Gewalt hatten, die Zugehörigkeit zum Bunde nicht mehr; so fiel Berlin zum Beispiel ab. Schlimmer war die Konkurrenz der mächtiger werdenden Nachbarstaaten. Holland, das im Beginn des 15. Jahrhunderts die Natur selbst begünstigte, indem der Hering, eine wichtige Erwerbsquelle der Hansestädte, seinen Zug plötzlich an die holländische Küste nahm, wurde im Jahre 1433 mit dem Fürstentum Burgund vereinigt, dessen Macht ihm zugute kam. Auf dem Rathaus zu Lübeck steht die Statuette eines jungen Mannes mit sturmdurchwehtem Haar; sie stellt den Flüchtling Gustav Wasa dar, den die Lübecker aufnahmen und schirmten und mit einer Flotte nach Stockholm führten, worauf der Vertriebene König von Schweden wurde. Die bübischen Königmacher ließen sich für ihre wirksame Unterstützung einen hohen Preis zahlen, das Versprechen Wasas, nur den hansischen Kaufleuten in Schweden Handelsprivilegien zu gewähren; allein die Interessen seines Landes erwiesen sich, als er König war, stärker als die Pflicht der Dankbarkeit, ja vielleicht erregte die von den Lübeckern allzusehr betonte und ausgenützte Dankbarkeit doppelten Widerstand. Fast ebenso wie den Schweden hatte sich Lübeck den König von Dänemark verpflichtet; aber auch Dänemark entzog der Hanse seinen Schutz, um ihn den Holländern zuzuwenden. Alle die an die Ostsee grenzenden Länder, über welche die Hanse lange ein wirtschaftliches Übergewicht ausgeübt hatte, Holland, England, Schweden, Dänemark, Norwegen und Rußland, strebten jetzt, die Kräfte des eigenen Landes zu steigern, sich unabhängig zu machen. Noch einmal wurde durch Jürg Wullenweber der Versuch gemacht, die Vorherrschaft der Hanse im Ostseegebiet wiederherzustellen, ein Versuch, der mit einer inneren Umwälzung der aristokratischen und katholischen Reichsstadt Lübeck zusammenhing. Ganz besonders in Norddeutschland war die protestantische zugleich eine demokratische Bewegung. Nirgends so wie im Norden empfindet man die Berechtigung des Wortes, der Protestantismus sei die germanische Religion; an manchen Orten war es, als kehre die Bevölkerung damit zu ihrer Eigentümlichkeit zurück. In Osnabrück zum Beispiel hatte die altsächsische bäuerliche Einwohnerschaft von Anfang an den Klerus und seine Vorrechte nur widerwillig ertragen. Sie waren nicht etwa unchristlich, aber unkirchlich, sie wollten von der Bilderverehrung nichts wissen und wachten eifersüchtig darüber, daß ihnen der alte Gemeinbesitz an Wald und Weide nicht durch Klöster entzogen werde. Wie überall waren auch hier die Handwerker besonders empfänglich für den neuen Glauben, während die patrizischen Kreise, die Inhaber der politischen Gewalt, schon aus Rücksicht auf den Kaiser am alten festhielten. In den Hansestädten war der Gegensatz besonders heftig, weil hier durch strenge Vorschriften die Teilnahme der Zünfte am Regiment ausgeschlossen war. Die Geschlechter, welche in Jahrhunderten weiser und maßvoller Regierung die Blüte der Hanse heraufgeführt und erhalten hatten, glaubten revolutionäre Bewegungen zugunsten des Mittelstandes ausschalten zu müssen; Städte, wo es zu demokratischen Unruhen kam, wurden aus der Hanse ausgestoßen und nicht wieder aufgenommen, bis der frühere Zustand wiederhergestellt war. Das Feuer des neuen Glaubens nährte die Unzufriedenheit der so lange zurückgedrängten Schicht; mit ihrer Hilfe machte sich Wullenweber zum Bürgermeister von Lübeck. Die katholischen Stadthäupter wanderten in die Verbannung. Es ist bezeichnend, daß Wullenweber und seine Gefährten Fremde, nämlich Hamburger waren; die Lübecker waren in ihren Unternehmungen zurückhaltend, vorsichtig abwägend, wohl nachdrücklich handelnd, wenn sie sich einmal zum Handeln entschlossen hatten, aber nicht Spieler, die das Unmögliche wagen. Wullenwebers Pläne waren großartig und nicht ganz und gar aussichtslos; er war sich bewußt, daß er bei dem aufgelösten Zustand der Hanse höchstens auf Rostock, Wismar und Stralsund, daß er auf Hilfe vom Reich überhaupt nicht zählen konnte und daß er deshalb irgendeine deutsche oder ausländische Macht gewinnen mußte. Der Norden war im Beginn des 16. Jahrhunderts in wühlender Bewegung: in den skandinavischen Reichen rang der Adel mit Bauern und Städten, die wechselnden Könige stützten sich bald auf diese, bald auf jene Partei, und alle trachteten nach der Herrschaft über die Ostsee, die der Hanse entglitt. Es gelang Wullenweber, England und Mecklenburg in seine Pläne hineinzuziehen, außerdem hoffte er, der selbst durch eine protestantisch demokratische Bewegung getragen war, sich dieselben Kräfte in Schweden und Dänemark zunutze zu machen. Er hatte in Dänemark bedeutende Erfolge; aber als er zu Meer und zu Lande Niederlagen erlitt, sank sein Ansehen in Lübeck. Während er abwesend war, kehrten die vertriebenen Patrizier zurück und erkauften sich die Anhängerschaft des Volkes, klug und gemäßigt wie immer, durch Freigabe des evangelischen Bekenntnisses. Die stürmisch weitgreifende Politik Wullenwebers war der besonnenen Hansestadt nicht gemäß. Es läßt sich kaum noch feststellen, ob Schwächen in Wullenwebers Charakter oder in seinen Fähigkeiten an seinem Sturze Mitschuld hatten; sein größter Fehler war wohl, daß er eine Sache vertrat, die die Verhältnisse der Zeit zum Untergang verdammt hatten. Ein Städtebund konnte sich zwischen den erstarkenden Territorien nicht halten. Immerhin errang sich Hamburg, dessen erste Sendlinge scheiterten, als sie den Traum Adalberts von Bremen von einem meerumspannenden Nordreich unter deutscher Führung wiederholten, eine bedeutender Entwicklung fähige Stellung. Hier, der Neuen Welt zugewendet, erhielt sich das republikanisch-aristokratische Element, das einst im Reich so kostbare Früchte gezeitigt hatte, das seit dem 15. Jahrhundert immer mehr zurückgedrängt worden war, in Kraft. Hamburg war wie Wien eine Weltstadt. Mitten im Dreißigjährigen Kriege ging von hier durch die Anregung des Kaufmanns Otto Brüggemann die Gesandtschaft nach Rußland und Persien aus, die den Zweck hatte, den Seidenhandel mit Ostindien auf dem Landwege zu führen, und an der sich der bedeutendste Dichter des Jahrhunderts, der Sachse Paul Fleming, beteiligte. Unablässig war seit dem 15. Jahrhundert die wachsende Stadt mit ihrer Befestigung und baulichen Verschönerung beschäftigt. Im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts begann der holländische Artilleriehauptmann Valkenborgh die neue Fortifikation, die die glückliche Republik im Dreißigjährigen Kriege und auch später namentlich vor Dänemark sicherte. Als die betriebsamen Niederländer vor Alba flüchteten, gründeten die Hamburger Kaufleute eine Börse. Auf dem Rathause stand, wie uns Merian um 1612 erzählt, ein öffentlicher Geldkasten, nach Art der Amsterdamer und Venediger Bancum oder Banco genannt, in welchem »zu alten Zeiten auf gewisse Versicherung man den Jenigen, denen man trauen darff, große Summen Gelts fürstrecken thuet. Und solche Erfindung ist der Statt, dem gemeinen Mann und der Gewerbschafft sehr ersprießlich«. In Hamburg, rühmt Merian, sei täglich Messe, während Frankfurt und Leipzig nur einmal im Jahre solche hätten.

Lübeck, die Stadt, von der Enea Silvio Piccolomini einst sagte, ihr Reichtum und Einfluß sei so gewaltig, daß große Länder auf ihren Wink gewärtig seien, Könige einzusetzen und abzusetzen, trat immer mehr hinter Hamburg zurück, und was es an Ansehen bewahrte, war ein mit Anstrengung festgehaltenes Gut, das die Gegenwart nicht mehr speiste. Die Herrschaft über Ost- und Nordsee war für die Hanse verloren, sie wurde von der neuen Großmacht Schweden ausgeübt, die sich, nach Gustav Adolfs Plan, an der deutschen Küste festgesetzt hatte. Holland, Dänemark, Rußland waren ihre Nebenbuhler. Brandenburg, das ein Anrecht auf Pommern hatte, das aber wie die übrigen protestantischen Reichsstände Schweden nicht reizen durfte, da sie ohne seine Unterstützung ihre kirchlichen Ansprüche nicht durchsetzen konnten, behielt sich die Wiedererringung des Meerlandes in künftigen Kämpfen vor.


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