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Tod

Die Schatten werden lang, die Herzen der ergrauten Kämpfer ermatten. Jeder Mensch ist eine Welt, mit jedem, wenn er stirbt, bricht eine Welt zusammen. Oft ist es eine kleine, fast eine Spielzeugwelt, wie ein Kind sie sich aufbaut, zuweilen aber umfaßt sie viele, die heimatlos werden, wenn sie sich auflöst. Wenn der kühle Hauch aus dem Jenseits den wirkenden Menschen anrührt, ein geisterhafter Ton an sein Herz klopft, ein fremder Schauder über ihn hinläuft, wird auch der Glückliche zum Mittelpunkt einer Tragödie. Es ist immer ein Weltuntergang, es ist immer der Sturz einer Hoffnung, der Verzicht auf etwas Gewolltes, der Zusammenstoß eines Ewigkeitswillens mit dem Nichts. Es ist ein Abschied vielleicht von vielen Schmerzen; aber wenn es nicht der Abschied von zärtlich Geliebten ist, so ist es der Abschied von den holden allverbreiteten Elementen, der Luft und dem Licht, von der eigenen Tatenfülle und der verheißenden Zukunft. Endet nicht ein einzelner, sondern eine Generation, so ist das Versinken einer Welt auffälliger. Andere Götter, andere Ziele kann eine Generation mit sich bringen. Die Zeitgenossen Luthers, die zwischen 1480 und 1500 Geborenen, waren erfüllt von der Idee der Reformation des Reiches und der Kirche, auf die seit Jahrzehnten alles zugespitzt war. Sie hatten das Glück, daß große Gedanken im Schwange waren, für die sie ihre Kraft einsetzen konnten. Im Kampfe bildeten sich Überzeugungen, die sich auf das Höchste bezogen, wozu Menschen sich erheben können: Gott und die Beziehungen des Menschen zu Gott. Es ist zweifellos wahr, daß die Kirche und die Kleriker im 15. Jahrhundert und im Beginn des 16. sich in tiefem Verfall befanden; aber Tatsache ist es auch, daß unter den Priestern eine große Menge tüchtiger, gewissenhafter, begabter Männer sich befanden. Alle Reformatoren und viele bedeutende Männer, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts hervortraten, waren katholische Geistliche, die mit Ernst und Hingebung sich um die Erneuerung der Kirche und des öffentlichen Lebens bemühten. Noch einmal wurde das gesamte Leben der Nation überwiegend von Geistlichen bestimmt, und noch nie hatte das geistige Leben der Nation so mächtig in die Welt ausgestrahlt. Dies, daß es sich um die höchsten Fragen handelte, die die Menschen bewegen, verlieh ihrem Kampfe einen so stolzen Schwung und eine so schneidende Tragik. Freunde waffneten sich gegen Freunde, Brüder gegen Brüder; zugleich die Treue gegen Gott und gegen die Menschen zu halten, schien oft unmöglich. Die weltlichen Interessen waren mit den idealen so verflochten, daß die Gewissen sich selten unverletzt aus der Verstrickung reißen konnten. In diesem Streit, wo jeder alles einsetzte und alles erwartete, wo in selbstlose Opferbereitschaft sich höchst weltliche Begierden mischten, konnte kaum einer die Seele unverworren und unbefleckt erhalten.

Der große Gegenkämpfer Luthers war keiner von den Päpsten, deren Herz im Grunde unbeteiligt war, wenn man den nur kurze Zeit regierenden Hadrian VI. ausnimmt, sondern Karl V., der, wenn auch wesentlich staatsmännisch begabt und interessiert, doch auch ein überzeugter, frommer Katholik war. Seine Beziehung zu den überirdischen Mächten war verknüpft mit den eindrucksvollen Gebräuchen der katholischen Kirche. In Augenblicken der Erschütterung war es ihm Bedürfnis, vor einem Marienbilde oder einem Kruzifix zu knien und zu beten. Der reichste und mächtigste Fürst des Abendlandes sparte wie ein schlecht bezahlter kleiner Beamter mit seinen Kleidern und gab sich in den von Musik und Weihrauch erfüllten Gewölben der Kirchen den Ahnungen einer seligen Welt hin. Die Messe, die Bilder, die Klöster, gerade das, was die Protestanten verwarfen, brachten ihn schon hier auf Erden in Berührung mit dem Reich Gottes, das er als die Heimat seiner Seele betrachtete. Es wird erzählt, Karl habe niemals in seiner Gegenwart die Protestanten ihren Glauben verfechten lassen, weil er gefürchtet habe, ihre gewandten und gelehrten Begründungen könnten seine Überzeugung erschüttern. Da das Luthertum bei einigen seiner Schwestern, die ihm nahestanden, Eingang gefunden hatte, scheint es nicht unmöglich, daß auch er Verständnis dafür gehabt haben könnte. Noch mehr gibt es zu denken, daß diejenigen spanischen Geistlichen, die das Evangelium ergriffen und verbreiteten, solange das neben der Inquisition möglich war, Begleiter Karls und von ihm hoch geschätzt waren. Es ist also anzunehmen, daß ihre Art, das Göttliche aufzufassen, ihm vorzugsweise zusagte, und daß er ihren Gedankengängen gefolgt wäre, wenn er nicht von vornherein zum Gegenteil entschlossen gewesen wäre. Karl war darin Luther ähnlich, daß er von Natur konservativ war; womöglich hielt er fest am Althergebrachten. Dazu kam, daß die alte Kirche, die sein Gemüt befriedigte, mit der Verfassung des Reiches verbunden war. Er war und wollte sein Kaiser im alten Sinne, die Leuchte und Stütze der Christenheit neben dem Papst, Dominus mundi. Wie die Hohenstaufen scheute er sich nicht, Päpste zu bekriegen, aber wie sie dachte er nicht daran, das Papsttum zu verwerfen. Wie sein Großvater Maximilian und die Kaiser des Mittelalters hegte er als Krönung seiner Taten den Plan eines Kreuzzuges gegen die Ungläubigen. Um ihn auszuführen, war Einigkeit des Glaubens im Reich notwendig; auf dieser beruhte die Kultur des gesamten Abendlandes überhaupt. Sie zu erhalten, betrachtete er als des Kaisers vornehmste Aufgabe. Der Verrat Moritzens und der Sieg der Protestanten machte alle seine bisherigen Erfolge zunichte. Vielleicht hätte er den Kampf noch einmal aufgenommen; aber er war durch und durch unheilbar krank, sein erschöpfter Körper versagte dem stolzen Geist den oft mit letzten Kräften geleisteten Gehorsam. Noch versuchte er, obwohl von Gichtanfällen gequält, das von den Franzosen geraubte Metz zurückzuerobern. Als allen klar wurde, daß die feste, gut verteidigte Stadt in der winterlichen Jahreszeit uneinnehmbar war, wollte er allein nicht nachgeben. Sein Leibarzt, der berühmte Vesalius, der ihn begleitete, sagte, sie alle und zuerst der Kaiser würden ihr Leben in dieser Festung lassen müssen. Nicht lange danach hatte ein Engländer Gelegenheit, ihn zu sehen: die geisterhafte Blässe seines Gesichtes verriet seine Krankheit, er hielt sich mit Mühe aufrecht. Nach dem Verlust vieler Zähne fiel der vorstehende Unterkiefer als häßlich auf; aber der energische Blick seiner Augen, die zugleich Anmut und Ernst ausdrückten, machte, daß man das Störende übersah. Der zusammengebrochene Kranke war mehr als je eine königliche Erscheinung.

Als Isabella, Karls Frau, noch lebte, hatten sich die beiden gelobt, in späteren Jahren sich in ein Kloster zurückzuziehen. Seltsamer Traum zweier Liebenden! War es, daß sie ihre Liebe als einen Raub an Gott betrachteten, den sie zurückerstatten müßten? Sollte dies Opfer ihnen die Gewißheit sichern, daß ihre Seelen in der jenseitigen Herrlichkeit auf ewig vereinigt würden? Oder hatte die spanische Johanna die schwermütige Sehnsucht nach Einsamkeit auf ihren Sohn übertragen? Als Isabella jung starb, zog er sich in ein Kloster zurück und dachte daran, es nicht mehr zu verlassen. Die Welt war ihm nach dem Erlöschen seines Lichtes dunkel geworden. Nur weil man ihm vorstellte, daß sein zwölfjähriger Sohn Philipp zu jung sei, um die Regierung zu übernehmen, kehrte er zu seinen Pflichten zurück. Inmitten der folgenschwersten Unterhandlungen und Kämpfe dachte er immer wieder an das wipfelumrauschte Kloster, den abendroten Garten des Friedens, den Vorhof des Himmels. Er bereitete alles zu diesem Ende vor, hoffte eine Zeitlang, ein im Glauben geeintes Reich seinem Sohne übergeben zu können. Als er in beidem gescheitert war und die Kraft nicht mehr fühlte, den Kampf von neuem zu beginnen, dankte er ab, um sich von der Welt zurückzuziehen. Wenn er vor den in Brüssel versammelten Ständen als den Grund, warum er seine Kronen niederlege, seine wankende Gesundheit anführte, sagte er die Wahrheit. Er fühlte den Abend; nun wollte er die Sonne zwischen den Zypressen eines Klostergartens untergehen sehen. Als die Geschäfte erledigt waren, wurde die Reise nach Spanien angetreten, zwei seiner Schwestern, Eleonore, die verwitwete Königin von Frankreich, und Maria, die verwitwete Königin von Ungarn, folgten ihm. Er hatte sich zur letzten Zuflucht das Hieronymiten-Kloster San Yuste in Estremadura ausgewählt; es lag in einem fruchtbaren Tal voll von Blumen und Früchten, aber auch umbraust von Gewittern und Stürmen. Angefügt an das Kloster hatte er sich einen kleinen Palast erbauen lassen, den er mit einigen Begleitern und etwaigen vornehmen Gästen bewohnte. Die Mehrzahl der Dienerschaft war im nächsten Dorfe untergebracht. Die Mönche, die der Ankunft ihres erhabenen Gefährten mit Ungeduld entgegengesehen hatten, waren, wie es scheint, etwas einfältige, gutartige Leute, die den Kaiser sehr gelangweilt hätten, wenn er auf sie allein angewiesen gewesen wäre. Da das nicht der Fall war, ging er gern und freundlich mit ihnen um. Sein hauptsächlicher Verkehr waren sein Kammerherr Don Luis Quixada, ein vornehmer Herr von altem Schlage, redlich, fromm und unwandelbar treu, dem er seinen Sohn von der schönen Regensburgerin Barbara Blomberg, Don Juan d'Austria, zur Erziehung übergeben hatte, ferner sein Arzt, ein junger Niederländer, und Wilhelm von Male, ein Gelehrter von natürlich schlichtem Wesen, gleichfalls Niederländer, mit dem er allerlei literarische Dinge zu besprechen pflegte. Gern hatte er auch den italienischen Mechaniker Torriano von Cremona um sich, der seine Uhren betreute und wunderliche Automaten verfertigte, wie zum Beispiel fliegende Vögel und eine nach dem Takt ihres Tamburins tanzende Dame. Wie einst der große Albert um ähnlicher Wunderwerke willen, sollen auch der Kaiser und sein Künstler den erschreckten Mönchen zauberverdächtig erschienen sein. Von seiner Einsiedelei aus verfolgte der Kaiser, denn er konnte doch nicht anders als Kaiser bleiben, mit lebhafter Teilnahme die Ereignisse der großen Welt. Briefe, Depeschen, Boten kamen und gingen. Er konnte in die heftigste Erregung geraten, wenn die Dinge anders gerieten, als er sich gedacht hatte; aber er pflegte sich bald zu beruhigen und folgte gern dem regelmäßigen Tageslaufe, wie er sich in dem kleinen Bezirk gebildet hatte. Seine Umgebung und seine Gewohnheiten waren einfach; aber er hatte schöne flandrische Tapeten mitgebracht und Gemälde, die er anzuschauen liebte, besonders solche von Tizian. Er beteiligte sich an den gottesdienstlichen Übungen der Mönche und stimmte selbst in ihren Gesang ein; er war so musikalisch, daß er sofort hörte, wer schlecht oder falsch sang. Neben der Musik waren Tiere und Blumen seine liebste Unterhaltung. Wie Luther in seinen letzten Jahren still den Pflanzen und Tieren auf dem Gut seiner Frau zusah und an die Schweine, die sie züchtete, träumerisch tiefsinnige Betrachtungen knüpfte, so freute den Kaiser nichts so sehr, als unter den Orangen und Kastanien und zwischen den Blumenbeeten von San Yuste, die er selbst angelegt hatte, umherzuwandeln und dem Plätschern des Springbrunnens zuzuhören.

In diesen Jahren mehrte sich die lutherische Ketzerei in Spanien. Sowohl in Spanien wie in Italien fehlte die allgemeine Grundlage für die Reformation, wie sie in Deutschland bestanden hatte: der Gegensatz von Papst und Kaiser, die finanzielle Ausbeutung durch die Kurie, die Ablenkung der hohen Geistlichen von ihren eigentlichen Aufgaben durch fürstliche Stellung, die Verweltlichung und Verwilderung des Klerus. Unter den Königen Ferdinand und Isabella und dem großen Kardinal Ximenes war in Spanien bereits eine Reformation vollzogen; es besaß seitdem sowohl gelehrte und gebildete, wie fromme und in jeder Hinsicht tüchtige Geistliche, und der geeinte und gefestigte Staat hatte sich eine weitgehende Selbständigkeit gegenüber der Kirche gesichert. Das Luthertum wendete sich in beiden Ländern, Italien und Spanien, an das religiöse Denken und Fühlen einzelner Persönlichkeiten, und an solchen fehlte es nicht. Es ist merkwürdig, daß mehrmals italienische Geistliche, die nach Deutschland kamen, um den neuen Glauben zu bekämpfen und sich mit Eifer dieser Aufgabe widmeten, sich von seiner Wahrheit überzeugten, so jener Vergerio, der Luther in Wittenberg aufsuchte, um ihn zum Besuch des Konzils aufzufordern, so die Spanier Augustin Cazalla und Domingo de Guzman. Die Schnelligkeit, mit der durch ihre Anregung in Sevilla und Valladolid das Luthertum sich unter Menschen aller Schichten ausbreitete, läßt schließen, daß es ganz Spanien ergriffen hätte, wenn nicht von der wohleingerichteten Inquisition sofort die ersten Keime erdrückt wären. Als Karl von dem Übertritt der ihm bekannten und von ihm geschätzten Priester unterrichtet worden war, feuerte er seine Tochter Juana, die während ihres Bruders Abwesenheit die Regierung führte, Philipp selbst und die Inquisition an, unnachgiebig die Ketzerei auszurotten, bevor sie um sich greifen könne. Er war gegen das Luthertum, das er nicht hatte überwinden können, ebenso leidenschaftlich erbittert, wie Luther gegen das Papsttum, wenn er seinen Haß auch weniger grob äußerte. Persönlich war der Kaiser sehr gutmütig; auch wenn er mit Recht zürnte, verzieh und vergaß er schnell, und in seinem Testament sorgte er väterlich für den letzten Küchenjungen unter seiner Dienerschaft. Mit Kummer sah er die nichts Gutes verheißende Anlage seines Enkels Carlos, der ihn besuchen durfte; wie anders, hübsch, gewandt, aufgeweckt, war sein Sohn Juan, der mit den Pflegeeltern nach Yuste kam! Aber den Vorschlag, diesen begabten Sohn in die Erbfolge einzureihen, wies er mit Entrüstung zurück.

Karls niederländischer Arzt machte die Bemerkung, daß Leute, deren Säfte verdorben seien, oft gesund erschienen, um dann plötzlich zusammenzubrechen. Der Kaiser wurde zwar zusehends schwächer und litt unter vorübergehenden Verstimmungen; aber im ganzen war er heiter und zufrieden und bereitete sich auf einen langen Aufenthalt im Kloster vor. Sein Feind war die unordentliche habsburgische Eßlust, wie der Beichtvater einer österreichischen Prinzessin es ausdrückte. In dieser Beziehung halfen bei Karl keine Warnungen: er konnte nicht aufhören, sich an den Aalen, Forellen und Austern zu delektieren, mit denen die Anhänglichkeit der Familie und der Granden ihn versorgte. Oft und oft langten Maultiere an, die mit den Dingen, die er liebte, beladen waren; bald waren es Katzen oder Papageien, bald Leckereien. Im Februar des Jahres 1557 war er fröhlich in Yuste eingezogen; an einem der letzten Augusttage 1558 saß er angegriffen und etwas fiebernd auf einer Altane, die die Sonne beschien. Er bedurfte immer irgendeiner Wärmequelle; war es nicht die Sonne, mußte es ein Feuer im Kamin oder die mit Eiderdaunen wattierte Jacke sein, die seine Tochter ihm geschenkt hatte. Nun saß er in der Sonne und betrachtete lange ein Bild der Kaiserin, die vor zwanzig Jahren gestorben und die ihm das Liebste auf Erden gewesen war. Es war der letzte Tag, den er im Freien zubrachte, einige Wochen später starb er bewußt und gefaßt. Sein Wunsch war, neben seiner Frau in Granada bestattet zu werden, wo er die ersten Tage des Glücks an ihrer Seite erlebt hatte; aber Philipp übertrug die Gebeine seiner Eltern in das von ihm gegründete Kloster Escorial. Kurz vor seinem Ende hatte er noch den Tod seiner Schwester Eleonore erleben müssen, die er geliebt und doch seinen politischen Plänen geopfert hatte. Einige Wochen nach ihm starb auch seine Schwester Maria, die kurz zuvor noch zu seiner Freude eingewilligt hatte, die Regentschaft in den Niederlanden wieder zu übernehmen.

Es ist überliefert, daß der Kaiser, als er nach der Schlacht bei Mühlberg in Wittenberg weilte, mit seinem Gefolge die Stiftskirche besucht habe, und daß Alba am Grabe Luthers seinem Herrn geraten habe, die Gebeine des großen Ketzers herausreißen zu lassen. Das habe Karl abgelehnt mit den Worten, er führe Krieg mit den Lebenden, nicht mit den Toten. Diese beiden Mächtigsten ihrer Zeit, der vornehme Herr der großen Welt und der sächsische Bauer, wie Luther sich gern nannte, waren sich doch in manchen Punkten ähnlich. Beide hatten einen gebrechlichen Körper, den sie mit Willenskraft beherrschten, beide wurden in ihren späteren Jahren so oft von Krankheit heimgesucht, daß man von Pausen der Gesundheit sprechen könnte. Die Schwermut war bei Karl ein stetig begleitender Schatten, bei Luther verdichtete sie sich zu krampfhaften Anfällen. Hätte Luther nicht die Klöster zerstört, so würde es ihn vielleicht auch gelockt haben, sich dort vor der Welt zu verbergen. Menschen, die eine große Idee vertreten und eine schwere Verantwortung tragen, Kämpfer, die aus mancher Wunde bluten, mögen immer einige Züge gemeinsam haben. »Im Himmel, auf Erden und in der Hölle bekannt«, hat Luther in seinem Testament von sich gesagt. Er war sich seiner Majestät bewußt, so gut wie Karl V.; aber wie dieser deutete er nur selten auf den Stern auf seiner Brust.

Allmählich wurde die Bühne leer, auf der so leidenschaftlich gerungen worden war; die Mitkämpfer auf beiden Seiten, die Zeugen der großen Epoche, verschwanden. Schon im Jahre 1539 war der erbitterte Feind Luthers, Herzog Georg von Sachsen, gestorben, einer der tüchtigsten unter den deutschen Fürsten, nachdem auch er sich, vom Unglück getroffen, in zweideutige Handlungen verwickelt hatte. Als sein ältester Sohn kinderlos starb, entschloß er sich dazu, den jüngeren zu verheiraten, obwohl er geisteskrank war, damit er, wenn doch vielleicht ein Sprößling erzielt würde, das Herzogtum nicht seinem protestantischen Bruder überlassen müßte. Da auch dieser Sohn bald nach der widernatürlichen Heirat starb, dachte er daran, sein Land dem Hause Habsburg zuzuwenden, wurde aber durch den Tod an der Ausführung des gewagten Planes verhindert.

Martin Butzer begab sich, da er das Interim nicht annehmen wollte, nach England, um an der Hochschule von Cambridge Vorlesungen zu halten. Er hatte schon seit längerer Zeit Beziehungen zum Erzbischof Cranmer, verlebte nun fröhliche Stunden als dessen Gast, den englischen Freundeskreis durch deutsche Lieder und Gesänge erfreuend, an denen sie großes Wohlgefallen hatten. Der 60jährige Butzer war immer noch ein schöner Mann und gewann die Gunst der vornehmen englischen Damen; aber er vermißte die deutsche Wärme und die ganze deutsche Behaglichkeit, die zu schaffen Frau und Töchter ihm nach England folgten. Der junge König Eduard, der sich Butzers Schüler nannte, schenkte ihm Geld zu einem deutschen Ofen. Immer lebendig aufnehmend und erlebend studierte Butzer die öffentlichen Einrichtungen Englands, fand, daß Volksschulwesen, Gefängniswesen, Gesetzgebung, Ackerbau und Künste noch sehr im argen liegen und meinte, daß England besonders zur Industrie geeignet sei und durch sie groß werden könne. Seine erste Vorlesung über den Epheserbrief wurde von Professoren und Studenten aller Fakultäten besucht. Er starb im Jahre 1551 und wurde in der Kirche von Cambridge beigesetzt. Fünf Jahre später, als die katholische Maria zur Regierung gekommen war, wurden seine Gebeine aus dem Grabe gerissen und verbrannt. Sein Freund und Beschützer, der Erzbischof Cranmer, mußte lebend den Scheiterhaufen besteigen.

Den Tod der Maria von England, seiner Schwiegertochter, erlebte Karl V. noch in San Yuste und begrub damit die Hoffnung, die ihn so sehr beglückt hatte, den alten Glauben in England wiederhergestellt zu sehen. Elisabeth, die Tochter der Anna Boleyn, war an den neuen gebunden, auf Grund dessen ihr Vater die Ehe mit ihrer Mutter hatte schließen können.

Das Trauerspiel, wie Erasmus den Einbruch des Luthertums zu nennen pflegte, war beendet, die Spieler, die es aufgeführt hatten, waren versunken. Es waren keine Marionetten gewesen, die eine Hand am Drahte hin und her rückt; es waren Menschen von Fleisch und Blut, die die vom Schicksal ihnen zugelosten Rollen mit Worten ihres Herzens durchführten, mit ihren Irrtümern, ihrer Lust und ihren Schmerzen erfüllten und mit ihrem bitteren Tod besiegelten. Nun sie dahin waren, wurden ihre Namen Fluch oder Segen auf den Fahnen der neuen Generation. Es war ein Geschlecht, das in eine verworrene, nur notdürftig geschützte Welt eintrat, eine andere nicht kannte. Es gehörte einer Partei an, der es um so fester verschworen war, je weniger es die gegenseitigen Rechte untersuchte. Katholiken und Protestanten fingen an, sich zu hassen, fast ohne sich zu kennen. Je mehr sie aufhörten, sich mit Gründen zu bekämpfen, desto ungeduldiger zuckte ihre Hand nach den Schwertern.


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