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Humanisten und Mönche

Wie eine Landschaft zuweilen vor anderen mit Früchten gesegnet ist, so bringt sie auch zuzeiten eine besonders große Anzahl außergewöhnlicher Menschen hervor, eine überschwengliche Ernte, der vielleicht langdauernde Unfruchtbarkeit folgt. Westfalen und der obere Rhein waren im 15. Jahrhundert so ergiebig, namentlich das Gebiet des Oberrheins war erfüllt von der Heiterkeit und dem Brausen geistigen Lebens. Die Schule von Schlettstadt leitete Jakob Wimpheling, am Dom von Straßburg predigte Geiler von Kaisersberg, an der Universität Freiburg lehrte Ulrich Zasius. Diese und viele andere Männer, um die Mitte des Jahrhunderts geboren, waren durchdrungen vom Bewußtsein der Notwendigkeit einer Reform, die darin bestehen sollte, daß durch die auf allen Gebieten wuchernde Verwilderung, durch den aufgehäuften Wust von Mißbräuchen und Verzerrungen durchgebrochen werden müsse zu den reinen Quellen, aus denen die Religion, das Recht, die Sprache, die Sitten geflossen wären, hauptsächlich zur Heiligen Schrift. Dort sollte man die christliche Lehre aus dem Munde des Heilands vernehmen anstatt aus den durch die Spitzfindigkeit der Scholastik verdunkelten Lehrbüchern oder aus den mit sinnlosen Wundergeschichten zur Unterhaltung ausgeschmückten Legendensammlungen. Das römische Recht sollte man aus den von Justinian gesammelten Rechtsbüchern, nicht aus den verunstaltenden Kommentaren des Mittelalters, die alten Sprachen sollte man aus den Werken der klassischen Schriftsteller studieren. Um das gegenwärtige Leben des deutschen Volkes aufzuhellen, wollten sie zu seinen Ursprüngen zurückkehren und in der Vertiefung in seine ruhmreiche Vergangenheit den Glauben an seine Zukunft gewinnen.

Viele von diesen älteren Humanisten waren niemals in Italien gewesen, und mochten sie auch von der großartigen Bewegung des den Deutschen so eng verbundenen Landes berührt sein, so waren sie doch mehr beeinflußt von der in der Stille erwachsenen Lebensauffassung und Unterrichtsart der ›Brüder vom gemeinsamen Leben‹, die in den Niederlanden entstanden waren und in der Schule von Deventer eine Stätte weitreichender Wirksamkeit gegründet hatten. Italien wirkte auf das lebhaft erwachende Interesse an der deutschen Geschichte weniger durch den dortigen Patriotismus und die bewunderten Vorbilder der Antike als durch seine Verachtung der Deutschen. Vielleicht war der tiefste Grund für dies neue Interesse die Tatsache, daß eine Epoche abgelaufen war, der eine auf wesentlich verschiedener Grundlage sich entwickelnde folgen mußte, daß man in einer Stunde lebte, wo eine Entwicklung sich geschlossen hatte, wo auf göttlichen Wink die Hülle vom gegossenen Bilde fällt und es rund und blinkend vor allen Augen dasteht, nicht mehr fließend, sondern fertig für die Ewigkeit. Dies war gerade den Humanisten des Oberrheins nicht bewußt, sie wollten vielmehr den Schutt wegräumen, damit das alte Fundament zum Vorschein käme und richtig an das Alte anschließend weiter gebaut werden könne. Aber ein Stachel war es ihnen, daß die Deutschen von den kultivierteren Nachbarn als Barbaren bezeichnet wurden. Poggio zum Beispiel, der als Teilnehmer des Konzils sich in Konstanz aufgehalten und in deutschen Klöstern nach alten Handschriften gefahndet hatte, schrieb in einem Brief, die Deutschen seien einst ein kriegerisches Volk gewesen, jetzt wären sie nur stark im Essen und Trinken. »Sind das Menschen?« sagte er: »Gute Götter, schlaftrunkene, blöde, schnarchende Geschöpfe sind es, niemals nüchtern, den Menschen und Gott verhaßt! Ob sie leben oder tot sind, kann man nicht unterscheiden, wenn sie von Wein und Speise überwältigt daliegen.« Ein anderer Italiener nannte Deutschland eine Räuberhöhle, in der die Edelsten vom Adel die Räuber wären. »Leben ist hier gleichbedeutend mit Saufen.« Die Barbarei des Geistes sei unglaublich, Freunde der Wissenschaft seien äußerst selten, Freunde der Eleganz gebe es überhaupt nicht, für das Studium der Humanität fehle es an Fassungskraft. Unter solchen Barbaren wohne keine Muse. Derartigen Beschimpfungen sollte ein Bild glanzvoller Vergangenheit, großer Taten deutscher Helden entgegengestellt werden. Aus ähnlicher Stimmung heraus hatte im Anfang des Jahrhunderts Dietrich von Niem, ein Westfale, der im Dienste des Papstes in Italien lebte, die ersten Züge zu einer deutschen Geschichte entworfen. Er zuerst bezeichnete auch die Deutschen als Nation, das Wort im völkischen Sinne gebrauchend. In einer Zeit beginnender Auflösung ermutigte er sich und sein Volk durch die Erinnerung an das Heldenzeitalter des Reiches unter den großen Kaisern, von denen er Otto I., Magnus Augustus, am höchsten verehrte. Heraufbeschworen durch den Unwillen über eine trübe gewordene Gegenwart, zogen sie vorüber, die blonden Sachsenkönige, die dämonischen Staufer, die geharnischten Ritter, eine gottgeweihte Schar, die ihren Kaiser über die Alpen geleitete, den Westen schützte und den Osten eroberte. Seine Auffassung hat Nikolaus von Cusa und die Humanisten beeinflußt. Jakob Wimpheling, in der elsässischen Reichsstadt Schlettstadt geboren, versuchte als erster nach ihm eine Darstellung deutscher Geschichte unter dem Titel Epitome rerum Germanicarum. Die Herrlichkeit des Imperiums, die völkerbezwingenden Waffentaten ließ er ausmünden in die Zeit der Erfindung Gutenbergs, wo die Hand, die das Schwert führte, im Buchdruck das Wort verbreitete und verewigte, wo der Barbar dem Abendlande eine Waffe schenkte, die nicht tötet, sondern lebendig macht, den Samen der Bildung in die Furchen der Zeit streut. Wimpheling hat eine eigene Schrift über die Kunst des Buchdrucks verfaßt, die göttliche Kunst oder die deutsche Kunst, wie man sie schlechtweg nannte. Er frohlockte über die große Zahl der meist deutschen Buchdrucker, die in fast allen Ländern, dankbar aufgenommen, Werkstätten errichtet hatten. Indessen war Wimpheling nicht blind für die Fehler seiner Landsleute, die mißgünstige Beobachter zu dem Vorwurf der Barbarei berechtigten. Er lobte sie als tapfer, treu, wahrheitsliebend, aber er tadelte ihre Trunksucht und daß der Adel, nur am Kriege und an der Jagd seine Lust findend, sich zu gut hielt, um Bildung des Geistes zu erwerben. Der Adel war gewohnt gewesen, daß seine kränklichen oder zarten Söhne, die lieber über den Büchern als auf dem Rücken der Pferde saßen, dem geistlichen und damit dem gelehrten Stande geweiht wurden; das, was er für einen Mangel ansah, machte sie zu Gelehrten. Das sollte nun anders werden, seit Bildung die Aufgabe hatte, alle in den Menschen gelegten Keime zur Entfaltung zu bringen, einen edlen, vernünftig urteilenden, die äußere und innere Welt nach allen Beziehungen überblickenden Menschen zu formen. Gerade im Westen, an der französischen Grenze, wo man dem Angriff sowohl wie der Verführung unmittelbar ausgesetzt war, konnte sich das Bewußtsein des Deutschtums leidenschaftlich steigern.

Seit es ein Frankreich gibt, hatte Frankreich mit brennender Eifersucht auf das Nachbarvolk geblickt, das Träger des Kaisertums geworden war, wozu sich Frankreich, das Karl den Großen ebenso für sich in Anspruch nahm wie Deutschland, das sich sogar nach seinem Stammesnamen nannte, ebenso berechtigt hielt. Kaum war durch Beendigung des englisch-französischen Krieges Frankreichs Kraft frei geworden, so suchte es von neuem, wie es schon vor diesem Kriege getan hatte, die angeblichen Ansprüche zu verwirklichen, sei es durch kriegerischen Überfall, sei es durch Bestechung. Nachdem im Jahre 1444 der Dauphin, der spätere König Ludwig XI., Straßburg belagert hatte, entstand dort eine französische Partei, die den Anschluß an Frankreich wünschte und von französischen Sendungen ermuntert und unterstützt wurde. Im Hinblick auf diese Verhältnisse richtete Wimpheling eine Schrift an den Rat von Straßburg, deren Zweck die Aufforderung war, in Straßburg ein Gymnasium zu gründen, deren eigentlichen Kern aber die Auseinandersetzung bildete, daß das linksrheinische Gebiet immer den Deutschen, niemals den Franzosen gehört habe, und daß Karl der Große ein Deutscher gewesen sei. Der Rat erhielt die in lateinischer Sprache verfaßte Schrift in deutscher Übersetzung. Man hätte sich nicht wundern können, wenn die Straßburger französische Partei die Schrift angegriffen hätte; anstatt dessen kam eine Entgegnung von ganz anderer Seite, von einem jungen Mann nämlich, der sich bisher als Anhänger Wimphelings gebärdet hatte, dem Franziskanermönch Thomas Murner. Er machte sich in der Germania nova über Wimphelings historische Beweisführung lustig, wozu er Ursache gehabt hätte, da die Quellenforschung trotz guter Absicht noch nicht sehr ausgebildet war, wenn nur seine eigene stichhaltiger gewesen wäre. Seine Kritik hatte die gute Folge, daß Wimpheling in seiner Entgegnung nunmehr die weit ausholenden künstlichen Gründe beiseite setzte und sich auf die Tatsache berief, daß »unsere Väter und Großväter, unsere Urgroßväter, Vorfahren und Ahnen Deutsche oder Alemannen gewesen sind, daß sie deutsch gesprochen, daß sie Männer von deutscher Art und Sitte gewesen«. Während der Straßburger Rat Wimphelings Schrift mit Dank, ja mit Begeisterung aufgenommen hatte, befahl er die Vernichtung der Murnerschen Entgegnung.

Die Fehde wurde von den Anhängern Wimphelings noch eine Zeitlang fortgesetzt. Es erschienen damals wohl schon Flugblätter und sogenannte Neue Zeitungen; aber Zeitungen im heutigen Sinne, wo die öffentliche Meinung sich täglich hätte äußern, wo auf allen Gebieten des Lebens das Für und Wider hätte besprochen werden, Gegner in Streitfragen sich hätten bekämpfen können, gab es nicht. Anstatt dessen teilten sich die Gelehrten ihre Ansichten und Entdeckungen in Briefen mit, die gesammelt und gedruckt wurden, oder sie bekämpften und verteidigten sich in Druckschriften. Wimphelings Getreue behandelten Murner wie einen Landesverräter; aber es scheint nicht, daß er im Auftrage oder nur im Sinne der französischen Partei Straßburgs aufgetreten war, sonst hätte Kaiser Maximilian, der so unermüdlich sein Leben lang die Sache des Reiches gegen Frankreich verfocht, ihn wohl kaum zum Dichter gekrönt. Was ihn eigentlich bewog, die politischen Behauptungen Wimphelings zu bestreiten, ist nicht recht ersichtlich; vielleicht lockte es den Witzigen und Spottlustigen, Wimphelings etwas schwerfälligen Kothurn ins Stolpern zu bringen, vielleicht ärgerte ihn als Mönch, der die Klosterschulen für die besten hielt, der Vorschlag, in Straßburg ein Gymnasium zu gründen. Überhaupt bestand ein Gegensatz zwischen der Welt- und der Klostergeistlichkeit: die Weltgeistlichen verachteten die Mönche wegen ihres Mangels an Kenntnissen, ihres abgeschmackten Aberglaubens und ihres Schwelgens in Sinnengenüssen, die Mönche wehrten sich mit dem Vorwurf der Ketzerei. Als Wimpheling in der Schrift De integritate gegen die Mönche zu Felde zog und als Beispiel dafür, daß man auch außerhalb der Klostermauern ein heiliges Leben führen könne, Augustinus anführte, der nie eine Kutte getragen und nie gebettelt habe, sprang Murner wieder in die Schranken, zieh Wimpheling der Ketzerei und verklagte ihn sogar als Feind der christlichen Kirche beim Papst Julius II. Nur wenige waren damals frei von der Neigung, einen Gegner durch die Denunziation der Ketzerei zu schrecken oder zu Falle zu bringen. Keine hatte so vernichtende Folgen; denn das letzte Glied der Kette war der Scheiterhaufen. Zu seinem Glück hatte Wimpheling vielvermögende Freunde: der Bischof von Straßburg, das Domkapitel, bedeutende Gelehrte setzten sich für ihn ein, worauf der Papst ihm nicht nur die Reise nach Rom erließ, wohin er bereits vorgeladen war, sondern sogar den Mönchen Schweigen auferlegte. Solche Verbote pflegten nicht beachtet zu werden.

Gegen die Weltgeistlichkeit vereint, bekämpften sich die Orden oft heftig untereinander, so die Dominikaner und Franziskaner wegen der unbefleckten Empfängnis der Maria. Ein merkwürdiger Mann, der mit den Humanisten in Beziehung stand, Vielschreiber, Sammler denkwürdiger Notizen, Liebhaber der Geheimwissenschaften, Johannes Trithemius, Abt des Klosters Sponheim bei Kreuznach, verfaßte im Jahre 1494 aus besonderer Vorliebe für Anna, die Mutter der Jungfrau, flink mit der Feder, wie er war, ein Werk in 13 Kapiteln über diese Heilige, deren Verehrung vermutlich aus dem von den Türken eroberten Byzanz ins Reich eingedrungen war, in dem er die Meinung verfocht, sie habe ihre Tochter ohne Erbsünde empfangen. Gegen diese schwer beweisbare Behauptung erhob sich ein Prediger des Dominikanerordens in Frankfurt am Main, namens Wigand Wirt, in einem an Trithemius gerichteten Brief. Der berühmte, an Bewunderung gewöhnte Abt stellte Wirt in seiner Antwort als einen Geisteskranken hin, der des Arztes bedürfe und den im Jenseits die ewige Verdammnis erwarte. Nach zwei Jahre lang geführter erbitterter Fehde mischten sich die Universität Köln und mehrere Theologen ein und entschieden, daß Wirt eine unehrerbietige Ansicht über die Geburt der Jungfrau habe und Trithemius um Verzeihung bitten müsse, daß aber beide Teile die Streitfrage ruhen zu lassen hätten. Wirt, dem das unleidlich war, wandte sich klagend an Papst Alexander VI., richtete aber nichts aus, da Trithemius die Mehrheit auf seiner Seite hatte: die Universitäten von Paris und Köln, mehrere Orden, mehrere Kardinäle und Erzbischöfe, viele Gelehrte und fast den ganzen Klerus von Deutschland. Die Verehrung der heiligen Anna, von der man bisher nicht viel Wesens gemacht hatte, wurde begierig wie eine neue Mode ergriffen. Als ein Frankfurter Stadtpfarrer die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariä auf der Kanzel besprach und die Dominikaner, die diese Lehre bestritten, als Verunehrer der Jungfrau angriff, konnte der zum Schweigen verurteilte Wigand Wirt nicht an sich halten; er stellte sich eines Tages der Kanzel gegenüber auf, um den Franziskaner durch unentwegtes Anstarren außer Fassung zu bringen. Wirklich, als dieser die Augen des Feindes dreist auf sich gerichtet fühlte, geriet er in Wut und schoß einen Pfeil ab, indem er sagte, er sei froh, nicht zu denen zu gehören, die den Kaiser Heinrich ermordet hätten; es war nämlich Überlieferung, daß Heinrich VII. in Italien an Gift gestorben sei, das ein Dominikaner ihm gereicht habe. »Du lügst«, schrie Wigand Wirt, »und hast deine Lüge wie ein Ketzer ausgespien.« Wieder entspann sich eine Fehde und gingen Klagen nach Rom, Wirt verfaßte ein bitterböses Büchlein, das der Erzbischof von Mainz verbrennen ließ. Die Dominikaner, die über die erlittene Niederlage um so erbitterter waren, als sie in gelehrten Disputationen über die Frage gesiegt hatten, beschlossen auf einem Ordenskapitel, das im Jahre 1506 in Wimpfen stattfand, sich durch eine großartige, gewagte Unternehmung Recht zu verschaffen. Ihr Plan war, die heilige Jungfrau selbst sich über die sie am nächsten angehende Angelegenheit im Sinne der Dominikaner aussprechen zu lassen. Einer Aussage aus so sicherer Quelle gegenüber, meinten sie, müsse jeder Widerspruch verstummen. Als Ort, wo die Einfalt des Volkes das Gelingen des Planes am ehesten gewährleiste, erschien ihnen die Stadt Bern geeigneter als Nürnberg oder Frankfurt. Vier Männer, die an der Spitze des Berner Dominikanerklosters standen, nahmen es auf sich, die Gottesmutter erscheinen zu lassen. Sie erprobten ihre Kunst zunächst an einem Schneidergesellen aus Zurzach, namens Jetzer, der kürzlich in das Kloster eingetreten war, der auch die Wunder, die sich ihm offenbarten, gläubig hinnahm, bis er einmal in der Stimme der Maria die des Priors erkannte und den Betrug durchschaute. Nicht abgeschreckt durch diesen Unfall, setzten die Unternehmer, nachdem Jetzer Schweigen gelobt hatte, ihr Spiel fort und ließen nunmehr die Jungfrau in der Kirche erscheinen und sich beklagen, daß die ketzerischen Franziskaner, die eine falsche Lehre über sie verbreiteten, noch in der Stadt geduldet werden. Die Zuhörer, von der Wimpfener Versammlung offenbar richtig beurteilt, zweifelten nicht an der Wirklichkeit der Erscheinung; aber von Jetzers Seite mehrten sich die Schwierigkeiten. Zwar hatte er sich durch Drohungen in den Betrug hineinziehen lassen, spielte aber ungern eine Rolle, die ihm viele Quälereien zuzog, denn er war auch stigmatisiert worden, und als die Brüder seinen Widerwillen merkten, wußten sie sich nicht anders zu helfen, als daß sie dem gefährlichen Mitwisser nach dem Leben trachteten. Einer vergifteten Suppe mit Not entronnen, entwischte er aus dem Kloster, stellte sich dem Rat und gestand das Vorgefallene. Nachdem die Untersuchungen seine Aussage bestätigt hatten, wurden die vier Schuldigen dem weltlichen Gericht übergeben und verbrannt. Jetzer wurde in einen Käfig gesperrt, entkam aber.

Vielleicht ist diese groteske Geschichte mit Ausschluß der Hinrichtung, welche wirklich im Jahre 1509 stattgefunden hat, nicht wahr. Vieles spricht dafür, daß die Erscheinungen der Jungfrau Erfindungen des frechen, hysterischen Jetzer, und daß die unglücklichen Mönche Betrogene waren, denen durch die Folter ein falsches Geständnis erpreßt wurde. Dann wäre aber bewiesen, daß die Mönche noch dümmer und abergläubischer waren, als man allgemein für möglich hielt, und daß sie in allen Kreisen aufs äußerste verhaßt waren; denn sonst wären sie kaum das Opfer eines so unverschämten Betruges geworden.

Jakob Wimpheling stand der mönchischen Streitfrage nicht etwa gleichgültig gegenüber, sondern war überzeugter Anhänger der unbefleckten Empfängnis. Geiler von Kaisersberg, die Posaune von Straßburg, den alle Humanisten verehrten, spickte seine Predigten mit unterhaltenden Histörchen, wie es üblich war; aber er tat es, um von der erhabenen Lehre, die den Kern seiner Predigt bildete, einen Übergang ins alltägliche Leben herzustellen. Dem entarteten mittelalterlichen Denken und Treiben der Mönche gegenüber fühlten sich diese älteren Humanisten durchaus als Vertreter der Vernunft und ihre Arbeit als eine Reinigung; die Grundformen von Staat und Kirche sollten dadurch aber nicht zerstört, sondern im Gegenteil durch die Säuberung deutlich sichtbar werden. Inmitten chaotischer Verhältnisse und Meinungen wiederholten sie die Lehre von der gemeinsamen Herrschaft von Papst und Kaiser, wie das Mittelalter sie aufgestellt hatte. Die Ansicht von der Suprematie der Konzilien, die das erste Viertel des 15. Jahrhunderts beherrscht hatte, war von den Humanisten aufgegeben, sie hielten die Alleinherrschaft des Papstes innerhalb der Kirche für erforderlich zum Wohl derselben. Auch an der Vorherrschaft des Papstes über den Kaiser hielten sie fest; außerhalb der römischen Kirche gebe es kein Kaisertum, lehrte Hug, Leutpriester in Straßburg, ja nach ihm war der Kaiser des Papstes Vasall. Geiler von Kaisersberg, Sebastian Brant, Wimpheling waren alle Hörer des berühmten Rechtslehrers Peter von Andlau gewesen, der an der Universität Freiburg römische Rechte las und in seinem Libellus de Caesarea Monarchia die Linien eines Reichs-Staatsrechtes zu ziehen versucht hatte.

Das Fundament des Reiches, so sagte er, bildet die Doppelherrschaft von Papst und Kaiser. Duo sunt quibus hic mundus principaliter regitur; scilicet pontificales auctoritas et regalis potestas. Dies sind die beiden hauptsächlichen Mächte, durch welche Gott beschloß und wollte, daß ihm die schuldige Ehre dargebracht werde und daß durch sie das menschliche Geschlecht mittels der Regeln des Rechts heilsam unterrichtet werde, das Böse zu vermeiden und das Gute zu tun. Der Papst hat die Suprematie über den Kaiser nach den von Innocenz IV. 1245 auf dem Konzil zu Lyon aufgestellten Sätzen. Allerdings kann auch der Papst abgesetzt werden, aber nur im Falle der Ketzerei, der Kaiser noch dazu, wenn er unnütz ist; so war Wenzel als »unnützer Entgliederer des Reiches« entthront worden. An der konstantinischen Schenkung, deren Echtheit Nikolaus von Cusa und Piccolomini bezweifelt hatten, hielt Peter von Andlau fest; bei der Krönung habe der Kaiser sie dem Papst zu garantieren. Daß die Nachbarländer längst selbständige Staaten geworden waren, mächtiger als das zerfallende Reich, hinderte Peter von Andlau nicht, dem Kaiser das Imperium mundi zuzuschreiben; die Loslösung jener Staaten sei, sagte er, eine Tatsache, kein Recht. Es hat etwas Erschütterndes, wenn er die Verse Vergils anführt von dem Caesar Augustus: »Der zu den Sternen den Ruhm, zum Ozeanus dehnet die Herrschaft – Jenseits Garamanten und Inder – Dehnt er das Reich«, als wären sie, die inzwischen als Übungen in der Schule gelesen wurden, die Posaunenklänge von einst, dem Triumphzug der deutschen Träger des universalen Gedankens vorantönend. Als herrschende Staatslehre trug er vor, daß mit dem Ende des Römischen Reiches Deutscher Nation das Ende der Welt hereinbrechen werde, wie es St. Methodius in seinem Buche De consumtione saeculi gelehrt hatte. Das Zepter wird nicht vom Römischen Reich genommen werden, bis der Antichrist erscheint. Alle Völker werden sich dann vom Römischen Reiche lossagen. Alsdann wird der letzte Herr der Welt nach Jerusalem eilen, und an der Stelle, wo der König der Könige am Kreuze hing, wird er, angetan mit dem Zeichen der kaiserlichen Würde, seine Krone und damit sein Reich und seine Herrschaft niederlegen. Dann stirbt der Kaiser, und mit ihm stirbt der Erdkreis, der ihm einst gehorchte.

Diesen merkwürdig seherisch geheimnisvollen Worten lauschten die Söhne einer neuen Zeit, auf denen die Ahnung des Untergangs lastete. Sie vernahmen sie in den knappen, festverschränkten Sätzen der lateinischen Sprache, die etwas Unumstößliches zu verkünden schienen. Es war für sie kein Widerspruch, daß sie gleichzeitig den Gebrauch der deutschen Sprache förderten, obwohl sie selbst sich des schriftlichen Ausdrucks in ihr nicht sicher fühlten. Römische und deutsche Geschichte, lateinische und deutsche Sprache, das bildete höchstens einen solchen Gegensatz, der ein fruchtbares Zusammenwirken in höherer Einheit vorbereitete.

Eher ablehnend verhielten sich die Humanisten zu Peter von Andlaus Hochschätzung des römischen Rechts. Mehrere von ihnen hatten anfangs die Rechte studiert, sich aber enttäuscht davon zurückgezogen, fast alle waren den Juristen und dem römischen Recht feind, verteidigten das deutsche. Peter von Andlau dagegen erwartete von der zunehmenden Kenntnis des römischen Rechtes nicht nur eine Verbesserung des Rechtszustandes im Reich, sondern im Zusammenhang damit die allgemeine Reformation, nach der alle strebten und sich sehnten. Denn das römische Recht würde die kaiserliche Macht verstärken, also diejenige Lösung des Problems herbeiführen, die allgemein als die Vorbedingung der Reformation betrachtet wurde. Die Willkür würde auf allen Gebieten dem Gesetz und der Ordnung weichen. Darin stimmten die Humanisten mit Peter von Andlau und Ulrich Zasius, den beiden großen Juristen, überein, daß sie das Ansehen des Kaisers erhöht sehen wollten und daß sie als Quell der Erneuerung die Wissenschaft, die Erziehung, die bessere Einsicht ansahen.

Der bedeutendste Mann, der diesen Gedanken in literarischen Werken entwickelte und in seiner Persönlichkeit darstellte, war Erasmus von Rotterdam. Sein Geburtsland war dem Reich entfremdet, blieb ihm aber doch durch Stammverwandtschaft, gemeinsame Geschichte und geistige Strömung verbunden, wie denn auch Erasmus nach langen Wanderungen sich in Deutschland am meisten heimisch fühlte und es sein Vaterland nannte. Erasmus war konservativ wie alle die älteren Humanisten, insofern er einen Umsturz des Bestehenden nicht wollte; aber weiteren und freieren Geistes, war er viel kühner, witziger und treffender in der Bekämpfung des Überalterten und Versumpften. Das ungeheure Aufsehen, das seine Werke erregten, und die Vergötterung seiner Person, heute nicht leicht zu verstehen, erklären sich am ehesten, wenn man ihn als die erste Erscheinung eines germanischen Menschen ansieht, der ganz frei von Vorurteilen der Kirche und des Staates, allen Bindungen, an die man gewöhnt war, von seiner Natur, seiner Einsicht, seinem Empfinden sich leiten ließ. Er wollte eine Revolution, aber eine geräuschlose, die nicht zertrümmerte, sondern durch einen ätzenden Hauch, der von ihm ausging, den Kitt zwischen den Fugen auflöste und durch ein fröhliches Gelächter den Schutz der Feierlichkeit und Unantastbarkeit von den unbrauchbar gewordenen alten Ordnungen, gleichsam Verkehrsstörungen, wegblies. Er war ein moderner Mensch, insbesondere könnte man ihn einen Menschen des 18. Jahrhunderts nennen, wenn auch die Beziehung zum Göttlichen im Mittelpunkte seiner Weltanschauung stand. Das war nicht nur eine Folge seiner Erziehung und Umgebung, sondern ihm natürlich; er verehrte Gott als den Schöpfer aller Dinge und den Geber alles Guten, als die Vernunft und den Geist des Friedens, der den Menschen zur Vervollkommnung berufen hat und führt. Er sah nicht so sehr Böses in der Welt als Torheit und Vorurteil, die durch Lachen und bessere Einsicht überwunden werden können. In einer Welt, die voll von plumpem Aberglauben, von Verfolgungswut, pedantischer Beobachtung halbverstandener Zeremonien und krassem Sinnengenuß war, führte er ein gebildetes Christentum ein, dessen Grundlage das Leben und die Worte des Erlösers waren. Aus ihnen sollte man Ergebung in den göttlichen Willen, Sittenreinheit, Hilfsbereitschaft gegen Schwache und Kranke und Duldung der Andersgearteten lernen. In der klaren Luft der durch Erkenntnis geläuterten Welt würde das Böse und Häßliche, würde der Irrtum nicht gedeihen können. Christus war der Erzieher zur Humanität. Der Eindruck, den diese geglättete, der menschlichen Vernunft entgegenkommende Religiosität auf die Zeitgenossen, namentlich auf die Humanisten, hervorbrachte, war außerordentlich. Man glaubte, das Ideal, das man erstrebte, die Verschmelzung von Christentum und Antike, in den Gedankengängen und in der Person des kleinen zarten Gelehrten verwirklicht zu sehen.

Die Kirche konnte Erasmus keine Häresien nachweisen, denn er hütete sich, Glaubenssätze anzugreifen; aber sie spürte an ihm die ganz feine und darum sehr gefährliche Ketzerei. Seine Art, den ganzen Betrieb der Kirche zu verspotten, mit einer liebenswürdigen Bewegung beiseite zu schieben unter dem Beifall aller Gebildeten im Reich, ja im Abendlande, erbitterte sie. Indessen er war unangreifbar, überall von Freunden und Verehrern umgeben. Er lebte auf einem Stückchen Welt, das sich, von seinem hellen freundlichen Geist beschienen, weiter und weiter auszubreiten und über den vorsintflutlichen Riesendrachen Kirche hinwegzuwachsen schien.


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