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Kultur

Nicht Sebastian Brant allein witterte Verfall und Untergang, aber kaum einer hat der bangen Ahnung so bestimmten Ausdruck gegeben wie er in seinem großen Brief an seinen Freund, den Patrizier und Humanisten Peutinger in Augsburg. Er sieht die drohenden Vorzeichen, die andere nicht bemerken. »Keine besseren Zeiten werden kommen, im Gegenteil, ich fürchte schlimmere, da ja alles zu Verderben und Sturz sich hinneigt!« Ein Gefühl war verbreitet, wie es die Kreatur vor einem Gewitter oder Erdbeben beschleicht, als verdunkle sich das Licht, als senke sich der Himmel tiefer als sonst hinab, als höre die Natur auf zu atmen.

Diese Ahnung unabwendbaren Unheils bemächtigte sich der Deutschen zu einer Zeit hoher kultureller Blüte, deren Pracht die Nachkommen zum Neid auf ein so harmonisches Zusammenwirken geistiger Kräfte bewegt. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts sagte Enea Silvio Piccolomini, Deutschland sei noch nie so reich und glänzend gewesen, und andere sagten dasselbe mit ähnlichen Worten. In den hundert Jahren von 1450 bis 1550 ist, mit Ausnahme der Kirchen, das meiste von dem entstanden, was wir heute als Zeugnis des schönen mittelalterlichen Stadtbildes bewundern. Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts und im Laufe des 16. bauten sich fast alle Städte neue Rathäuser oder bauten wenigstens die älteren um, bauten die Zünfte sich neue Versammlungshäuser, die Patrizier und die Handwerker sich Wohnhäuser, die ihrem vermehrten Wohlstand, ihrem verfeinerten Geschmack, ihrem zunehmenden Bedürfnis nach Bequemlichkeit entsprachen. Überall in Deutschland, wo nicht Krieg oder Feuer oder Großstadtbedürfnis zerstört haben, treffen wir auf den mittelalterlichen Kern, der durch seinen malerischen, Auge und Gemüt befriedigenden Charakter so merklich von der modernen Umgebung absticht. Das ist keine Wohnstätte, sondern Heimat; es scheint, als ob glücklichere Menschen hier gelebt haben, die wußten, daß draußen Kampf und Ruhm ist, daß aber das Glück im Innern des Herzens und im Innern des Hauses gesucht werden muß.

Das Fachwerkhaus mit seinem phantastisch vergitterten Holzgerüst mahnt an die Wälder, deren Rauschen einst die deutschen Lande erfüllte, und atmet ihr würziges Aroma in die Straßen aus. Der hohe Giebel und das breite Tor erinnern an das Bauernhaus, das mütterlich schirmend mit dem Menschen zugleich das Vieh und den herbstlichen Vorrat umfaßt. Aus dem Jahre 1526 stammt das imposante Knocherhaueramtshaus am Marktplatz in Hildesheim, das mit der rhythmischen Steigerung seiner Stockwerke wie eine Fuge sich entfaltet und, ohne etwas von der bäuerlichen Geborgenheit zu verlieren, einen monumentalen Baugedanken verkörpert. Die Rathäuser, meist am Anfang des 15., zuweilen schon zu Ende des 14. Jahrhunderts begründet, wurden nun erweitert und geschmückt. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts erhielt das Rathaus der Braunschweiger Altstadt die letzten Laubenvorbauten, durch die das ernste Gebäude in ein Feenschloß verwandelt wurde. Ebenso erhielt das zu Ende des 14. Jahrhunderts errichtete Rathaus zu Wesel seine stolze Fassade hundert Jahre später. Das Rathaus, dem Kaiser geweiht, wie die Kirche Gott, stand in den Grenzen der Weltlichkeit an Würde und Weihe der Kirche nah. Das Recht kommt nach germanischer Auffassung von Gott, wie es der Sachsenspiegel in den bekannten Worten zum Ausdruck bringt: »Gott selbst ist das Recht, und darum ist ihm das Recht lieb.« Die Grundlage alles irdischen Rechtes ist das natürliche Recht, das Gott den Kreaturen gegeben hat und das allen Satzungen und Gewohnheiten vorgezogen werden muß. Wie die sittliche Ordnung ist es vorhanden gewesen, ehe es einen Staat gab. Durch den Kaiser konnte die Gerichtshoheit den Gliedern des Reiches verliehen werden und besaßen sie die Städte. Ihre Verleihung vollendete die Reichsunmittelbarkeit und war das ersehnte Siegel der Freiheit, gewährte Sicherheit vor den Ansprüchen der Landesherren. In vielen Städten sächsischen Rechts waren sogenannte Rolande als Kennzeichen der Gerichtshoheit den Rathäusern vorgebaut; sie trugen das Schwert zur Handhabung der Gerechtigkeit und zuweilen in der Gürtelschließe das Bild eines Engels mit der Laute als Symbol für den göttlichen Ursprung des Rechtes. Die malerische Ausschmückung im Inneren der Rathäuser pflegte auf alle diese Beziehungen hinzuweisen, etwa durch den Reichsadler oder Bilder der Kaiser oder durch Darstellungen aus der Heiligengeschichte oder der sogenannten Neun guten Helden, nämlich drei heidnischer, drei jüdischer und drei christlicher. In den Ratssälen und Gerichtslauben von Köln, Lüneburg, Goslar und vielen anderen umfängt den Eintretenden, als wäre Weihrauch in der Luft, das Gefühl der überirdischen Bestimmung.

Neue Kirchenbauten wurden im 15. Jahrhundert nur selten unternommen; in Augsburg entstanden zum Beispiel im letzten Viertel mehrere Klosterkirchen und die Kirche Sankt Ulrich und Afra, deren Einweihung in Gegenwart der beiden großen Gegner Kaiser Maximilian und Berthold von Henneberg stattfand. Anbauten erhielten verschiedene Kirchen, so der Dom von Münster die Fassade des einen Querschiffs mit dem herrlichen gotischen Fenster. Wurden neue Kirchen nicht errichtet, so füllten sich doch die alten um die Mitte des 15. Jahrhunderts mit den Altären, Grabmälern, Epithaphien, deren farbiges Gedränge uns den Eindruck einer heiligen, Ahnen und Enkel umfassenden Wunderwelt vermittelt, in der der einzelne willig versinkt. Wenn wir jetzt in den Museen an dem schweigenden Volk der Verklärten vorübergehen, so bemerken wir als Ursprungsjahr meistens Jahreszahlen zwischen 1470 und 1520. Unzählige Bilder und Statuen sind darunter, deren Meister nicht bekannt sind, die aber hochentwickelten Kunstsinn und Kunstfertigkeit verraten und die durch Lieblichkeit und beseelten Ausdruck sich tief einprägen. Denkt man dann an die Meisterwerke der Epoche, den Isenheimer Altar von Grünewald, den Freiburger Altar von Baldung-Grien, die Schnitzaltäre von Tilman Riemenschneider und Michael Pacher, die Bildnisse von Dürer, Cranach und Holbein, so glaubt man die schöpferische Kraft des deutschen Volkes gesammelt zu sehen, um das Höchste, was ihm geoffenbart wurde, in vollkommener Form zu schaffen.

Wie die Kirchen sich mit Kunstwerken füllten, so die Häuser mit künstlerisch gearbeitetem Gerät, das nicht nur der Hand bequem, sondern auch dem Auge eine Lust sein sollte. Gerade die geschmackvolle Durchbildung der zum täglichen Gebrauch bestimmten Gegenstände zeigte die Höhe der Kultur, wenn anders Kultur ausgleichend ist, so daß ihre Güter nicht eine einzige oder einige wenige Stellen gleichsam als wunderbare Auswüchse schmücken, sondern allenthalben verteilt sind. Wie die einst so unwirtlichen Ritterburgen durch Teppiche, Truhen und Bilder wohnlich gemacht wurden, so zeigte sich auch in den Dörfern an Kirchen, Häusern, Brunnen und Wegkreuzen die Freude am Schönen. Die neuerfundene Kunst des Buchdrucks brachte auch den Ärmeren Anregung und die erwünschten Nachrichten vom Weltgeschehen durch Flugschriften. Schon am Ende des Jahrhunderts waren in fast allen namhaften deutschen Städten Druckereien in Tätigkeit. Die großen Verleger, die Koberger in Nürnberg, die Froben in Basel, die Quentell in Köln und Lufft in Wittenberg waren hochgebildete Männer, die durch ihre Arbeit ebenso wie sich selbst und nicht selten mehr als sich selbst Deutschland und die christliche Welt bereicherten. Sie haben dem Buchhandel die ehrenvolle Bahn vorgezeichnet, die ihre Berufsgenossen Jahrhunderte hindurch innegehalten haben. Die Bücher, die sie herstellten, schlossen sich zunächst noch der Art der geschriebenen an, ihr Format war unhandlich, die Lettern waren groß und schön, fast jede Seite trug graphischen Schmuck. Von den Bibeln, die herausgegeben wurden, waren mehrere reichlich mit Holzschnittbildern versehen. Zur Zeit Maximilians war der Holzschnitt so entwickelt, daß bedeutende Künstler sich seiner bedienen konnten, um die anspruchsvollen Pläne des Kaisers auszuführen. Der Triumphzug und die Ehrenpforte, Verherrlichungen seiner Person und seiner Taten, rauschen so festlich vorüber, daß man schimmernde Farben zu sehen und Trompeten blasen zu hören meint. Hervorragende Künstler wurden sehr geschätzt, wenn auch nicht immer entsprechend bezahlt. Daß sie einer Zunft zugeteilt und dadurch dem Handwerk, der Arbeit und bürgerlichen Pflichten verbunden blieben, gehörte wieder zur ausgleichenden Kultur. Verschiedene Künstler haben hohe städtische Ämter bekleidet, so Altdorfer in Regensburg und Riemenschneider in Würzburg. Daß sie dem praktischen Leben sich nicht entfremden konnten, machte sie zu so tüchtigen männlichen Erscheinungen. Ermöglicht wurde der Umfang ihrer Leistungen durch den damals üblichen Schulbetrieb, der die Arbeit der Schüler in den Dienst des Meisters stellte.

Reich und glänzend stellten sich die deutschen Lande dem dar, der sie um die Jahrhundertwende durchwanderte, aber mitten im Überschwang konnte man Zeichen des Untergangs wahrnehmen. An die Vollendung der Leistungen selbst knüpfte sich wohl das Gefühl, daß alles, wie man sagte, zum Höchsten gekommen sei, die Ahnung, daß auf der eingeschlagenen Bahn kein Weitergehen möglich sei, daß der Lebensquell, aus dem das Abendland bisher sich gespeist hatte, ausgeschöpft sei. Aber nicht nur ein Versiegen oder Ausströmen tragender Kräfte machte sich geltend, sondern auch ein Vordringen von etwas Neuem, dem Alten Feindlichem; das war die Verweltlichung. Die große Spannung zwischen dem Himmlischen und Irdischen ließ nach. Noch zwar wiesen die Kunstwerke der Zeit die gotisch-germanische Linie auf, die wie ein zwischen Himmel und Erde zückender Blitz das Bild, indem sie es formt, entzündet. Im Fluge der Engel Dürers und Grünewalds bläst noch der Atem Gottes, der sie entsendete, die Gewänder der Heiligen sind gebauscht von der Erhabenheit überirdischen Schreitens und Schwebens. Ein Augenblick ist da, wo Himmlisches und Irdisches sich durchdringen und ewig gültige Meisterwerke entstehen. Das vermehrte Können ermöglichte den Künstlern, ihren Figuren mehr Beweglichkeit und der Bewegung mehr Natürlichkeit zu geben. Der Mensch erschien nicht mehr als der aus einer Welt des Mangels sehnsüchtig zur Herrlichkeit des Himmels Strebende, sondern als der Herr der Erde, die Krönung der Natur, der in sich Vollkommene. Die Schönheit des menschlichen Körpers begann den Künstler mehr zu interessieren als die Inbrunst seiner Seele. Mit Vorliebe wurde aller irdische Liebreiz über die Maria ergossen: eine mädchenhafte Frau, deren holdseliges Antlitz überhaucht ist von der reinen Flamme mütterlicher Liebe, so wie der Künstler sich die angebetete Geliebte als Mutter seines Sohnes vorstellen mochte. Hans Baldung-Grien hat den Marienmythus zu einem deutschen Märchen gemacht: von höchster irdischer Süßigkeit umwoben, wandelt das Königskind durch die Prüfungen, um endlich von seinem königlichen Vater und königlichen Sohn in die liebenden Arme aufgenommen und gekrönt zu werden. Schöne und würdige Altarbilder stellten doch nicht mehr heilige Handlungen, sondern zeremonielle Begebenheiten unter hochgestellten Personen dar, nicht weil sie Gewänder von Edelleuten tragen, sondern weil sie ganz und gar aus irdischer Luft heraus leben.

Die veränderte Auffassung des Menschen in der Kunst wurde von den Zeitgenossen bemerkt. Geiler von Kaisersberg klagte, daß die Maler jetzt, wenn sie ein Bild von Sankt Barbara oder Sankt Katharina machen sollten, Huren malten, die die Priester in der Andacht störten. Die Priester allerdings waren sehr bereit, sich stören zu lassen. Weltliche Gesinnung, das heißt Trachten nach allem, was die Sinnlichkeit, den Ehrgeiz, die Prachtliebe, den Machttrieb befriedigt, ist immer unter den Menschen vorherrschend; aber im Mittelalter wirkte ihr das Streben nach Heiligung entgegen, das im Vorbild der Klostergeistlichkeit und in der Lehre der Kirche, überall, sei es durch Wort oder Bild, gegenwärtig war. Daß die Geistlichkeit aufhörte, ein Vorbild übermenschlicher Tugend zu sein, im Gegenteil das Beispiel des Lasters war, trug sehr zur Ausbreitung der Sittenlosigkeit bei; denn diejenigen, die an ausgezeichneter Stelle stehen, werden von der Masse nachgeahmt. Der Zölibat, sicherlich immer hier und da umgangen, wurde nun offen verhöhnt. In manchen Klöstern wirtschafteten ganze Mönchsfamilien, und man erzählte sich von Haufen kleiner Knöchlein, die bei Frauenklöstern ausgegraben wären. Die satirischen Schriften der Zeit sind voll von Spott und Hohn über die Ausschweifungen der Geistlichkeit, die denen der Laien nicht nachständen. Im Maß, wie die Entwicklung der Geldwirtschaft und der kaufmännischen Betriebe die Möglichkeit dazu vermehrte, ergriff die Sucht, reich zu werden, alle Stände. Man konnte reich werden, wenn man etwas Geld zu wagen hatte, sich an einem kaufmännischen Unternehmen beteiligte, das oft großen Gewinn abwarf; hatte man keins, mußte man List oder Gewalt anwenden.

Es geht vom Geld eine anregende und wild aufregende, gemeinmachende Kraft aus. Wie ein Rauschmittel prickelt es auf, lähmt und entnervt, wie manche Gifte wirkt es heilsam in kleinen Dosen, aber da es reizt und niemals sättigt, wird die Grenze fast immer überschritten. Der Mensch ist immer schwach und bestechlich und war es auch im Mittelalter; aber mit Geld läßt sich Bestechung leichter handhaben als mit Naturalien. Schnell nahm die Bestechlichkeit zu, wurde mit großer Schamlosigkeit ausgeübt, und zwar in den höchsten Kreisen am meisten, wo mehr Geld zu vergeben war und mehr gebraucht und genützt wurde. Da Frankreich das reichste Land Europas war, wurden viele deutsche Fürsten heimlich und öffentlich Anhänger Frankreichs. Wie das Beispiel des Edlen, von oben gegeben, hebt, so verdirbt das Beispiel des Gemeinen. Auch die Bauern liefen dem Meistbietenden nach und führten etwa Krieg gegen die eigenen Landsleute. Hielten die Handwerker an dem alten Grundsatz fest, daß der Gewinn eine gewisse Grenze nicht überschreiten solle, damit eine annähernde Gleichheit der Lebenshaltung innegehalten werden könne, so machten sich doch auch unter ihnen die gesteigerten Ansprüche bemerkbar. Man machte sich die Erde zu einem angenehmen Aufenthalt, ohne zu fragen, was dafür zu zahlen war. Das Wort des Apostels: »Wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir«, verlor seine Geltung. Anstatt des Bundes mit dem Himmel schloß man einen Bund mit der Erde und feierte ihn durch Essen und Trinken. Wie Ausgehungerte stürzte man sich auf die Kannen und Schüsseln. Das war nicht das festliche Schmausen des Mittelalters, sondern Völlerei. Durch das selbstgefällig gepflegte Schlemmen und die Trunkenheit kam etwas Unflätiges in das Leben der Deutschen, das sie bei den mäßigen Romanen verächtlich machte. Es zeigte sich, daß das Natürliche sehr widerlich sein kann. Die Gelage und das unmäßige Trinken waren hauptsächlich eine Liebhaberei der Fürsten, ebenso die Jagd. Die Jagdleidenschaft erstickte in den Fürsten und Herren jedes Gefühl für Gerechtigkeit, das ohnehin den Bauern gegenüber gering war. Der Bauer, der sich des Wildes erwehrte, das seine Äcker beschädigte, wurde mit unmenschlichen Strafen, wie Ausstechen der Augen, bedroht. Überhaupt waren die Strafen grausamer und brutaler als die Verbrechen. Man weidete sich am Anblick der Todesqualen des Gegners und an Scheußlichkeiten der Justiz, von denen man heute nur mit Schaudern liest. Waren nun auch Roheit und Unsittlichkeit nicht ärger, als sie früher gewesen waren, so fielen sie doch mehr auf im Vergleich mit der verfeinerten und der wissenschaftlichen Bildung, die nebenherging. War es doch die Zeit, von der Hutten sagte: »Es blühen die Studien, die Geister regen sich; du nimm den Strick, Barbarei, und mache dich auf Verbannung gefaßt!« Und an anderer Stelle: »Mit der Barbarei ist es zu Ende; bisher wurden die Studien gering geachtet, jetzt kehrt man zu wahrer Gelehrsamkeit zurück, die Geister bilden sich.«

Auch hier hatte Nikolaus von Cusa einen großartigen Anfang gemacht. Von der durch die Bibel gewiesenen Ansicht ausgehend, daß die sichtbare Welt ein Bild des unsichtbaren Gottes sei, stellte er den Menschen die Aufgabe, die Natur zu erforschen, um dadurch soweit wie möglich zur Erkenntnis des an sich nicht erkennbaren Gottes zu gelangen. Er verwarf es dabei als unwürdig, sich auf Autoritäten zu stützen, das sei, wie wenn ein Pferd, anstatt frei sich seine Nahrung zu suchen, im Stalle fressen muß, was ihm in der Krippe vorgeworfen werde. Er verwarf sogar die Autorität des bis dahin fast heilig gehaltenen Aristoteles. So setzte die neue Macht, die Wissenschaft, sofort als selbstherrlich, furchtlos, rebellisch ein. Sie kam als Befreier, der Zweifel ging ihr als Herold voran. Dieser schwungvolle Anlauf blieb zunächst jedoch ohne Folge. Wenn Piccolomini von den Gelehrten und Adligen Deutschlands sagte, sie seien gute treuherzige Leute, aber sie liebten die Wissenschaft nicht nach seiner Weise, und ihre Lust sei nicht die seine, so urteilte er gewiß im ganzen richtig über die Deutschen seiner Zeit. Auch als es im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts anders wurde, waren doch die Italiener den Deutschen gegenüber sehr im Vorteil, schon weil die Sprache, um deren Reinigung es sich zunächst handelte, die ihrige war. Wie stolz sagt Lorenzo Valla: »Wir Römer haben die weltliche Herrschaft eingebüßt, aber kraft der glänzenden Herrschaft der Sprache regieren wir noch heute über einen großen Teil des Erdkreises: unser ist Italien, unser Frankreich, Spanien, Deutschland und viele andere Nationen, denn wo die römische Sprache herrscht, da ist römisches Reich.« In wie sonderbarer Stellung befanden sich die deutschen Humanisten, die diesem Stolz gegenüber den Gebrauch der deutschen Sprache fördern wollten, aber sich selbst nicht gut in ihr ausdrücken konnten. Die reinere Behandlung und tiefere Durchdringung der lateinischen Sprache, wie sie nun üblich wurde, hatte für Deutschland auch Nachteile. Einst waren durch das Einströmen germanischen Geistes in die ausgebildete lateinische Sprache Dichtungen von hinreißender Lebendigkeit entstanden: Hymnen, Trink- und Liebeslieder. Die gefeilten, nach klassischen Mustern gearbeiteten Verse der deutschen Humanisten verhalten sich zu jenen wie ausgestopfte zu lebendigen Tieren. Gregor von Heimburg sagte einmal schön, als man seine tullianische Eloquenz pries, schöner als nach Weise der Bienen Zerstreutes zu sammeln, sei nach dem Vorbilde des Wurms, der Seide aus seinem Eingeweide spinne, aus sich selbst heraus reden zu können. Er wolle jetzt das Studium der göttlichen Dinge betreiben, die nicht der Bewässerung durch die Fluten tullianischer Eloquenz, nicht der Redeblümchen Quintilians bedürften, sondern einer Rede, die die Sache erläutere, den Sinn kennen lehre, Dunkles aufhelle. Aber es ist nur selten, wenn überhaupt möglich, in einer fremden, erlernten Sprache Eigenes auf eigene Art zu sagen. Mochte je einmal einer von den gekrönten Dichtern vom Überschwang dichterischer Kraft erfüllt sein, Gestalt vermochte er ihm nicht zu geben. Wir begreifen diesen Dichtern gegenüber, daß Wimpheling sagte: Poesie sei ein Anhängsel der Grammatik und zu nichts gut, als die Silben zu messen. Es ist charakteristisch, daß die Dichterkrönung als greifbaren Gewinn das Recht einbrachte, an Universitäten die freien Künste zu lehren. Hervorragende Leistungen in der Poesie stellten den Dichter dem Gelehrten gleich, verdankte er sie doch seinem Fleiß und seinen gelehrten Kenntnissen.

Im Vergleich mit den italienischen Humanisten haftete den Deutschen etwas Spießbürgerliches, Beschränktes an. Zu einer Zeit, als in Italien die neubelebte Wissenschaft mit großartiger Naivität und stolzer Zuversicht gegen alles Bestehende anstürmte, konnte Enea Silvio Piccolomini Deutschland ein »gleichsam außerhalb der gebildeten Welt liegendes Land« nennen. Allmählich aber ersetzten deutsche Bedächtigkeit und Gründlichkeit das geistige Feuer und führten zu bedeutenden Leistungen. Das Studium der Sprachen wurde auf durchdachte Art betrieben, die Methode des Erlernens verbessert, Lehrbücher und Grammatiken wurden geschaffen. Auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, die auf den Universitäten von Bologna, Padua, Pisa und Pavia studiert wurden, kam der Anstoß von Italien; aber schon der Umstand, daß das römische Recht in Beziehung zum deutschen gesetzt werden mußte, bedingte eine besondere Entwicklung. Ulrich Zasius, das Haupt der deutschen Rechtslehrer, war durchaus nicht für kritiklose Übernahme des römischen Rechtes, er wollte es nur übernommen wissen, soweit es für Deutschland heilsam und seinen Sitten entsprechend sei, hauptsächlich in bezug auf die juristische Technik und die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Schon im Beginn des 15. Jahrhunderts wurde über das Fehlen allgemeiner leitender Grundsätze und über den Mangel an Einheitlichkeit im deutschen Recht geklagt. Nikolaus von Cusa, auf allen Gebieten führend, schlug vor, die provinziellen Gewohnheitsrechte aufzuzeichnen und allgemeine Rechtssätze aus ihnen abzuleiten. Soweit das Gewohnheitsrecht schlecht sei, solle es abgeschafft oder mit dem allgemeinen Gesetz der Natur und Vernunft in Einklang gebracht werden. Auch haben Aufzeichnungen der Stadt- und Landrechte seitdem vielfach stattgefunden; allein da das römische Recht gelehrt wurde und allgemeine Grundsätze enthielt, war es natürlich, daß diese übernommen wurden. Wo das deutsche Recht einigermaßen einheitlich und gut überliefert war, wie in Bayern und in den Hansestädten sächsischen Rechts, konnte das römische Recht nur langsam eindringen. Wie die anderen Gebiete des menschlichen Geisteslebens, so war auch das römische Recht durch einen Wust von Glossen und Kommentaren überdeckt und entstellt; das Zurückgehen auf die Quellen waren die wesentliche Tätigkeit und das größte Verdienst des Ulrich Zasius. »Vor allem will ich bekennen«, schrieb er, »daß ich allein von dem Texte der Quellen und von wahren und sicheren Gründen, die auf dem Recht oder der Natur der Sache beruhen, abhängen, nur auf diese mich stützen will.« Der Wirbelwind der Meinungen habe bei ihm nicht das geringste Ansehen, wenn er nicht auf den Quellen des Rechtes oder auf der klaren Vernunft beruhe.

In der Geschichte begann man gleichfalls auf die Quellen zurückzugehen, bemühte man sich um Feststellung der Tatsache, räumte man auf mit den grotesken Vorstellungen, die namentlich in bezug auf die Herkunft der Nationen und Dynastien mitgeschleppt waren. Daneben freilich entfaltete sich üppig wie je die Konstruktion einer deutschen Urgeschichte, die die deutsche Nation als zur Weltherrschaft berufen darstellen sollte: die heutige deutsche Sprache ist die älteste und wird einst alle anderen Sprachen verdrängen. Schon Adam, der ein deutscher Mann war, sprach sie, und durch Japhet, der vor der babylonischen Sprachverwirrung auszog, ist sie nach Europa verpflanzt worden. Es ist ein garstiger Fehler des Alten Testamentes, daß es von der Wanderung Japhets nichts berichtet; er ist zu Istein im Breisgau bestattet worden. Auch Alexander der Große war ein deutscher Held und Statthalter über das von den Deutschen unterworfene Griechenland. Jerusalem ist von den Deutschen gegründet. Die Amazonen stammen von den Sachsen ab. Die Deutschen waren, als die Söhne Japhets, auch die ersten Christen und haben bei Basel und Trier christliche Tempel gegründet. Das Gegenstück zu der Verherrlichung der Deutschen bildet eine entsprechend verächtliche Ableitung der romanischen und slawischen Völker. Solche Ausgeburten kindlicher Vaterlandsliebe waren dem Volke immer noch willkommen.

In einem merkwürdigen Gegensatz zu so wirrer Phantastik stehen die Leistungen der Deutschen auf dem Gebiete der Mathematik. Auch hier ist Nikolaus von Cusa führend. Weil er die Mathematik als die am wenigsten an die Sinnlichkeit gebundene Wissenschaft für am meisten geeignet hielt, ein Bild des Unendlichen zu sein, beschäftigte er sich besonders mit ihr. Er tat es zum Zweck besserer Erkenntnis Gottes, forderte aber auch eine exakte Wissenschaft, die sich, abgesehen von dem Urgrund, dem sie zum Bilde dient, der Erforschung des Bildes widmet. Mit besonderer Neigung und Begabung warfen sich nun die Deutschen auf das Studium der Mathematik, namentlich in ihrer Anwendung auf Astronomie und Geographie. Als Wunder des Jahrhunderts wurde Johannes Müller, nach seinem Geburtsort Königsberg bei Haßfurt Regiomontanus genannt, im Abendlande gefeiert. Er war Schüler des Georg von Peuerbach, der in Wien lebte und dessen Werk über die Planeten er herausgab. Nachdem Regiomontanus in Padua einen arabischen Astronomen erklärt und dann die Trigonometrie begründet hatte, ließ er sich in Nürnberg nieder und entfaltete dort eine großartige wissenschaftliche und praktische Tätigkeit. Er gründete eine Druckerei, in der die Werke des Altertums und Mittelalters über Mathematik und Astronomie, und eine Werkstatt, wo nach seiner Angabe Kompasse, Himmelsgloben, Karten hergestellt werden sollten und wurden. Dies war der Beitrag, den Deutschland zu den Entdeckungen der großen Seefahrer des Jahrhunderts lieferte. Durch Vorträge weckte er Interesse für seine Wissenschaft, das sich rasch zu leidenschaftlicher Anteilnahme steigerte. Die reichen Patrizier Nürnbergs förderten seine Unternehmungen, Bernhard Walther, ein Geschäftsführer bei der berühmten Firma Vöhlin und Welser, ermöglichte ihm durch seine finanzielle Hilfe die Gründung einer Sternwarte. Nach dem Tode seines Freundes setzte Walther seine Bestrebungen fort. Sowohl Peuerbach wie Regiomontanus sind jung gestorben. Der letztere starb im Jahre 1476 in Rom, wohin Sixtus IV. ihn berufen hatte, um ihn bei der Verbesserung des Julianischen Kalenders zu beraten. Drei Jahre vorher war Kopernikus geboren, dessen Werk De revolutionibus orbium celestium die Arbeit der beiden Vorläufer vollenden sollte.

Es waren anfangs keine umwertenden und umstürzenden Absichten mit diesen Arbeiten verbunden: die Kraft, die lange gerastet hatte, versuchte freudig, unermüdlich ihre Schwingen. Aber wie konservativ auch die Gesinnung und wie angemessen dem herrschenden Weltbilde auch die Leistung war, die Wissenschaft, die bescheiden nichts zu wollen schien, als zu den Quellen zurückzukehren, war doch die Macht, die den Anspruch in sich trug, die Welt umzuschaffen. Daß sie das Entartete beseitigen wollte, machte ihr den Zweifel zur Pflicht, die Reformation, deren Notwendigkeit auf allen Gebieten jeder einsah, verlangte Kritik alles Bestehenden. Da die Autoritäten, die Dekrete, das Herkommen die Menschen in ein fast unentwirrbares Netz von Übeln verstrickt hatten, suchte man einen zuverlässigen Grund in den Gesetzen zu finden, die in den Dingen selbst lägen. Als Führers bediente man sich der Vernunft und der Natur der Dinge. Die Wissenschaft löste langsam die Welt des Augenscheins, aufgenommen und aufgebaut von den Sinnen, als ein großartiges, die Menschheit umfassendes Gewölbe in ein unendliches Gegenbild des konstruierenden Verstandes auf. Sie wirkte klärend und auflösend, bis die Welt des Verstandes so übersichtlich daliegen würde, daß der Mensch sie seinen Bedürfnissen entsprechend ordentlich einrichten könnte. Sie würde alles bisher Geglaubte aufheben, und wenn es ihr richtig schiene, auch sich selbst aufheben; aber nur, um sich immer wieder neu zu setzen.

Dem Erwachen der Wissenschaft stand das Sinken der Religiosität und der Sittlichkeit gegenüber. Da es immer Sittenrichter gibt, die die Lasterhaftigkeit ihrer Mitmenschen als Ausnahmezustand ihrer Zeit betrachten, ist es schwer, den Grad der Unsittlichkeit im 15. Jahrhundert richtig zu beurteilen; aber das übereinstimmende Urteil vieler gebildeter, denkender Menschen muß doch als Beweis für einen erschreckenden Verfall gelten. Unter vielen seien nur einige Äußerungen angeführt. Um die Mitte des Jahrhunderts zählte Nikolaus von Cusa als unheilvolle Zeichen auf: die zentrifugale Tendenz, die Ehrfurchtlosigkeit der Gehorchenden, daß der Gemeinsinn der Privatgier Platz gemacht habe, kurz die Herrschaft des Antichrist. Einige Jahrzehnte später schrieb der Humanist Beatus Rhenanus: »Was gilt uns heute noch heilig, uns, den Christen, die wir zu innerer Beschämung gestehen müssen, daß unsere heidnischen Vorfahren weit besser waren als wir? Wir bringen es über uns, über jede Schandtat zu lachen, wir finden für alles, was wir heutzutage treiben, eine Rechtfertigung im Zeitgeist: er muß Unsittlichkeiten empörendster Art, er muß Trunksucht entschuldigen. Der Zeitgeist muß als Deckmantel dienen für diejenigen jungen Leute, welche als Reisläufer ein leichtsinniges Lasterleben führen, für die Unersättlichen, welche in gieriger Gewinnsucht nie genug zusammenscharren können, für die habsüchtigen Geistlichen, welche Pfründen auf Pfründen häufen und doch nie zufrieden sind.« Und in dem früher angeführten Briefe von Sebastian Brant heißt es: »Lange habe ich des Reiches Geschick beklagt; fast habe ich für dasselbe keine Tränen mehr, denn ich sehe, daß alles nach einer eisernen Notwendigkeit geschieht. Was ich vor langer Zeit über die verkehrte Ordnung in der Welt geschrieben und geweissagt habe, das ist leider eingetroffen: alles ist Zwietracht, kein Gesetz, keine Freundschaft mehr in der Welt! Alle wüten gegeneinander wie Löwen und Wölfe!«


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