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Stadtwappen

Hersfeld

Im Winter 1760 während des Siebenjährigen Krieges bezogen die Franzosen, die Hessen-Kassel besetzt hatten, zwischen Fulda und Werra ihre Quartiere; ihr bedeutendstes Verpflegungsmagazin befand sich in Hersfeld. Heu und Stroh war in den Stiftsgärten aufgehäuft, 80 000 Säcke Mehl und 50 000 Säcke Hafer in der geräumigen Stiftskirche. Da, im Februar 1761, geschah es, daß Herzog Ferdinand von Braunschweig, der Verbündete Friedrichs des Großen, die Offensive ergriff und dadurch die Franzosen nötigte, sich gegen Hersfeld zurückzuziehen. Dem Marschall Broglie, dem Befehlshaber der Franzosen, kam es darauf an, die Vorräte zu retten, zu welchem Zweck er Befestigungen anlegte; allein da der Feind rasch und in Überzahl heranmarschierte, beschloß er den Rückzug, nicht ohne vorher die kostbaren Vorräte, damit sie nicht in des Gegners Hand fielen, zu vernichten. Vor dem eiligen Abzuge am Nachmittag des 19. Februar wurde die Brandfackel in die Gärten und das Schiff der Kirche geworfen, und das entzündete Feuer durch Heu und Frucht unheilvoll gespeist. Die entsetzte Bevölkerung, der das Löschen zuerst durch ausgestellte Wachen verwehrt wurde, versuchte nach dem Abzuge der Franzosen vergeblich die ungeheuer angewachsene Brunst zu bekämpfen; das edle frühromanische Bauwerk stürzte ein, viele schöne Kunstgebilde, die es erfüllten, mit einreißend und begrabend. Mit der Kirche verbrannte das anstoßende Kloster und die Residenz der Äbte; es sollen noch nach einem halben Jahre, als die Aufräumungsarbeit begonnen wurde, die Flammen aus dem Schutt geschlagen haben. Großartig in ihrer Einfachheit muß die unzerstörte Stiftskirche gewesen sein, herrlich das ungewöhnlich breite Mittelschiff, an dessen acht Paar Rundbogen tragende Säulen sich die marmornen und alabasternen Standbilder der Äbte lehnten, mehr als lebensgroß, einige stehend, andere kniend und betend. Da die Mauern des Mittelschiffs verschwunden sind, umfängt uns nun ein weiter, ungedeckter Raum mit der einzigen Gliederung in Querbau und Chor, der über die Grabstätte erhöht ist. Glorreich erhebt sich über der Zertrümmerung der gerettete Triumphbogen, in das flimmernde Blau oder in den dunklen Wolkenzug des Himmels seine reingeschwungene, feste Linie prägend. Zu nieempfundener Andacht reißt der aus dem wuchernden Gras zu den Wolken sich spannende Bogen hin; hier ertönt keine Predigt mehr, kein Altar ist mehr da, wo die Sinnbilder des Glaubens dargestellt und ausgeteilt wurden, gebrochen ist das geweihte Haus mir seinen Schranken wie unser Körper im Augenblick des Todes, und die Nähe einer höheren, namenlosen Erkenntnis bricht herein. Kein Grauen mehr, kein Tasten mehr am Rande bedeutungsvoller Bilder – es glüht von Angesicht zu Angesicht. Aber das auch ist doch nur Symbol, nur ein Augenblick der Ahnung, die an dem göttlich leichten Schwung des einsamen Bogens aufschwebt.

Wie das makellos Vollkommene so teilt uns auch die Ruine eine besondere Erschütterung mit. Aus dem Zerfall haucht uns mit herbstlich tragischem Aroma das Geheimnis der Persönlichkeit an, die eins ist mit dem All und doch ewig unteilbar ein und dieselbe. Ruinen sind auch die Namen der Großen, die mit den Anfängen der christlichen Klöster verknüpft sind. Über Hersfeld steht der Name des Lullus, der ein Gefährte des Bonifazius und sein Nachfolger auf dem erzbischöflichen Stuhle von Mainz war. Er gründete Kloster Hersfeld in einer Waldwildnis, wo sich 33 Jahre früher ein anderer Schüler des Bonifazius, der Bayer Sturm, angesiedelt hatte, der später erster Abt des Klosters Fulda wurde. Vielleicht um diesem aufblühenden Stift ein Gegengewicht zu geben, schuf Lullus Hersfeld, dem die Freigebigkeit Karls des Großen, dessen Gunst sich Lullus erfreute, große Schenkungen und Gnaden zuführte. Man weiß nicht viel mehr von Lullus, als daß Bonifazius und Kaiser Karl ihm ihr Vertrauen schenkten, daß er Erzbischof von Mainz und Abt von Hersfeld war, daß er in wundertätiger Weise Kranke heilte, daß er in Hersfeld eine Kirche baute, vermutlich neben einer älteren kleinen, aus der Zeit Sturms stammenden, daß er dieser Kirche den Leichnam Wigberts, seines ehemaligen Lehrers schenkte, und seinen verstorbenen Jugendfreund Witte neben jenem in der von ihm erbauten, den Aposteln Simon und Judas Thaddaeus gewidmeten Kirche beisetzte. Er selbst starb im Jahre 787 und erhielt ein Grab neben dem seines Freundes. Im folgenden Jahrhundert wurde er heiliggesprochen und seine Feier wurde auf den 16. Oktober, seinen Todestag festgesetzt. Der Name, allein übriggeblieben von einem Leben voll hoher Gedanken und Taten, tönt, als Ursprung verehrt, unendlich fort. Der Feiertag eines Heiligen zog Krämer, Kaufleute und Kauflustige herbei, ein Markt entstand mit allerlei besonderen Rechten und Gewohnheiten, der Lullusmarkt, der heute noch das jährliche Ereignis Hersfelds bedeutet. Von Montag mittag um 12 Uhr an bis zur Mitternacht des Donnerstag brennt um die Zeit des Lullusmarktes ein Feuer auf dem Markte, wie es vor Jahrhunderten die Gäste des herbstlichen Festes erwärmte. Dann erschallt der volkstümliche Ruf: Bruder Lolls! dann erschallt auch die ehrwürdige Stimme der Lullusglocke, die sonst schweigt. Sie soll um 1050 gegossen und eine der ältesten Glocken in Deutschland sein und hängt mit zwei jüngeren im Glockenturme an der Ostseite der Kirche. Man nimmt an, daß der untere Teil des Turmes älter als die Kirche ist und von dem Dom des 9. Jahrhunderts stammt.

Unter den Benediktinern von Hersfeld waren angesehene Geschichtsschreiber, wie Lambert von Aschaffenburg und Lambertus Hersfeldensis, und Abte, die treu den Kaisern anhingen und denen die Kaiser vertrauten, so daß Heinrich III. einem von ihnen die Kaiserkrone verpfändete. Sie beherrschten ein großes Gebiet, das hauptsächlich in Thüringen lag und zu dem drei Städte gehörten: Hersfeld, Gotha und Arnstadt; aber im Maße wie namentlich Hersfeld sich hob, sank das Ansehen des Stiftes. Die durch Tuchweberei und Tuchhandel reichgewordene Stadt wurde durch Kaiser Wilhelm von Holland in des Reiches Schutz und Geleit aufgenommen und hatte das Bewußtsein einer Reichsstadt. Der Huldigungseid, den sie dem Abt leistete, drückte mehr ihr Selbstgefühl als ihre Ergebenheit gegen ihren Herrn aus. Er lautete: »Wir wollen unserm Herrn eine Hilfe tun als unsere Eltern und Vorfahren vor andern unserm Herrn gnedig, unseres gnedigen Herrn Vorfahren getan haben, unverletzt unserer Rechte, Briefe und Gewohnheiten, die wir von unseren Eltern und Vorfahren hergebracht haben. So gelobt die Stadt, die Schöffen, die Bürger gemeiniglich die Hülfe zu vollenden.« Es erschien dieser Bürgerschaft, die sich den Äbten gleichberechtigt fühlte, als eine Anmaßung und Gewalttätigkeit, daß Berthold II. von Völkershausen, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an die Spitze des Stiftes trat, den Plan faßte, die alte Macht wiederherzustellen und verlorene Gebiete wiederzugewinnen, vor allen Dingen seine bedeutendste Stadt sich wieder zu unterwerfen. Gemeinsames Interesse führte ihn die Ritter der Umgegend zu, die den Bund der Sterner gebildet hatten, um der anwachsenden Macht des Landgrafen von Hessen entgegenzutreten. Der Landgraf hatte so wenig Anhänger unter der Ritterschaft, daß er sagte, er könne die treugebliebenen mit einem Brote speisen. Man hätte meinen können, auch die Stadt Hersfeld sei gegen den benachbarten Dynasten gewesen; allein die Furcht, unter die Botmäßigkeit ihres Abtes zu geraten, bewog sie zum Anschluß an den einstweilen weniger gefährlichen Landgrafen. Einmal, als das landgräfliche Heer von den Sternern geschlagen bis vor Hersfeld getrieben war, tat die Stadt einen entscheidenden Schritt, indem sie den Bedrängten ihre Tore öffnete und sie dadurch rettete. Diese wirksame Parteinahme erbitterte die Verbündeten und sie beschlossen den Untergang der Stadt.

Viele hessische Ritter, die von Buchenau, die von Hauner, die von der Tann, die Eberstein, die Falkenberg und Netra, hatten Burgsitze in Hersfeld und waren dort so bekannt und mit allen Verhältnissen vertraut, daß ihnen ein Überfall leicht ausführbar schien. Ein besonders starkes, kampflustiges, gefürchtetes Geschlecht waren die Buchenauer, die den Stiften Hersfeld und Fulda verschiedene Äbte geliefert haben. Sie besaßen Burgen und Schlösser und auch Häuser in Hersfeld und dauerten trotz der vielen Fehden, in die ihre Wildheit sie verwickelte, bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts fort. Der letzte Buchenau, sehr unähnlich seinen Vorfahren, wendete die Waffe gegen sich selbst aus unglücklicher Liebe zu einer Bürgerlichen. Bei der Verschwörung gegen Hersfeld waren vier Buchenauer beteiligt, darunter Eberhard, der die »alte Gans« genannt wurde, und dessen Raufereien vom Volk besungen wurden. Der Überfall wurde auf den 28. April, den Vitalistag, festgesetzt, weil an diesem Tag wegen der Wahl der Ratsschöffen Festlichkeiten stattzufinden pflegten, von denen man hoffte, daß sie die Aufmerksamkeit des Rats ablenkten. Der Abt, Haupt und Seele des Unternehmens, veranstaltete selbst Gastereien, bei denen er vermutlich den berauschenden Wein nicht sparte. Zum Heile der Stadt indessen wurde ihr, nicht durch Verrat, sondern durch die Redlichkeit eines Ritters, der unheilvolle Plan bekannt. Simon von Haune, an den die Trümmer der Burg Hauneck auf der Stoppelschanze noch erinnern, hielt es für unritterlich, eine Fehde ohne vorhergehende Aufkündigung des Friedens zu beginnen und richtete an die Stadt den folgenden Fehdebrief: »Wisset, ihr Hersfelder, daß ich, Simon von Haune, Ritter, euer und der euren Feind sein will mit meinen Mithelfern, und ich will euch nicht allein nach Gut, sondern auch nach Ehre, Leib und Leben stehen, ehe es Morgen wird. Danach habt ihr euch zu richten. Datum unter meinem Insiegel am St. Vitalistage 1378.« So gewarnt konnte der Rat sich auf den Überfall vorbereiten und tat es gründlich und mit glücklichem Erfolge. Einige Verschworene, die der Stiftsdechant von der Tann in seinem Hause verborgen hielt, wurden entdeckt und nach kurzem Prozeß enthauptet; als die nichtsahnenden Angreifer die Mauer zu übersteigen versuchten, wurden sie gerüstet empfangen und blutig zurückgeworfen. Eine durchlöcherte eiserne Sturmhaube im Rathause und ein steinernes Kreuz mit Inschrift erhalten das Andenken der wundergleichen Errettung vor Mord, Plünderung und Knechtschaft. Berthold von Völkershausen, der Abt, soll als ein verarmter und blinder, büßender Mann, von Gott geschlagen, geendet haben; so wenigstens wollte die Entrüstung der Hersfelder ihn sehen, die sein vergebliches Streben, den alternden Kirchenstaat zu erneuern, als den Unfug eines Tyrannen betrachteten.

Später versuchte noch einmal ein Abt, es war ein Buchenau, sich der Ungunst der Zeit zu erwehren, doch auch er mußte sich beugen und schließlich den Landgrafen Ludwig den Friedfertigen von Hessen als erblichen Schirmherrn des Stifts anerkennen. Damit war eigentlich die selbständige politische Existenz sowohl des Klosters wie der Stadt, die sich schon vorher immer enger an Hessen angeschlossen hatte, zu Ende. Daß dieser Vorgang hier schon so früh, um die Mitte des 15. Jahrhunderts, stattfand, ist vielleicht der Tüchtigkeit und Mäßigung der hessischen Landgrafen zuzuschreiben.

Einen letzten Glanz warf auf das untergehende Stift die Erscheinung einiger bedeutender und merkwürdiger Äbte, besonders des Krafft Myle, der vierzig Jahre lang, von 1516-56 unter dem Namen Crato das Kloster regierte. Er gehört in die Reihe jener Männer, wie sie die reformatorische Frühzeit hervorgebracht hat, die nicht aus Schwäche oder Gleichgültigkeit, sondern aus überlegener Reife und einem harmonischen Gemüt heraus inmitten der Glaubenskämpfe sich menschlich duldsam verhielten. Er empfand das Notwendige und Schöpferische in Luthers Auftreten und bewies ihm furchtlos seine Liebe in gefährlicher Zeit. Als der Reformator aus Worms zurückkehrte, berührte er nach Friedberg und Alsfeld auch Hersfeld. Crato sandte ihm seinen Kanzler bis an die Grenze entgegen, empfing ihn selbst beim Eichhof, jener Zwingburg, die Berthold von Völkershausen einst als Drohung errichtet hatte, bewirtete ihn festlich und ließ ihn seine eigenen Zimmer bewohnen. Nicht damit zufrieden, bewog er Luther in der Stiftskirche zu predigen, ungeachtet dieser ihn auf die schlimmen Folgen aufmerksam machte, die ihm, dem Abt, daraus erwachsen könnten. Seine Bewunderung Luthers veranlaßte Crato aber nicht zum Religionswechsel. Er hinderte den schnellen Fortschritt der Reformation im Stift und in der Stadt nicht, ja es scheint, als habe er ihm Vorschub geleistet; aber er selbst blieb Katholik und richtete für sich den Gottesdienst nach alter Weise in der Residenz ein oder wohnte ihm in Fulda bei. Es mochte ihm überflüssig scheinen, seit der Kindheit vertraute Formen abzustreifen, die ihn nicht abhielten, alles Gute und Große zu begreifen und zu ehren und soviel als möglich auszuüben. Krafft Myle war eines Bürgers Sohn aus der Wetterau, der erste bürgerliche Abt Hersfelds nach einer langen Reihe Adliger.

Ein anderer Crato, Adam Krafft, eines Bürgermeisters Sohn aus Fulda, der in Erfurt studierte, sich mit Luther und Melanchthon befreundete und Fulda verlassen mußte, weil er nach der neuen Lehre predigte, wurde in Hersfeld aufgenommen und ergriff dort durch einen Vortrag das Herz Philipps des Großmütigen so, daß er ihn zu seinem Hofprediger machte. Er wurde später Professor in Marburg.

Das eigentümliche Verhältnis gegenseitiger Duldung, welches es ermöglichte, daß ein katholischer, von Papst und Kaiser bestätigter Abt in einem Lande, das von einem der kriegerischsten protestantischen Fürsten abhing, sich hielt, konnte noch eine Weile fortgesetzt werden. Michael Landgraf stiftete aus eigenem Vermögen im Jahre 1570 das Gymnasium, das ein wertvoller Besitz Hersfelds wurde. Diese Tat und seine Äußerung, Musik solle an der Schule gelehrt werden, weil ohne sie sich der Mensch vom unvernünftigen Tiere wenig unterscheide, läßt auf einen hohen gebildeten Sinn schließen. Der letzte dieser protestantisch-katholischen Äbte, die aufzufinden und deren Genehmigung zu erlangen immer schwerer wurde, war Joachim Roell; nach seinem Tode suchte Landgraf Moritz seinen Sohn zum Administrator des Stifts zu machen, dessen Verweltlichung damit eingeleitet war.

Noch einmal erlebte Hersfeld einen großen Augenblick, als es in der napoleonischen Zeit wie in der Vitalisnacht von gänzlicher Zerstörung bedroht und wunderbar durch die Ehrenhaftigkeit eines Mannes gerettet wurde. Es war am 24. Dezember des Jahres 1806, als ein italienisches Infanterieregiment in Hersfeld einrückte und sich bei der Bürgerschaft einquartierte. Bei dem Tuchbereiter Pforr zog ein italienischer Sergeantmajor namens Martinelli ein, der, obwohl ordentlich verpflegt, seine Wirte durch unverschämte Forderungen belästigte. Pforr rief seine Nachbarn zu Hilfe, ein Auflauf entstand und es kam zu Tätlichkeiten; plötzlich fiel aus dem Hause des Sattlers Seelig ein Schuß, der Martinelli tödlich traf. Den erschreckten Italienern wurde es inmitten der aufgebrachten Bevölkerung bange, und sie zogen sich fliehend aus der Stadt zurück, wobei noch mehrere verwundet wurden. Die Gutartigkeit der Hersfelder zeigte sich, wie sie die Verwundeten aufsammelten und liebevoll pflegten. Nachdem die Wut gegen die Eindringlinge verraucht war, stellte sich bei der Bürgerschaft die Angst vor den Folgen der Empörung ein: der Sattler Seelig, der den verhängnisvollen Schuß getan hatte, entfloh, Pforr verbarg sich.

Anfang Januar rückte General Barbet ein, unter dessen Oberbefehl das Haus des Sattlers geplündert und niedergerissen, der junge Sohn eines Tagelöhners, der am Auflauf besonders beteiligt gewesen sein sollte, als Opfer erschossen wurde; er starb mutig. Man glaubte dadurch und durch Geldleistungen den Zorn des Siegers besänftigt; allein nach einigen Tagen traf ein Befehl Napoleons ein, die Stadt Hersfeld, weil sie sich an seinen Soldaten vergriffen habe, solle gänzlich abgebrannt werden. Am 19. Februar wurden von den Franzosen unheimliche Vorbereitungen getroffen: damit nicht Sturm geläutet werden könne, wurden die Seile und Klöppel aus allen Glocken entfernt, damit nicht gelöscht werden könne, die Löschgeräte mit Beschlag belegt und die Spritzenhäuser bewacht. Nachts erhob sich ein Sturm, der im Bunde mit den rachsüchtigen Feinden schien, um das Feuer zu schüren. Am andern Morgen um 9 Uhr mußten der Rat und alle öffentlichen Beamten vor dem General erscheinen, um den Befehl des Kaisers zu vernehmen. Barbet eröffnete ihnen, er werde nunmehr die Stadt an allen vier Ecken und in der Mitte anzünden, und man dürfe nicht zu löschen anfangen, bevor die fünf angezündeten Gebäude niedergebrannt wären. Barbet verließ darauf die Stadt und begab sich zu den vor den Toren aufgestellten französischen Truppen, die Ausführung des Befehls einer italienischen und zwei Kompanien badischer Jäger überlassend, die einem badischen Oberstleutnant namens Lingg unterstanden. Wollte er eine so verhaßte Tat unter Verzweifelten einem Deutschen zuschieben? Wollte er einem Deutschen Gelegenheit geben, eine deutsche Stadt zu retten, falls er die Verantwortung auf sich zu nehmen wagen sollte? Lingg hatte Mut und Erbarmen. Die fünf anzuzündenden Gebäude wurden so gewählt, daß das Feuer von den vereinzelt stehenden nicht auf andere übergreifen konnte. Die inzwischen eingetretene Windstille begünstigte die List. Nachdem das geschehen war, ließ Lingg seine Truppen auf dem Markte aufrücken und las ihnen den Befehl des Kaisers vor, der zur Plünderung der Stadt aufforderte, hinzufügend, er hoffe, daß seine Soldaten eine Stadt nicht berauben würden, wo sie soviel Gutes empfangen hätten. Der Befehl zur Plünderung, fuhr er fort, sei gegeben, sie sei jedem erlaubt. Wer Lust habe zu plündern, der solle vortreten und sich melden. Es meldete sich keiner, auch dann nicht, als Lingg die Aufforderung wiederholte. Nun gab er das Kommando zum Abmarsch, und im Geschwindschritt zogen die Truppen aus der geretteten Stadt.

Als die Bürgerschaft zur Besinnung und zur Erkenntnis der empfangenen Wohltat gekommen war, wurde eine Abordnung nach Vacha geschickt, wo Lingg im Quartier lag, um ihm zu danken und ihm ein Geldgeschenk anzubieten. Er nahm die Abgeordneten freundlich auf und bewirtete sie, lehnte aber das Geschenk ab. Ein Deutscher, der im Dienst eines fremden Eroberers eine deutsche Stadt vernichtet hätte, wäre des Hasses und der Verachtung wert gewesen; immerhin ehrt es die Hersfelder, daß sie dem Deutschen, der sie auf eigene Gefahr gerettet hatte, unendlichen Dank bewahrten. Sie stellten sein Bild im Rathaus auf und errichteten ihm im Jahre 1896 ein Denkmal. Als im Jahre 1822 in Baden Überschwemmungen großen Schaden angerichtet hatten, veranstalteten sie eine Kollekte und übergaben Lingg das gesammelte Geld mit der Bitte, es den etwa geschädigten ehemaligen Jägern zukommen zu lassen. Der Kurfürst von Hessen verlieh Lingg den hessischen Löwenorden und erhob ihn als Lingg von Linggenfeld in den Adel.

Von der einstigen Blüte und Selbständigkeit der Stadt Hersfeld sind als Denkmale übriggeblieben die kräftige Stadtkirche und das Rathaus mir den Renaissancegiebeln. Wenige Reste nur sind von der Mauer da, die mit vier Tortürmen und sechzehn nach der Stadt zu offenen Türmen stattlich befestigt war. Wohl finden sich hie und da noch hübsche Fachwerkhäuser, geschmackvolle Türen aus verschiedenen Zeitaltern; aber im ganzen macht die Stadt einen ärmlichen Eindruck. Von den ansehnlichen Steinhäusern, die sich die wohlhabenden Familien vor dem Dreißigjährigen Kriege erbaut hatten, zeugen noch vereinzelte Keller.

Die neueste Zeit hat erfreulich in Hersfeld gewirkt, indem sie neben das Rathaus ein schönes, durch Wahrheit des Ausdrucks ergreifendes Weltkriegsdenkmal stellte, und indem sie den im Mittelalter berühmten heilkräftigen Lullusbrunnen, der während des Dreißigjährigen Krieges in Verfall und Vergessenheit geraten war, wieder aufschloß und zum Gebrauch einrichtete. Die Kurgäste können sich auf einer Allee alter Linden ergehen, wo schon vor Jahrhunderten Brunnentrinkende auf und ab wandelten.


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