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Stadtwappen

Stendal

Vier Kirchen bezeichnen die vier Ortschaften, aus denen die Stadt Stendal zusammenwuchs. Die älteste, die Jakobikirche, war der Mittelpunkt des Dorfes Stendal, das der Stadt den Namen gab und Wohnsitz der Bismarck, der Voreltern des großen Kanzlers, war; sie besitzt noch einige wundervolle alte Glasfenster. Die Petrikirche, ausgezeichnet durch den mit vier Ecktürmchen reizvoll verzierten Turm, die ohne den Einspruch Friedrichs des Großen im 18. Jahrhundert der Magistrat als Barbarei der gotischen Zeit entfernt hätte, vertrat das Dorf Wusterbusch. Der Dom entstand auf dem Gebiet der alten askanischen Burg, die Marienkirche bildete den Kern der Kaufmannsstadt, die, wenn auch zuletzt entstanden, das kraftvolle Haupt Stendals wurde. Die Sage erzählt von einer Burg, die Heinrich I. im Kampf gegen die Slawen errichtet habe; aber auch die askanische, die vielleicht über jener sich erhob, wurde im Anfang des 13. Jahrhunderts abgetragen und mußte die Herrschaft dem Dom überlassen, den der Markgraf innerhalb der Burgmauern gegründet hatte. Wie sie verschwand, erhob sich die Stadt eigenwillig und eigenmächtig, reich durch Gewerbe und Handel, die erste der Altmark.

Wie in allen mächtigen Städten des Mittelalters stand an der Spitze des Gemeinwesens ein Patriziat, auf dessen Gegensatz und Ausgleich mit Handwerk und Gemeine das blühende Leben der Republiken beruhte. Zu den Stendaler Geschlechtern gehörten die Jerichow, Röxe, Flaxmenger, Schadewachten, die v. Thüritz, v. Bismarck, v. Kalbe, die Porditz und Kastel, Namen, die größtenteils von Städten und Dörfern entlehnt ihre Herkunft bezeichneten. Im allgemeinen waren die Bewohner Niedersachsen, Friesen und Westfalen, die allmählich die Wenden verdrängten. Deren Stellung war so, daß sie sogar in den Rat eintreten konnten, und so mögen sie denn auch anfangs in die niederen Volksmassen eingedrungen sein. Stendals angesehenste Gilde war die der Gewandschneider, was soviel bedeutete wie Großkaufleute; denn sie allein hatten das Recht, das Tuch zum Verkauf zu schneiden und zu versenden. Es bildete sich allmählich die Übung heraus, daß alle Gilden sowie auch die Geistlichkeit zum Eintritt in die Gewandschneidergilde befähigt waren, nur die Handwerker nicht; so sammelten sich in ihr die Angesehenen und Reichen, welche die Angelegenheiten der Stadt in der Hand hatten. Auch die Seefahrergilde, die im 13. Jahrhundert entstanden war, schloß sich ihr an. Sitz dieser großen Gilde war das Rathaus, worin allein schon sich ihre Bedeutung ausdrückte. Die Beziehungen zwischen Patriziat und Domstift waren nicht immer gut, indem beider Machtwille sich gelegentlich durchkreuzte und das Patriziat im ganzen kaiserlich, das Domstift päpstlich war. Irgendwelche Herrschaft über die Stadt maßte sich das Stift nicht an.

In der Mitte des 14. Jahrhunderts gab es einen ersten heftigen Zusammenstoß zwischen den verschiedenen Kräften, die die Stadt trugen. Das askanische Haus, als dessen Besitz die Stadt Stendal erwachsen war, starb im Jahre 1319 mit dem Markgrafen Waldemar aus. Verschiedene Ansprecher auf die Nachfolge in seinen Rechten traten auf, vor allen seine noch jugendliche Witwe Agnes, die sich eilig mit Herzog Otto dem Milden von Braunschweig vermählte; das Paar schlug seinen Sitz in Tangermünde auf und wurde auch von Stendal anerkannt. Außer Agnes und Otto machte noch der Erzbischof von Magdeburg ein Anrecht auf die Altmark geltend, der mächtigste Prätendent aber war Kaiser Ludwig der Bayer, der mit der erledigten Mark sich einen Hausbesitz schaffen wollte. Er belehnte damit seinen noch im Knabenalter stehenden Sohn Ludwig und fand Anklang beim Rat von Stendal, der damals nicht nur in der Altmark, sondern in der Mark überhaupt mächtigsten Stadt. Der Papst als erbitterter Gegner des Kaisers begünstigte den Welfen Otto, und auf dessen Seite standen auch die Handwerker und das niedere Volk von Stendal. Im Verlaufe des Streites suchten die Patrizier der Geistlichkeit dadurch einen Schlag zu versetzen, daß sie in der Nähe der Stadtkirche eine eigene Schule gründeten, eine eingreifende Neuerung, da es bisher nur die mit dem Domstift verbundene Schule gegeben hatte. Als der durch den Bischof von Halberstadt erlassene Entscheid, die Ratsschule sei in zehn Tagen abzubrechen, nicht befolgt wurde, exkommunizierte der Papst die ganze Stadt, nämlich den Rat, die Innungsmeister und die Gemeinde. Unter den Ratsherren, welche bei der Exkommunikation, gleichsam damit keiner entginge, namentlich aufgeführt wurden, war auch Rudolf von Bismarck. Den Eltern wurde verboten, ihre Kinder in die verfluchte Schule zu schicken. Es dauerte 40 Monate, bis dies Interdikt infolge eines Vergleichs zwischen den Parteien aufgehoben wurde; der Rat stiftete dem Dom einen Altar, behielt aber die Schule, aus der das spätere Gymnasium hervorgegangen ist.

Auch übrigens änderten die Patrizier ihre Politik nicht, sondern fuhren fort, für den Kaisersohn Ludwig einzutreten und ihm durch Geldunterstützung die Bekämpfung seines Gegners Otto zu ermöglichen. Nachdem der letztere auf der Gardeleger Heide besiegt war, wurde Ludwig in Stendal gehuldigt, jedoch ohne daß die Abneigung des niederen Volkes überwunden worden wäre. Durch einen unbesonnenen Schritt gab der inzwischen herangewachsene Ludwig dem Papst wieder Gelegenheit, gegen ihn vorzugehen; er verheiratete sich nämlich mit Margarete Maultasch, der Erbin von Kärnten und Tirol, deren erste Ehe zu dem Zweck auf Veranlassung des Kaisers, aber gegen den Willen des Papstes getrennt worden war. Der Papst exkommunizierte Ludwig und erklärte die Ehe für ungültig. Das machte keinen wirksamen Eindruck auf die Patrizier, wohl aber auf die Bürgerschaft, die ohnehin dem neuen Markgrafen fortwährend abgeneigt blieb. Dabei drehte es sich zum Teil um Geldfragen; so befreite Ludwig die Juden von der Steuerzahlung, eine Begünstigung, die sie wohl reichen Geschenken verdankten, die aber die ohnehin gegen die Juden gereizten Bürger erbitterte. Sie warfen ferner den Patriziern vor, daß sie den Markgrafen Ludwig mit Geld unterstützt hätten, das dem Vermögen der Stadt entnommen sei; denn wie überall pflegte der Rat die Finanzen ohne Rechnungsablage zu verwalten. Bei dieser Gelegenheit nun verlangten die Bürger einen Einblick, damit das, was sie steuerten, nicht gegen ihr Interesse ausgegeben werde. Dazu kam die alte Klage, daß sie, die kleinen Bürger, nicht denselben Anteil an Wald, Wiese, Wasser und Holz hätten wie die Patrizier. Die Erbitterung führte im Sommer 1345 zu einem Aufstande, der mit dem vollständigen Siege der Bürgerschaft endete, ein Zeichen, daß auch sie über tüchtige Köpfe und Energien verfügte.

Die bisherige Verfassung wurde umgestoßen, die Ratsherrn sollten künftig aus den Gilden gewählt werden und die Gewandschneidergilde, die den Rat zusammengesetzt und beherrscht hatte, wurde zu einer gewöhnlichen Gewerbeinnung gemacht, die der Bestätigung des Rats bedurfte. Die Juden wurden aus der Stadt verjagt; aber nicht nur diese: damit der Bestand der neuen Verfassung gesichert sei, wurden mehrere der vornehmsten Familien vertrieben. Gottschalk von Jerichow, Giso von Schadewachten und Johann Buch, die die Bürger gefangengenommen hatten, wurden dem Markgrafen unter der Bedingung ausgeliefert, daß er sie nicht ohne Bewilligung der Bürgerschaft der Haft entlasse. Unter den Vertriebenen war auch Nikolaus von Bismarck. Wenn der Haß der niederen Bürgerschaft sich besonders heftig gegen ihn wendete, so gibt der Umstand, daß der Markgraf ihn, seinen »aufrichtig geliebten«, im Jahre des Aufstandes mit dem landesherrlichen Schloß Burgstall belehnte, diesem Gefühl eine Berechtigung, insofern daraus hervorgeht, daß er sich vorzüglich um den Markgrafen verdient gemacht hatte. Man hielt es für nötig, drei Jahre nach dem Aufstande einen Vertrag mit ihm zu schließen, zufolge dessen er unbelästigt bleiben sollte, wenn er sich über eine gewisse Grenze hinaus der Stadt nicht nähere.

In diese Zeit fielen verschiedene eingreifende Ereignisse: der Tod Kaiser Ludwigs, die Wahl Kaiser Karls IV., das Auftauchen des falschen Waldemar, der mit seiner Behauptung, der letzte Askanier zu sein, bei verschiedenen Fürsten und bei den Städten Anklang fand. Alle Städte der Mark schlossen ein Bündnis miteinander, worin sie sich versprachen, an Waldemar festzuhalten und nach seinem Tode selbst über die Person des künftigen Herrn zu entscheiden. Da auch die Geistlichkeit für den auferstandenen Fürsten eintrat und Karl IV. ihn belehnte, so schien seine Stellung befestigt und das Patriziat mit seiner Politik vollends mattgesetzt. Wie aber so oft zufällige Begebenheiten unvorhergesehene Wendungen herbeiführen, so geschah es jetzt, daß der Kaiser mit der von ihm beliebten Finanzoperation hervortrat und die Altmark dem Erzbischof von Magdeburg verpfändete. Die Aussicht, ihrer Freiheit verlustig zu gehen, erschreckte die Städte dermaßen, daß sie sich entschlossen, mit Versöhnungsvorschlägen an die vertriebenen Patrizier heranzutreten, welche allein das Geld aufbringen konnten, um sie von der Verpfändung zu befreien. Der Rat von Stendal wendete sich an Nikolaus und Rudolf von Bismarck, Giso von Schadewachten, Etzel Dusee, Busso Goldschmidt und noch einige andere Herren und fand Entgegenkommen. Zehn verbannte Patrizier übernahmen die Bürgschaft, um zunächst Schloß und Stadt Tangermünde aus der Pfandschaft zu lösen, da diese wichtige militärische Stellung in fremden Händen zu lassen, besonders bedenklich erschien. Auf diese Weise kam fünf Jahre nach dem Aufstande eine Versöhnung zwischen der Stadt und den Vertriebenen auf der Grundlage zustande, daß die neue demokratische Verfassung nicht angetastet wurde. Nikolaus von Bismarck trat gegen Sold in den Dienst der Stadt; man glaubte wohl, den einflußreichen Mann sich befreunden zu müssen, indem man ihm eine besondere Vertrauensstellung einräumte, die anzunehmen er nicht zu stolz war. Man könnte sich diesen Ahnen des großen Kanzlers der Gegenwart als ein Vorgesicht der Zukunft ausmalen: die schroffe, leidenschaftlich um sich greifende, Haß oder Liebe erregende Persönlichkeit, ihre beherrschende Stellung zwischen Fürst und Volk, der endliche Ausgleich, wenn auch dies alles zur Zeit der Vorfahren in den viel freieren, fließenderen, menschlicheren Formen des Mittelalters und auf einen engen Kreis beschränkt sich abspielte.

Bei seinem Plan, sich wie Ludwig der Bayer in der Mark eine Hausmacht zu schaffen, fand Karl IV. einen Helfer in der Person eines Stendalers, nicht einen Bismarck, doch mit den Bismarcks verwandt, Dietrich aus der Familie der Porditz. Er trat als Mönch in das Kloster Lehnin ein und wurde vom Bischof von Brandenburg, der seine Fähigkeiten erkannte, zu seinem Dienst herangezogen. Da seine Begabung hauptsächlich auf dem Gebiet der Finanzen und der Diplomatie lag, wußten die Großen ihn zu schätzen. Kaiser Karl wurde auf ihn aufmerksam, übertrug ihm die oberste Finanzverwaltung seines Reichs, belehnte ihn mit einem Schloß in Böhmen, machte ihn zu seinem Kanzler und später zum Erzbischof von Magdeburg. Als solcher ernannte Dietrich den Nikolaus von Bismarck, vielleicht eine verwandte Natur in ihm erkennend, zu seinem Hauptmann im Erzstift; auch wurde er nach dem Tode des Erzbischofs Hofmeister des Markgrafen Otto. Dietrich von Porditz, unter dem Namen Kagelwit berühmt, war augenscheinlich nicht nur Meister des Geldes, sondern auch ein geistvoller Mann, dessen Umgang die Gebildeten suchten. Unter ihm wurde der Bau des Magdeburger Doms abgeschlossen. Auch Humor scheint er gehabt zu haben, und im Volk erzählte man sich Schwänke von ihm, so daß er Erfinder des Gerichts Schweinsohren mit Erbsen sei. Kaiser Karl IV. habe gelegentlich eines Besuchs verboten, daß um seinetwillen Tiere zur Mahlzeit getötet würden, worauf Kagelwit auf den Ausweg verfallen sei, dem Schwein die Ohren abschneiden zu lassen und damit die Erbsensuppe schmackhaft zu machen. Wenn es ihm darauf ankam, seinen Willen durchzusetzen, konnte er gewalttätig vorgehen; auf sein Drängen bequemte sich Stendal, den Söhnen des Kaisers zu huldigen.

Stendal war am Ende des 14. Jahrhunderts eine fast unabhängige Stadt. Sie war im Besitz des Blutbanns, des Münzrechts, des Judenrechts, des Rechts, mit anderen Städten Bündnisse zu schließen, sie war Mitglied der Hanse. Sie brauchte dem Markgrafen außerhalb ihrer Mauern keine Heeresfolge zu leisten und hatte das Recht, sich einen anderen Herrn zu suchen, wenn der Markgraf ihre Freiheiten kränken sollte. Das Gefühl einer solchen Macht prägte sich in großartigen Bauwerken aus, die wir heute bewundern. Die Kirchen bestanden schon lange, wurden aber erweitert und dem neuen Stil entsprechend umgebaut.

Zwischen Bäumen liegt abseits der mächtige Dom, dessen Eindruck nur die zu zierlichen Türme, ein Überbleibsel der früheren, kleineren Kirche, beeinträchtigen. Die Vollkommenheit des Chors umfängt den, der das Innere betritt, wie eine jenseitige Welt. Das Licht, das durch die sieben hohen Glasfenster einfällt, fließt über den rötlichen Backstein wie Götterblut, das der Himmel selbst zum Mysterium des Abendmahls austeilte. Außer den reichgeschnitzten Chorstühlen ist nicht viel Schmuck vorhanden, aber was da ist, ist schön. Eine wundervolle Beruhigung geht von dem reinen Zusammenklang der baulichen, durch nichts gestörten Verhältnisse aus. Eine charakteristische, kraft- und reizvolle Gruppe bildet die Marienkirche mit dem Rathause und dem davorstehenden Roland. Unter den reichgegliederten Giebeln des einen rechten Winkel bildenden Rathauses steigen sehr hoch und schlank die Türme der Kirche auf, deren anmutige Spitze ein feines Zwischentürmchen verbindet. Der Roland, ein ritterlicher Grobian, außergewöhnlich groß, grotesk feierlich, deutet mit steif erhobenem Schwert auf das Recht des Blutbanns und ist zugleich eine Warnung vor Frevel und ein Wahrzeichen städtischer Freiheit. Diese Auffassung ist in neuester Zeit angefochten worden, und man hat in dem Roland schlechtweg eine Figur sehen wollen, die bei den öffentlichen Spielen der Jugend, wie sie im Mittelalter üblich waren, als Ziel gedient hätte. Welches der Ursprung sein möge, im späteren Mittelalter wurden die Rolands als Zeichen der Gerichtsbarkeit angesehen, wozu auch ihre Stelle neben dem Rathause sie stempelt. Grade in diesen zuweilen edlen, oft wunderlichen Riesengestalten tritt uns die Art der Vorzeit, das Grauenvolle mit Humor zu verkleiden, fremdartig entgegen.

Zwei unerschütterliche Wächter stehen am Eingange zum alten Dorf Stendal und zum Schadewachten: das Ünglinzer und das Tangermünder Tor, dieses altertümlicher und einfacher, untersetzt und ausdrucksvoll, jenes reicher und eleganter, beide Prachtgestalten. Die Sage erzählt, daß der Baumeister des Tangermünder Tores den Erbauer des schöneren, seinen Gesellen, mit dem Hammer erschlagen habe, und prägt so in ihrer Art die Tragödie des alternden Künstlers, den Verzweiflung über die abnehmende Kraft und Eifersucht auf das aufblühende Genie des jungen Geschlechts zum Verbrecher machen.

An die ertragreiche Reife der Menschen wie der Städte schließen sich oft unmittelbar die ersten Anlässe und Merkmale bevorstehenden Untergangs. In der Zeit seiner glänzenden Bautätigkeit genoß zwar Stendal unter den ersten Hohenzollern manche Vorteile des straffen Regiments, erlitt aber auch selbst Eingriffe, die auf Veränderung der allgemeinen Lage deuteten. Die Burggrafen von Nürnberg, die Kaiser Sigismund mit der Mark belehnte, und denen es schwer wurde, sich des Frankenlandes zu entwöhnen und in der rauheren und roheren Mark heimisch zu werden, verfolgten von Anfang an, gleich fremden Eroberern, den Plan, sich einen einheitlichen Staat zu gründen, wie es auch dem Zuge der Zeit und dem Schwächerwerden der Einzelkräfte entsprach. Von den alten Geschlechtern Stendals waren inzwischen einige wieder zum alten Ansehen gekommen, hauptsächlich die Schadewachten, die Bismarck und Kastel, andere waren ausgestorben, und neue Namen waren aufgetaucht. Der Rat ergänzte sich wie in früherer Zeit wieder selbst, mußte sich aber der Zustimmung der Gildenmeister versichern. Wie sehr auch die Städte der Altmark auf ihre althergebrachte Selbständigkeit pochten, sie konnten gegen die Zielbewußtheit und die Machtmittel der Kurfürsten sich auf die Dauer nicht halten. Die übrigen Stände, der Adel der Neumark und der Uckermark, die Geistlichkeit waren gefügiger gewesen, und Albrecht Achilles bediente sich mit Glück des Mittels, Schiedsgerichte aus den ihm ergebenen Landständen zusammenzusetzen, welche bei vorkommenden Streitigkeiten zuungunsten der altmärkischen Städte entschieden. Unter Johann Cicero ließ sich die Bürgerschaft von Stendal zu einem Aufstande hinreißen, der der Stadt als dem schwächeren Teil zum Verderben wurde. Es handelte sich um die sogenannte Bierziese, eine Abgabe, die von den Ständen im allgemeinen bewilligt worden war, und zu der auch in Stendal der Rat sich herbeiließ, die aber die Bürger ablehnten, weil sie die ärmeren Leute hauptsächlich traf. Zwei Adlige, Nicolaus von Borstel und Hans von Gohre, wurden von der aufgeregten Menge ergriffen und hingerichtet, 48 Personen aus den angesehensten Familien verließen die Stadt, darunter wie vor hundert Jahren die Bismarck. Der Kurfürst, vermutlich nicht unzufrieden über diese Vorfälle, unterwarf zuerst Tangermünde und zog dann als strafender Richter in Stendal ein an der Spitze seines gezähmten Adels: v. Alvensleben, zu Putlitz, v. Bredow, v. Bartensleben, v. d. Schulenburg, v. Bülow. Drei aus der Gilde der Tuchmacher wurden hingerichtet; wichtiger war es dem Kurfürsten, daß die Stadt ihre sämtlichen Privilegien ausliefern, allen Bündnissen entsagen, auf das Münzrecht und auf das hohe und niedere Gericht verzichten mußte.

Dies war das Ende der Selbstherrlichkeit der altmärkischen Städte. Mit Berlin und Frankfurt a. d. Oder trat Stendal aus der Hanse aus. Allmählich begann Berlin, als Residenz, Stendal und Tangermünde zu überflügeln. Eine neue Zeit bereitete sich vor, in der die Macht von den rührigen, hochstrebenden Republiken auf die Fürsten und ihre rechtskundigen Kanzler überging. Noch über ein Jahrhundert indessen sollte vergehen, bis die bisherigen Inhaber des Reichtums und des schaffenden Lebens in langen Bürgerkriegen ganz ausgesogen und entseelt worden waren. Wie in fast allen Städten kam in Stendal die niedere Bürgerschaft der reformatorischen Bewegung mit offenem Herzen entgegen und wie anderwärts läßt sich hier die Beobachtung machen, daß die Musik bedeutenden Anteil an der Verbreitung der neuen Lehre hatte. Wie die alten Kirchen verlassen wurden, regte sich in den Tiefen der Seele die Kraft, unsichtbare Dome zu bauen aus Tönen. Die eigenste und schönste Gabe, die die Deutschen der Menschheit zu geben bestimmt waren, tauchte melodisch aus dem Gemüt des Volkes hervor. Auch mit seinem Musikbedürfnis und seinem musikalischen Schaffen war Luther der schicksalhafte Vertreter seiner Germanen. Als der Mönch Lorenz Kuchenbäcker im Sommer des Jahres 1530 in der Franziskanerkirche von Stendal nach der neuen Lehre predigte, forderte er seine Zuhörer auf, die Lutherschen Gesänge anzustimmen. »Wer't kann, de heve an«, sagte er, »ik kan et nich.« Er mochte wissen, daß es nicht an Kundigen fehlte, und sich darauf freuen, die Lieder zu hören, deren Rhythmus und Weise die Kerzen erschütterte. Er täuschte sich nicht: Handwerksgesellen, die die weitverbreiteten von der Wanderschaft mitgebracht hatten, huben an zu singen und andere fielen bald ein. Seit diesem Tage wurden dem Verbote des Rats zum Trotz die Lieder bei jeder Predigt gesungen.

Kurfürst war damals Joachim I., ein streng katholischer, despotischer Mann, der vor keiner Gewalttat zurückschreckte, wenn es darauf ankam, den alten Glauben, den er als die Grundlage seiner Herrschaft ansah, zu stützen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte der Kaiser in Worms Luther das freie Geleit gebrochen; seine Frau, die dänische Prinzessin Elisabeth, die mit Luther persönlich bekannt und befreundet war und das Abendmahl in beiderlei Gestalt genommen hatte, wollte er einmauern lassen. Er hat 70 Adlige hinrichten und 38 Juden verbrennen lassen, weil sie, die letzteren, zwei Oblaten entweiht haben sollten. Dieser radikale Mann dachte mit dem Unfug in Stendal rasch aufzuräumen und schickte einige Räte hin, die die Sache untersuchten und das Singen Lutherischer Gesänge für die Zukunft verboten. Ein Teil des Volks, aufgeregt und angeführt durch Lorenz Kuchenbäcker, griff das Rathaus an, während andere Bürger das Leben des Rats und der kurfürstlichen Abgesandten mit den Waffen beschützten. Zur Strafe für diesen Aufruhr wurden sechs Schuldige enthauptet; aber Joachim I. folgte ihnen bald in den Tod, seinem Sohne den Platz räumend, der ein Anhänger der Reformation war. Acht Jahre nach jenem Aufstande predigte Justus Jonas in der Marienkirche, und ein anderer Freund Luthers, Dr. Conrad Cordatus, wurde Pfarrer im Dom und Superintendent aller Geistlichen in Stendal. Von ihm sagte Luther, wenn er, Luther, sollte verbrannt werden, würde Dr. Pommer wohl mit ihm bis ans Feuer gehen, Cordatus aber mit ihm ins Feuer. Er war zu Weißenkirchen in Österreich ob der Enns geboren, von bäuerlichen, hussitischen Eltern; von ihnen mochte er die Kraft der Überzeugung geerbt haben. Er studierte in Wien und Ferrara, wurde Pfarrer in Ofen, erlitt Verfolgung und Gefängnis, bis sein Leben voll Kampf und Mühe sich in Stendal rühmlich beschloß.

Politisch schon bedeutungslos geworden, wurde die einst reiche Stadt durch den Dreißigjährigen Krieg wirtschaftlich zugrunde gerichtet. Die kurfürstliche Regierung tat nichts, um die durch Freund und Feind gleicherweise Gequälten zu beschützen. Als sie in ihrer Not einen um Hilfe flehenden Brief an den Kurfürsten richteten, kam anstatt des Beistandes eine unwillige Antwort, weil in der Klage ein Vorwurf liege, als sei die Regierung untätig. Das gute Pommerland, hieß es, werde auch in den Grund hinein verderbt, aber mit so ungebührlichen Protestationen sei noch niemand aufgezogen. Stendal mußte also lernen, zu leiden ohne zu klagen, versuchte es aber doch noch mit einer Abordnung an Tilly, dessen Truppen damals die Stadt besetzt hatten. Der Alte empfing die Herren freundlich und erwog ihre Beschwerden mit dem Ernst, der Bedächtigkeit und Güte, die ihn vor vielen Feldherren seiner Zeit auszeichneten. Er hatte für die Klagen Verständnis und mit dem Elend der Bürgerschaft Mitleid, bedauerte, sie nicht ganz entlasten zu können, versprach aber soviel als möglich dazu zu tun und erließ entsprechende Befehle. Pappenheim, brutal und habgierig, suchte derartige Weisungen zu umgehen und bei der Umständlichkeit des damaligen Verkehrs war es seinem Vorgesetzten nicht möglich, immer selbst die Vollziehung seiner Befehle zu überwachen.

Als der Krieg sich ausgerast hatte, war Stendal eine tote Stadt. Im Winter des Jahres 1694 zeigte sich ein Wolf in den Straßen wie in einer Wildnis. Noch ein paar tausend verarmte Einwohner hausten in den erhaltenen Häusern. Die Ruinen der Marienkapelle im Westen des Doms, die im Dreißigjährigen Krieg abgebrochen worden war, blieben hundert Jahre lang liegen.

In diesem herabgekommenen Gemeinwesen wurde im Jahre 1717 als Sohn eines armen Schusters Johann Joachim Winkelmann geboren, kein Herrscher in der Welt wie die Kagelwit und Bismarck, sondern im Reiche der Geister. Daß aus der einst blühenden Handelsstadt der Altmark zwischen herrlichen Gebilden mittelalterlicher Kunst und ärmlich beschränkter Umgebung ein Mann hervorging, der durch angeborene Sehnsucht nach Schönheit den Sinn für die griechische Kunst wiedererweckte, das gehört zu den Wundern der Entstehung des Genies.


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