Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Stadtwappen

Wetzlar

Seit dem Jahre 1495 waltete das Reichskammergericht in Speier, das bestimmt war, auf dem Wege gerichtlichen Prozesses zu schlichten, was bis dahin mit dem Schwerte ausgemacht wurde. Nicht mehr heftete der Ritter, dessen Knecht eine Stadt abgefangen und in den Turm gelegt hatte, den Fehdebrief an ihre Tore; die Reichsstände, die beide auf das gleiche Gebiet Erbansprüche zu haben behaupteten, überzogen sich nicht mehr mit Krieg, sondern warteten auf die Entscheidung des Kammergerichts, meist sehr lange. Als die französischen Raubkriege am Ende des 17. Jahrhunderts die Pfalz bedrohten und schließlich verwüsteten, sah sich das erschreckte Reichskammergericht nach einer anderen Stätte um, wo es sich niederlassen könnte, und wo es gesicherter wäre. Es eignete sich dazu nur eine Reichsstadt, und zwar eine von Frankreichs Grenze hinreichend entfernte; man wies daraufhin, daß im 15.Jahrhundert, als man Speier bezog, Lothringen, Elsaß, die Freigrafschaft und sogar das Erzbistum Besançon, damals Bisonz, noch zum Reich gehörten und die Pfalz deckten. Die Städte, an welche man zunächst dachte, verlockte die Aussicht, das Kammergericht zu beherbergen, durchaus nicht; denn sie fürchteten die Einmischung der hochgeborenen Herren, die demselben vorstanden, in ihr Regiment. Frankfurt, Schweinfurt, Augsburg, Memmingen widersetzten sich nachdrücklichst; in Mühlhausen in Thüringen und Dinkelsbühl war die Bürgerschaft dem Plane geneigt, nicht aber der Rat. In Friedberg und Wetzlar lagen die Dinge anders; da war kein hochmütiges Patriziat, auf nichts als auf seine Alleinherrschaft bedacht, da bestand der Rat aus kleinen Kaufleuten und Handwerkern, welche froh waren, durch den Zuzug vieler wohlhabender Familien ihre Einnahmequellen zu vermehren. Die verschiedenen Kommissionen, welche Wetzlar in Augenschein nahmen, stellten fest, daß die Bürgerschaft 400 Mann stark sei, worunter nicht über 20 Katholiken wären; die Nahrung der Bürger sei Ackerbau, Viehzucht und Tabaksbau, das übliche Getränk Bier, Wein werde wenig getrunken. Sie lobten Luft und Wasser als gesund, die wohlfeilen Preise und die Obst- und Gemüsegärten, welche die Stadt umgäben, auch drei Apotheken und 2 Ärzte gebe es. Dagegen wären die Häuser mit Stecken geflochten und mit Lehm übertüncht, meist mit Stroh gedeckt und ohne Brandmauern, was Feuersgefahr bedeute, und das Wasser müßte bei Feuersbrünsten von der Lahn heraufgeschafft werden. Nur wenige Häuser wären aus Stein oder hätten steinernes Erdgeschoß, auch hätten sie nicht einmal rechte Küchen und gemauerte Schornsteine. Da die meisten Zimmer der Erdgeschosse zu ebener Erde wären, herrsche Feuchtigkeit und wegen der Pferde, Rinder und Schweine, die die meisten Bürger hielten, übler Geruch. Die Straßen wären teils gar nicht, teils schlecht gepflastert und sehr unflätig. Es sei ferner keine Post vorhanden, die Briefe müßten zur Beförderung nach Gießen getragen werden, mit der Kaufmannschaft sehe es schlecht aus, es mangle an geschickten Handwerkern und an allerlei Gewerbe. Die Schulen wären so schlecht, daß man die Kinder schon im zarten Alter auf auswärtige Schulen würde schicken müssen. Die Stadt liege an einem Abhang, so daß das Fahren in Kutschen beschwerlich und bei Schnee und Glatteis auch das Gehen für nicht wohlgeübte Fußgänger gefährlich sein würde. Kurz, Wetzlar sei, obwohl eine Reichsstadt, so gar unansehnlich, daß das Kammergericht ohne Verminderung der ihm gebührenden Achtung und selbst ohne Nachteil der Hoheit des Heiligen Römischen Reichs darin nicht wohnen könne. Niemand erwähnte die liebliche Lage der hügelumgebenen Stadt, die uns so anzieht; ein Kammergerichts-Prokurator schilderte Wetzlar »als einen bergigten, nahe an einem unfreundlichen Himmel gelegenen Ort, als einen nicht durch den Geist ihrer Bürger, sondern durch die Beschaffenheit eins von der Natur stiefmütterlich behandelten Bodens fast unwirtlichen Aufenthalt, des verjagten höchsten Reichsgerichts letztes Los und rauher Wohnsitz«.

Es scheint indessen, daß diese schonungslosen Urteile etwas übertrieben und von Katholiken ausgegangen waren, die ein Mißfallen an der wesentlich protestantischen Richtung der Stadt hatten; denn als der Stadtrat sich bereit erklärte, den Franziskanern mehr Platz anzuweisen, ihnen das Almosensammeln zu gestatten, öffentliche Prozessionen in wie vor der Stadt zu erlauben, ja sogar die Jesuiten aufzunehmen, milderte sich der Widerstand sichtlich, und als der beflissene Magistrat außerdem noch Abschaffung der Strohdächer und Reinhaltung der Straßen und Plätze versprach, kam es zur Einigung. Eine dringende Einladung von seiten Dinkelsbühls hatte keine andere Folge als einen Wechsel von Schmähschriften zwischen den beiden Städten.

Im Jahre 1693 konnte das Kammergericht in Wetzlar feierlich eröffnet werden, wobei der Erzbischof von Trier vom Thron herab eine Rede hielt. Anstatt jedoch die Streitigkeiten anderer zu entwirren, gerieten die Herren untereinander in schwere Mißhelligkeiten, die durch die Willkür und den Hochmut des älteren Präsidenten, Freiherrn von Ingelheim, genährt wurden. Es bildeten sich zwei Parteien, deren Mittelpunkt auf der einen Seite Ingelheim, auf der anderen der jüngere Präsident Reichsgraf von Golms-Laubach war. Während Ingelheim beschuldigt wurde, den Lauf der Gerechtigkeit zu hindern, klagte Graf von Wartenberg, ein Anhänger des Ingelheim, den Grafen Solms der Parteilichkeit an. Ingelheim drohte einem Herrn von Pyrk den Degen in den Leib zu stoßen und Nytz ging so weit zu erklären, daß Pyrk von seiner Hand sterben müsse, sei es auch in der Kirche. Kam es dazu auch nicht, so beschlagnahmte doch die Ingelheimsche Partei die Besoldung des besonders verhaßten Pyrk. Dieser scheint allerdings ein sehr bissiger, dabei nicht unwitziger Mann gewesen zu sein; er ließ das kaiserliche Reskript, das zu seinen Gunsten sprach, drucken und setzte ihm als Motto den Vers aus den Psalmen vor: »Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringt, ihre Rachen sperren sie auf wider mich wie ein reißender und brüllender Löwe.« Er nannte ferner den Kammergerichts-Prokurator Flender, der zur Ingelheimschen Partei gehörte, vor Zeugen einen Schelmen und galgenwürdigen Gaudieb. Schelm und Dieb waren offenbar die damals unter Kavalieren üblichen Schimpfworte. Flender schob die von Pyrk gegen ihn ausgestoßenen Beschimpfungen zurück und erklärte, ihn so lange für einen galgenwürdigen Schelmen halten zu wollen, bis Pyrk entweder ihm ein galgenmäßiges Schelmenstück nachweise oder die ausgestoßene Beleidigung widerrufe. Pyrk unterließ beides. Inzwischen war vollständiger Gerichtsstillstand eingetreten, und die ruhigen Elemente verlangten nach einer außerordentlichen Visitation, die der Sache ein Ende mache.

Es begab sich um diese Zeit, daß ein marktschreierischer Zahnarzt mit einer Truppe von Gauklern und Seiltänzern nach Wetzlar kam und seine Bühne auf dem Marktplatz, dem alten Rathause gegenüber, aufschlug, welches der entgegenkommende Rat dem Kammergericht abgetreten hatte. Die Gaukler führten eine Posse auf, worin als Hauptperson ein Richter figurierte, der, feierlich mit dem Szepter in der Hand, auftrat, um einen Prozeß zu führen, aber der Bestechung zugänglich war und zuletzt offener Verhöhnung anheimfiel, indem der Hanswurst die Kleider mit ihm tauschte und sich statt seiner auf den Richterstuhl setzte. Graf Solms-Laubach, der als Biedermann geschildert wird, sah die Posse für eine heillose Satire an, die das Kammergericht verspotte, und beschuldigte den älteren Präsidenten, Freiherrn von Ingelheim, der Aufführung mir Wohlgefallen zugesehen und sogar die Gaukler beschenkt zu haben. Mit Hilfe des Kaisers setzte er durch, daß der Schauspieldirektor und Zahnarzt, es war Joh. Eisenbart, seine Bühne vor dem Rathause abbrechen und an einer anderen Stelle aufrichten mußte.

Inzwischen hatte Herr von Pyrk verschiedene Streitschriften drucken lassen mit langen Titeln, von denen der eine anfing »Gedämpftes Ehrengift«, der andere »Pyrkisches Echo oder Widerschall, d. i. abgedrungene Retorsion und Ehrenrettung«; er erklärte in der letzteren die ganze Ingelheimsche Partei für galgenmäßige Schelme. Die Kammergerichts-Visitation, die endlich in Wetzlar eintraf, verlangte zuerst von allen, die einander beschimpft hatten, die Beschimpfungen zu beweisen; das veranlaßte neue Schriften, über deren Verfassen und Drucken wieder lange Zeit hinging. Die Untersuchung schloß damit, daß Ingelheim und Nytz freigesprochen wurden, Pyrk dagegen wurde seiner Stelle entsetzt und seine Schmähschriften wurden vor seinen Augen durch den Kammergerichts-Pedellen zerrissen und ihm vor die Füße geworfen. Es war eine für die Sieger vielleicht nicht ganz so befriedigende, aber für das Opfer leidlichere Rache, als wenn man ihm, wie es vor 100 Jahren wohl geschah, das Herz aus dem Leibe gerissen und ins Gesicht geschmissen hätte. Übrigens hatten die Visitatoren wohl den Auftrag gehabt, den Freiherrn von Ingelheim zu schonen; denn Pyrk wurde bald darauf »wegen seiner beim Reichskammergericht bewiesenen Treue und nützlichen Dienste und im Hinblick auf seine bekannten guten Eigenschaften« zu einem böhmischen Oberappellationsrat auf der Herrenbank ernannt. Im Jahre 1711 wurde nach siebenjährigem Stillstand das Gericht wieder eröffnet. Fast wäre der Streit sofort aufs neue ausgebrochen, weil die Abgeordneten des gräflich wetterauischen Collegii und des Collegii der Prälaten in einem mit 6 Pferden bespannten Wagen zu fahren beanspruchten wie die Abgeordneten der Reichsfürsten; aber es gelang, den Unfrieden im Keime zu ersticken. Seit die Fehden im Reich nicht mehr mit dem Schwert, sondern mit dem Wort ausgefochten wurden, waren ihrer nicht weniger geworden, und der Verzicht auf die Selbsthilfe hatte die Menschen zwar äußerlich gesitteter, aber weichlicher, kleinlicher und würdeloser gemacht; man begreift, daß ein Jerusalem in dieser Umgebung zum Selbstmord kam, und daß der Freiherr von Stein ihr an gewidert den Rücken wandte.

Von Zeit zu Zeit tauchte im Schoße der Kammergerichtsgesellschaft der Wunsch auf, Wetzlar wieder zu verlassen. Man zählte alle Mängel der Stadt von neuem auf: ihre schlechten Wege, die schlechte Polizei, indem das Landvolk die Preise der Waren nach Belieben selbst bestimmte, die Baufälligkeit des alten Rathauses, die Lage des Kirchhofs inmitten der Stadt. Das Beerdigen am Markte, das in fast allen Städten des Reichs schon mit dem 16. Jahrhundert nicht mehr stattfand, verursachte so heftige und gefährliche Ausdünstungen, daß man, so hieß es, im Sommer vor Sonnenaufgang über dem ganzen Platz einen blauen Dunst wahrnehmen könne. Mit einiger Nachgiebigkeit hinsichtlich der Franziskaner und Jesuiten pflegte der Rat die Anstände zu überwinden; er verlegte nun sogar den Friedhof vor die Mauern, wo sich zwar zuerst niemand begraben lassen wollte. Wie man in manchen Sagen dem Teufel, der die Brücke gebaut hat und zum Lohn die Seele dessen fordert, der zuerst hinübergeht, einen Hahn oder Pudel entgegentreibt, so schickte man hier eine verstorbene Henkersgattin voran, womit der Bann gebrochen war.

Im Zusammenhang mit Beerdigungen entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen dem Kammergericht und der Stadt Wetzlar ein merkwürdiger Streit. Der damalige Kammergerichtspräsident Graf Karl von Wied verlor seine Gattin durch den Tod und wollte ihre Leiche nach dem Wiedschen Erbbegräbnis in Runkel führen. Da nun sowohl die Stadt Wetzlar wie der Landgraf von Hessen als Schutzherr der Stadt das Recht in Anspruch nahmen, dem Leichnam bis an die Grenze des Stadtgebiets das Geleit zu geben, kam es zu ernstlichem Streit und sogar zu Tätlichkeiten, worauf der Graf von Wied um des Friedens willen sich dazu bequemte, die Verstorbene in der Stiftskirche von Wetzlar beisetzen zu lassen, weniger nachgiebig als der Graf von Wied war die Witwe des ersten Kammergerichtspräsidenten, jenes unbeliebten, triumphierenden Freiherrn von Ingelheim, der dreiundachtzigjährig starb. Ohne sich durch die Wetzlarer Stiftskirche locken zu lassen, ließ sie den Leichnam in einen Sack stecken und in der Abenddämmerung durch Heiducken fortschaffen, die, wie man sich erzählte, an der Grenze den Sack über die Mauer geworfen hätten.

Es scheint nicht, daß die Anwesenheit des Kammergerichts der armen Stadt Wetzlar die erhoffte Blüte gebracht habe, wenn sie auch die Ursache war, daß der junge Goethe dort unsterblichen Liebesschmerz erlebte, der für alle Zukunft einen Glanz auf die alte Reichsstadt warf. Damals hatte sie nichts, um sich über ihr fadenscheiniges Dasein zu trösten, als das Bewußtsein einer schöneren Vergangenheit, das die Kaiser nährten, die ihrerseits an den letzten, ihnen gebliebenen Reichsrechten festhielten. Wenn der Landgraf von Hessen, der schutzherrliche Alp, allzu drückend wurde, wandte sich die Stadt klagend an den jeweiligen Kaiser, der dann verwarnend eingriff. Joseph I. schrieb dem Fürsten, er könne nicht gestatten, daß die Stadt Wetzlar an ihrer Unmittelbarkeit, ihren Landeshoheiten und Rechten, ihren Freiheiten und Privilegien, die sie kundbarlich von kaiserlicher Majestät und dem Reich habe, gestört und verkürzt werde; er versehe sich dazu, daß der Herr Landgraf aus dem ihm zustehenden Schutzrecht keine Gewalt und Obrigkeit machen wolle. Karl VI. erneuerte die Mahnung und fügte hinzu, er wolle nicht leiden, daß die Stadt Wetzlar gleichsam in eine Munizipalstadt umgeschaffen und unstatthaften Zumutungen ausgesetzt werde, sondern er wolle sie bei ihrer Unmittelbarkeit und den derselben anklebenden Gerechtsamen erhalten.

Als Joseph II. die Huldigung der Reichsstädte durch Kommissare einnehmen ließ, beschloß der Stadtrat im Verein mit dem Vertreter des Kaisers, dem Grafen Franz Spauer von Pflaum und Valme, die Festlichkeit mit Pomp zu begehen. Unter dem Läuten der Glocken und Donner der Geschütze hielt der Kommissar mit vier sechsspännigen Staatswagen und einigen vierspännigen Reisewagen seinen Einzug, begleitet von vier Hofkavalieren, nämlich einem Grafen von Spauer, einem Grafen von Firmian, dem Reichsgrafen Franz Karl von Metternich zu Virneburg und Beilstein und dem Freiherrn von Sternbach, von Edelknappen, Offizieren, Heiducken, Läufern und Lakaien und schließlich von der eigens errichteten und eingeübten Wetzlarer Bürgergarde, deren Offiziere blaue Uniformen mit gelben Unterkleidern und silberne Tressenhüte trugen. Am Neustädter Tore, wo die Ehrenpforte errichtet war, überreichten Bürgermeister und Rat die Stadtschlüssel und brachten ledige Bürgerstöchter einen Blumenstrauß mit schriftlichem Glückwunsch dar. Der Huldigungseid wurde auf dem Rathause geleistet, vor demselben fand die Huldigung der Bürgerschaft und zuletzt die der Judenschaft statt.

Trotz dieses Sichanklammerns an die Vergangenheit ging es abwärts. Im Jahre 1770 mußte die Wollenstrumpfweberzunft sich zahlungsunfähig erklären. Sie überließ die Walkmühle, die ihr gehörte, ihren Gläubigern und erklärte sich für aufgelöst. Ein großer Brand vernichtete mitten in der Stadt viele Häuser, darunter das Rathaus, den Sitz des Reichskammergerichts. Das alte Kaufhaus, wo der Stadtrat inzwischen getagt hatte, war schon Jahrzehnte vorher »bei einer gänzlichen Windstille« eingestürzt.

Jetzt sind neue Sterne über Wetzlar aufgegangen mit elektrisch hellem Licht: die beiden größten, umgeben von einem Gewimmel kleinerer, heißen Buderus und Leitz, Eisenwerke und optische Industrie, und haben der verarmten Stadt Zustrom von Geld und Menschen vermittelt. Vor ihnen erblaßt ein wenig der sanftschimmernde Himmelsstern Goethe, der sonst etwa Besucher nach Wetzlar lockte; aber noch heute suchen zuweilen welche das ehrwürdige Deutsche Haus auf, wo Amtmann Buff als Verwalter der Güter des Deutschen Ordens wohnte, und die anmutig vornehmen Räume, wo Lotte ihren Bräutigam und seinen glühenden Freund empfing. Kaum beachten sie den großartigen Zeugen des Mittelalters, den Dom, sowenig wie der junge Goethe, versunken in den Genuß seiner Schmerzen und seines Genius, ihn gewürdigt zu haben scheint.

Wenn man die schmale, steile Treppe hinaufsteigt, die von der Hauserstraße zum hochgelegenen Buttermarkt hinaufführt, steht man bestürzt vor dem phantastischen Bauwerk, das an den Turm von Babel erinnert, wie Maler des 16. oder 17. Jahrhunderts ihn etwa darstellten. Man fragt sich, ob das zum Dienst des Christengottes errichtet wurde, oder was für ungeheuren Göttern man hier Altäre baute. Allmählich entwirrt man sich das chaotische Gebilde: es ist ein Dom im Dom, ein alter romanischer Bau im Gehäuse eines gotischen, der nicht vollendet, so wie jener nicht ganz abgerissen wurde. Neben und hinter dem gewaltigen gotischen Turme steht der alte romanische aus schwarzem Basalt und ein dunkles altertümliches Portal mit zwei Rundbogen, in der Mitte getragen von einer zierlichen, adlergeschmückten Säule. Dieser Turm wird Heidenturm genannt, obwohl der spätere, gotische mit dem seltsam bekrönten Haupte titanischer wirkt. Der Eindruck der Absonderlichkeit läßt zuerst die Andacht der Schönheit nicht aufkommen; wenn aber die hereinbrechende Nacht das erhabene Ungetüm anhaucht und das beruhigte Monument, halb Pyramide, halb Obelisk erscheint, gibt man sich gern dem Zauber hin, der den gemütlichen Marktplatz in ein Fabelland verwandelt. Tatsächlich hat die so überraschend sich darstellende Kirche nichts Verfängliches oder Verhängnisvolles an sich; Protestanten und Katholiken teilen sich in sie, wie es scheint mit brüderlicher Vertraulichkeit.

Außer einigen schönen Häusern, die meistens aus dem 17. oder 18. Jahrhundert sind, dem Haus zum Reichsapfel, dem Gasthaus zum Römischen Kaiser, dem Gasthaus zum Adler am Kornmarkt, ferner dem Gasthaus zum Dom und dem Hotel zum Herzoglichen Haus, das zeitweise dem Kammergericht gehörte, am Buttermarkt, dem Jerusalem-Haus und anderen gutgebauten Häusern aus alter Zeit, außer der steinernen Lahnbrücke, die schon im 13. Jahrhundert da war, sowie das Hospital, von dem nur noch ein paar Glocken in das neue übergegangen sind, hat Wetzlar noch ein Denkmal besonderer Art aufzuweisen, das ich in der Frühe eines Sommermorgens aufsuchte. Aus der Stadt hinaus, am Friedhof vorüber, kommt man in die sich öffnende, von bewaldeten Hügeln begleitete Landschaft. Ein alter Wartturm taucht auf, der einst die städtische Landwehr befestigte, leuchtend wallen hügelige Fluren in die blaue Ferne. Zwischen betautem Grase am Fuße einer Anhöhe liegen zwei Steine, auf deren einem die Inschrift steht: »Monumentum facti et executionis Friderici Holstuch alias Tile Kolup, falso se imperatorem Fridericum II fingentis, in Wetzflaria capti, damnati, combusti, in hac valle imperiali tumulati, jussu imperatoris Rudolfi I MCCLXXXIV.« Auf deutsch: Denkmal der Tat und Einrichtung des Friedrich Holstuch, auch Tile Kolup genannt, welcher sich fälschlich für Kaiser Friedrich II. ausgab, in Wetzlar ergriffen, verurteilt, verbrannt und in diesem Kaisergrunde verscharrt wurde auf Befehl des Kaisers Rudolf I. 1284. Ein Herr von Gülich, dem der Kaisergrund gehörte, ließ Ende des 18. Jahrhunderts die Steine mit der von ihm verfaßten Inschrift setzen, auf der Notiz eines älteren Chronisten fußend, daß an der betreffenden Stelle sich ein derartiger Denkstein befunden haben solle.

Viele aus den Quellen gezogene Zeugnisse sprechen dafür, daß sich wirklich am Kaisergrunde bei Wetzlar die grausige Schlußszene eines tragischen Kampfes abgespielt hat.

Etwa dreißig Jahre nach dem Tode Friedrichs II., der in Italien sechsundfünfzigjährig starb, tauchte ein Mann auf, der eben dieser Kaiser zu sein behauptete. Es war ein schöner Greis, der dem Hohenstaufen glich; er schien sehr alt zu sein, aber er war rüstig und sein Gesicht erleuchtete oft jugendliches Feuer. Um sich zu beglaubigen, führte er Tatsachen an, die kein anderer als der Kaiser selbst oder seine nächsten Freunde hätten wissen können. Alte Ritter, die Friedrichs Feldzüge mitgemacht hatten, Bauern, Städte, ja Fürsten schlossen sich ihm an. Es war nicht nur, daß seine Liebenswürdigkeit, Leutseligkeit und Freigebigkeit hinriß: alle diejenigen, die mit Rudolfs Regiment unzufrieden waren, namentlich die Feinde des Papstes und der Pfaffen, hofften in ihm einen Führer zu finden. Dagegen bekämpfte ihn grimmig die von Rudolf begünstigte Geistlichkeit, allen voran der bei jedermann verhaßte Erzbischof Sifrid von Köln. Aus Köln verjagt, begab er sich nach Neuß, wo er begeisterte Aufnahme fand, und wo er sich zwei Jahre als Kaiser anerkannt hielt. Dieser Erfolg gab ihm den Mut zu einem allzu kühnen, aber folgerichtigen Schritte: er forderte nämlich König Rudolf von Habsburg auf, sich ihm zu stellen und seine Krone niederzulegen. Rudolf, der den falschen Friedrich bis dahin nicht recht ernst genommen hatte, rückte nun mit Heeresmacht vor Wetzlar; denn dort war der angebliche Hohenstaufe mit Freuden aufgenommen. Nicht unbewegt sah Rudolf der Begegnung entgegen; denn er hatte den Verstorbenen verehrt und hätte sich verpflichtet gefühlt, ihm zu weichen, wenn er ihn erkannt hätte; aber das war nicht der Fall. Da hingegen manche auf seine Seite traten, andere schwankten, unterwarf ihn Rudolf der Folter, die ihm das gewünschte Geständnis erpreßte, er sei ein Betrüger, heiße Dietrich Holzschuh oder Tile Kolup und habe vermittels schwarzer Kunst und Zauberei seine Rolle spielen können. Daraufhin wurde er zum Feuertode verurteilt und mit einem treugebliebenen Anhänger verbrannt, der Überlieferung nach dort, wo jetzt die Steine liegen. Auf der Anhöhe über dem Grunde standen als Zuschauer König Rudolf, Erzbischof Erich von Magdeburg, Bischof Volrad von Halberstadt, die Grafen von Anhalt, Wernigerode, Blankenburg, Leiningen und viele andere Herren und Ritter, vor allem natürlich der Erzbischof von Köln, der als Vorsitzender des Fürstengerichts das Urteil gesprochen hatte. Anwesend waren auch die Bürgermeister und Schöffen von Wetzlar, adlige Herren, die sich durch Auslieferung des Usurpators die Verzeihung des zürnenden Königs zu erwerben gewußt hatten. Durch die gewaltsame Lösung wurde das Dunkel, in das die Begebenheit gehüllt ist, nicht gelichtet; denn die durch Tortur erpreßten Aussagen sind belanglos. Wer war der Mann, der Kaiser Friedrich ähnlich sah? Woher kam er? Hieß er wirklich Dietrich Holzschuh? War er vielleicht ein Knappe des verstorbenen Kaisers gewesen und wußte er daher so viele ihn betreffende Dinge? War er ein Wahnsinniger oder ein Betrüger? Woher hatte er das viele Geld, das ihm zur Verfügung stand? War er durch Feinde des Königs gedungen?

Was ich an jenem Sommermorgen im Kaisergrund mit dem inneren Auge sah war so: Ich sah den rechtschaffenen König Rudolf, der ausgezogen war, einen unverschämten Betrüger und Friedensstörer zu strafen, betroffen von der wundersamen Erscheinung, die ihm vor den Toren von Wetzlar entgegentrat. Dieser Friedrich war ein Betrüger und doch keiner, weil er ein Wahnsinniger war, der der Kaiser zu sein glaubte. Und er war es, solange er es glaubte. War dieser Mann so alt, wie Friedrich hätte sein müssen, wenn er lebte? Manchmal schien er hundertjährig und älter und morsch, als müsse er vor einem Luftzug zusammenfallen; aber wenn sein Gefühl ihn hinriß, strahlte er von Kraft und Jugend, trotz des weißen Haars, das ihm wirr ums Gesicht hing. Er war ein Träumender und sprach seltsam ergreifende Dinge aus Tiefen des Traums. Er war Friedrich, verzehrt von Schmerzen und hell im Bewußtsein seines Namens. Er war ein Sinnbild herrlicher Vergangenheit und stand geisterhaft schaurig vor dem Bringer der neuen Zeit, dem der gemütliche Humor auf den Lippen erstarb angesichts dieser Flamme aus der Asche.

Solange Friedrich träumt, ist er der Kaiser und herrscht; aber wenn man ihn rauh antastet, ihn martert, dann erwacht er und ist ein armseliger, gehetzter Kranker, der sich fürchtet und zittert und nach Hause möchte. Irgendein Wort aber des Hohns oder der Schande stürzt ihn wieder in den Abgrund seines Wahns: er ist wieder Friedrich, der Kaiser. Er wirft sich in das Feuer wie in die Glorie, die ihm gebührt und besser ansteht, als vor der Verlegenheit der einen und dem verbissenen Hasse der anderen zu stehen. Rudolf handelt, wie er muß, wenn er den Betrüger, den Zerstörer seines Friedenswerks aufopfert; und dennoch, solange die beiden sich gegenüberstehen, ist Rudolf der falsche und der mit Purpurfetzen behangene Bettler der echte Kaiser, der Hohenstaufe, der von Gottes Gnaden.

Friedrich:

So empfängt Habsburg seinen Kaiser! Knechte dingt er,
Nicht ihn zu stützen, denn er ist sehr alt,
Nein, ihn zu greifen, vor sich herzustoßen
Als einen Missetäter. Rudolf! Hättst du das geglaubt,
Wenn jene umbrische Sibylle dir's
Geweissagt hätte,
Die bei Arquata uns den Weg vertrat?
Sie griff in deines Rappen Zügel, hielt ihn,
Ein alt gebrechlich Weib, und rief: Heil dir,
Gottes Erwählter! Hoch, hoch wirft du steigen
Und dein Geschlecht! Du sprachst, zu mir dich wendend:
»Die Törin sieht nicht weiter als ein Maulwurf.
Nie steig ich höher, Herr, als du mich hebst
In deiner Gnade; und ob hoch oder nieder,
Findst du mich treu.« Was sagte ich darauf?

Rudolf:

Im tiefsten Busen regt sich ein Erinnern,
Haucht auf verwischte Bilder. War's in Umbrien,
Wo uns, als wir am Quell vom Pferde stiegen,
– Uns dürstete – ein Trupp Banditen überfiel
Und den von Arnstein fingen und entführten,
Des roter Bart sie trog, als wär's der Kaiser?

Graf v. Katzenellenbogen:

So hört ich's einst von meinem Vater sagen,
Der auch dabei war!

Friedrich:

Katzenellenbogen?
Ich seh, du bist sein Sohn. Gleichst ihm zwar wenig,
Er kurz und fett, du schlank, fast wie ein Mädchen;
Doch deine Augen sind's, die ihn bezeugen.
So schmale hatt' er, bläulich spiegelnde,
Daß ich ihn wohl zu necken pflegte,
Sein Vater hab ihn aus Jerusalem
Von einer Sulamith.

Graf v. Katzenellenbogen:

Ist das Magie nicht,
Spricht Wahrheit hier. So wärst du Kaiser Friedrich!
Mir ist zumut, als drehte sich der Himmel!

Friedrich:

Ihr zögert, schweigt. Grüßt mich denn keiner, keiner
Erkennt mich? Bin ich nicht mehr ich,
Weil Schnee mein Blondhaar deckt, weil Alter
Und Kummer meinen stolzen Rücken krümmte,
Die Wange einfiel, die einst straff und braun?
Kenn ich doch euch und weide mich
An euren Zügen, draus Vergangenheit,
Zeit meiner Jugend, meiner Herrlichkeit
Wie aus dem Spiegel glänzt, und ihr steht stumm,
Verlegnen Blicks. Ihr werft euch nicht
In meine Arme, auf die Knie vor mir,
Dem letzten Staufer, den ein Wunder sparte!

Graf v. Regenstein:

Eben das Wunder lähmt uns. Kaiser Friedrich,
Den Gift zu früh entseelte, liegt begraben
Im Dome zu Palermo. Wenn er lebte,
Hätt' er geschwiegen, als der Feinde Wut
Ihm Söhn und Enkel schlachtete? Der Frauen
Und Kinder selbst nicht schonte? Wär' er nicht,
Ein Löwe, starken Sprungs in Feindes Nacken
Gefallen? Läg' er nicht im Grabe, Staub,
Soweit er Fleisch war, hätt' er zugesehen,
Wie Konradins, des Knaben, edles Haupt
Das Beil des Henkers abhieb? Zugesehen,
Wie Manfred mit Verrätern rang und fiel?
Und ohne Hülf und Rache Heinz, den Liebling,
Im Turme wimmern hören?

Friedrich:

Schweig!
Grausamer, schweig! Reiß nicht von meinem Herzen
Die Narbe! Glaubst du etwa, in der Hand
Wägen zu können, was ich litt? Kein Abgrund
Faßt all die Qualen, die mein Herz ertrug.
Von meinem Reiche fern hab ich Jahrzehnte
In Knechtsgestalt gelebt, mein Bettlerelend
Gefristet. Und in Lumpen noch gefürchtet,
Erkannt zu werden. Sie verfolgten mich
Noch übers Meer, nach Asien, Trapezunt
Und Persien. Dies gesalbte Haupt
War feiler Mörder Ziel. Der große Gaukler
In der Tiara war auf meinen Fersen.
Ach, daß der Haß scharfsichtiger, treuer ist
Als Liebe! Häscher und Banditen, die
Erkannten mich! Syrien und Palästina
Verbarg mich ihnen nicht. Aus schmählichster
Vermummung blitzen sahn sie meiner Ahnen
Verderblich Adlerauge. Jener Wüstenscheik,
Der auf Kamelen flog, wie Wolken fliegen,
Weit – weit – unendlich weit – auch jener kannte mich
Und sandte Sklaven mir und Sklavinnen
Und Gold und Purpur, rot wie adlig Blut.
»Da man im Abendland,« sprach er, »den Herrn
Der Welt verstößt, heilig sei mir dein Haupt
In Dornen.« So der Scheik. Und weiter, weiter,
Rasende Flucht bei Nacht, bei Tagesgrauen
In alten Gräbern mit der Fledermaus
Verborgen. So verfolgte mich
Der böse Greis in Rom.


 << zurück weiter >>