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Stadtwappen

Görlitz

Oberhalb der Neiße, wo vor Jahrhunderten das wendische Dorf Gorlice lag, ziehen sich jetzt der alte und neue Nikolaifriedhof der Stadt Görlitz hin. Ein sanfter Abhang trägt zwischen verwildertem Kraut und wuchernden Büschen die altersgrauen Male, unter denen Geschlechter ruhen, die keiner mehr kennt. Manche bewegen durch ihre Schönheit das unbeteiligte Herz des vorübergehenden Wanderers: da neigt sich eine verhüllte Frau in zärtlicher Trauer über den Stein, der ihre Liebe deckt, da verziehen kleine Engel und Amoretten ihr Kindergesicht in Falten bitterlichen Schmerzes; eine vielstimmige Totenklage scheint unter dem unablässigen, leisen Flügelschlage der Zeit erstarrt, verwittert und auf immer verstummt zu sein. Symbole von kunstvoller, oft bizarrer Form, die den Anspruch ererbter Würden und gesammelter Verdienste anzeigen, bezeichnen die Gräber: figurenreiche Wappen, bekränzte Sarkophage, Pyramiden und Urnen, halb versunken und traurig vereinsamt in ihrer zerbröckelnden Pracht. Eine unverständlich gewordene, aufgebauschte Sprache reden viele von den verwaschenen Inschriften. Hier ruhen die Gebeine des wayl. Hoch-Eddlen, Vesten- und Hochbenahmten Johann Ferbers. Dieser wurde Ao. 1658 am 12. Febr. allhier gebohren, auf hiesigem Gymnasio und der universität Leiptzig wie auch in Holland, Engelland und Franckreich rühmlich qualificieret. Bey seiner glücklichen Retour Ao. 1684 den 26. Juny mit der Hoch-Edlen, Hoch- Ehr- Sitt- und Tugendbelobten, damahls Jgfr. Even Christianen geb. von Teitz und Goldenstern verknüpfft und zu einem vatter Sieben Liebekinder …

Oder: Steh Wanderer! Und beweine mit uns Hochbetrübten Adelichen Eltern, Hannß Siegmunden von Warnsdorff auf Schönborn und Fr. Helenen Marien geb. Warnsdorffin, den höchstschmerzlichen Todesfall unser hertzliebsten Tochter Agneten Tugendreich, welche durch unversehenes Umschlagen des Wagens im 18. Jahre ihres Lebens nebst Kutscher und Pferden ach! jämmerlich ertrunken und bey der Walck-Mühle todt herausgezogen … Auf der Höhe des Abhangs stehen nebeneinander mehrere Grabkapellen, die der Totengräber mit schweren, verschnörkelten Schlüsseln aufschließen kann. An den Wänden hängen voll Staub und Spinnweb die prunkvollen Wappen der Schön, der Schmidt, Färber, Seyfriedt, Schnitter, Moller von Mollerstain, Familien alten Stadtadels, die fast alle das Von verschmähten, außer wenn es sich auf das Gut bezog, auf dem sie saßen. Unter den schaurigkühlen Räumen unzugänglich liegen die Särge. Vor einer Gruftkapelle befindet sich ein Gitter, an dem ein Ring fehlt, und den kein Schmied so ersetzen kann, daß er nicht in der folgenden Nacht wieder abspränge; so wird erzählt. Es ist die Gruft des Gregor Gobius, dessen Familie aus Anklam in Pommern stammte, und der im Jahre 1656 Stadtrichter in Görlitz war. Er war ein Alchimist und auch sonst eine auffallende Persönlichkeit, ging im roten Rock und großer Perücke einher und trieb nach dem Tode sein spukhaftes Wesen in Görlitz fort. Knaben, die einmal, vor der Gruft spielend, riefen: »Gobsch, Gobsch, komm heraus!« erhielten von unsichtbarer Hand eine Ohrfeige. Auch wollen ihn viele um Mitternacht gesehen haben, wie er, den Kopf unter dem Arm, in einer mit vier Pferden bespannten schwarzen Kalesche dreimal im Kreise herumfuhr. Seine Tochter Anna Margarete war die Letzte des Geschlechtes; sie war zur Schwedenzeit mit einem schwedischen Fähnrich namens Johann Loest verlobt, der, weil er seinen Posten bei einem der Stadttore verlassen hatte, von dem schwedischen Kommandanten zum Tode verurteilt und arkebusiert wurde. Die Braut vermählte sich schon im folgenden Jahre mit dem Stadthauptmann zu Görlitz, Albin Seyfriedt.

Auf dem unteren Teile des Kirchhofs liegt der berühmte Mystiker Jakob Böhme begraben. Das Haus am Ufer der Neiße, das er bewohnte, ist nicht mehr vorhanden, auch das alte Grabmal nicht mehr. Zwei Anhänger des von den Theologen angefeindeten Theosophen, von Tschech und von Franckenberg, setzten ihm ein Kreuz mit Sprüchen zu seiner Ehre; der Rat nahm daran Anstoß, entfernte es und ersetzte es durch eine gedrechselte Säule, auf der nur sein Name und das Jahr seines Todes stand.

Der Mann, welcher ihn hauptsächlich verfolgte, der Pastor Primarius Richter, hat seine Ruhestätte nicht weit entfernt auf demselben Friedhof. Jakob Böhme galt in Görlitz allgemein für einen, wenn nicht gefährlichen, so doch verstockten Schwarmgeist, erlangte aber ein ehrliches Begräbnis und eine Leichenpredigt. Ein Ratsherr schrieb über ihn in sein Tagebuch, die akademischen Theologen und Professoren hätten seine Schriften wegen der abscheulichen Gotteslästerungen, die sie darin gefunden, nicht beantworten wollen. Er habe seine Irrlehre nicht allein durch Bücher befördert, sondern auch unmittelbar, indem er sich auf seine Schüler gelegt und ihnen Hand auf Hand und Mund auf Mund seinen irrigen Geist samt seinen irren Gedanken eingehaucht habe, so daß der so Angehauchte tage- und nächtelang ebenso abscheuliche Sachen habe niederschreiben können wie Jakob Böhme selbst. Auch das Denkmal, das der Rat dem einsamen Denker zugebilligt hatte, verfiel mit der Zeit; jetzt ist sein Grab durch einen modernen Felsblock bezeichnet.

An Stelle des eisernen Gitters, das den Friedhof bis zum Jahre 1789 abschloß, stand früher ein hohes, breites Tor, auf dem unter einem Totenkopf mit kreuzweise gelegtem Gebein der Vers eingegraben war: Heut mir – Morn dir 1561. Die Toten und Lebenden begrüßte ein Spruch, in dessen hartem Ernst eine leise, grausame Schadenfreude hinein spielt. Von dieser Knappheit und Wahrhaftigkeit ist nichts mehr in den meist aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Aufschriften der erhaltenen Grabsteine, und doch liegen darunter die Nachkommen der Immergerüsteten, die einst den Hussiten trotzten.

Jener Markgraf Gero, der seinem Namen ein so edles Denkmal in der alten romanischen Kirche in Gernrode gesetzt hat, war der Besieger der Wenden, nicht ohne Trug und List zur Gewalt zu fügen. »Zu Lausitz erster Fürst war ich – Dreißig wendische Herren tötet' ich« – singt das Volkslied von ihm. Hundert Jahre später belehnte Heinrich IV. einen böhmischen König mit der inzwischen christianisierten Oberlausitz, zu der Görlitz gehörte, bis sie unter Karl IV., der zugleich deutscher Kaiser und König von Böhmen war, unmittelbar zu Böhmen geschlagen wurde. Im zwölften Jahrhundert begann der reichliche Zuzug westdeutscher Bauern und Handwerker, durch deren Kunstfertigkeit und Tätigkeit die Lausitzer Städte erblühten; es waren Flamländer darunter, die die Leineweberei und Tuchweberei einführten und dadurch den Grund zu Gewerbe und Handel legten. Auch Drang nach Freiheit brachten sie mit und rissen zuweilen die Eingesessenen mit fort; Erfolg hatte das aber nur, wo es das Interesse der Geschlechter betraf. Rasch entwickelte sich nun die Stadt: Um das Ende des 13. Jahrhunderts erscheint ein Bürgermeister, Christian Scultetus, an der Spitze des Rats, an die Stelle des landesherrlichen Vogts, der dem Gericht vorstand, trat der städtische Erbrichter, und das Magdeburger Recht, das schon gebräuchlich war, wurde der Stadt förmlich als Privileg verliehen. Unter den Privilegien König Johanns von Böhmen, des ritterlichen Fürsten, der blind wurde und in der Schlacht bei Crecy fiel, war das wichtigste, daß alle Kaufleute, welche Waid führten, woher sie auch kämen, sobald sie die Oberlausitz berührten, den Waid nur in Görlitz niederlegen und verkaufen sollten. Mit Waid pflegte man ehemals das Tuch blau, schwarz und grün zu färben, und er war deshalb für Städte, wo Tuch hergestellt wurde, unentbehrlich. Gebaut wurde die Waidpflanze namentlich in Thüringen und dort besonders in Erfurt, woher auch die Lausitz ihren Bedarf bezog. Das Waidstapelrecht war so wichtig für Görlitz, daß es auch befreundeten Städten gegenüber, die dadurch geschädigt wurden, rücksichtslos darauf bestand.

In der Zeit, wo sich im ganzen Reich die Nachbarstädte vereinigten, um dem hohen und niederen Adel die Stirn bieten zu können, schlossen sich auch sechs Städte der Lausitz: Bautzen, Görlitz, Zittau, Löbau, Lauban und Kamenz zu einem Schutz- und Trutzbündnis zusammen. Es ist ein Beweis für den Reichtum von Görlitz, daß es ein Drittel der bei etwaigen kriegerischen Unternehmungen entstehenden Kosten zu tragen hatte. Kaiser Karl IV., der eben damals seinem Vater Johann in Böhmen nachfolgte, bestätigte nicht nur das Bündnis, sondern gab den sechs Städten Vollmacht, Burgen, die der Sitz von Raubrittern waren, zu brechen. Sie hatten zu entscheiden, welche Burgen schädlich und zu zerstören waren, und im Zusammenhang damit eine Gerichtsgewalt, die an die Feme erinnert, aber im Gegensatz zu dieser öffentlich war. Das Lausitzer Gericht war aus Bürgerlichen und Ritterbürtigen zusammengesetzt; denn sowohl unter dem städtischen wie unter dem Landadel befanden sich Ritter, die das Raubritterwesen verurteilten, und diese sich zu verpflichten, lag im Interesse der Städte. Der Femrichter war immer von Adel. Karl IV., der im Reich die Städte vielfach schädigte, begünstigte die böhmischen und stattete Görlitz reichlich mit Privilegien aus, unter anderen mit dem wichtigen der eigenen Ratswahl, die schon vorher in Übung gewesen war. Einmal führte er persönlich einen Zug der Sechsstädter gegen eine schädliche Ritterburg an. Während also im Reich im engeren Sinne die Städtebündnisse oft eine Spitze gegen den Landesherrn hatten, stand das Lausitzer der Sechsstädte unter seinem Schutz.

Die Heldenzeit von Görlitz war das 15. Jahrhundert, dessen zweite Hälfte von den Hussitenkriegen erfüllt war. Die Görlitzer setzten ihre Befestigungswerke und Verteidigungsmittel in so guten Stand und führten für den Fall der Belagerung so energische Ordnungen in der Bürgerschaft durch, daß die Hussiten, die ringsumher alles verwüsteten, sich nie an Görlitz herantrauten. Auch in freiem Felde erlangten sie Vorteile über die Niebesiegten und wurden vom Kaiser Sigismund für ihr kriegerisches Verdienst durch das fürstliche Privileg ausgezeichnet, mit rotem Wachs siegeln zu dürfen. Daneben brachen sie mehrere Burgen und brachten andere, um sie unschädlich zu machen, durch Kauf an sich, wie sie denn die Landeskrone, den schöngeformten, schlanken Basaltkegel im Südwesten der Stadt erwarben, um sofort die, seine Spitze krönende Burg abzubrechen. Eine lange und schwere Fehde hatten die verbündeten Städte mit den Herren von Wartenberg auszukämpfen, die in Nordböhmen reichbegütert waren und viele Bundesgenossen hatten, aber doch, nachdem alle ihre Burgen gebrochen waren, sich einem Frieden bequemen mußten, der die Übermacht der Sechsstädte feststellte. Ein besonders kühner und erfolgreicher Zug von Görlitzer Stadtsoldaten und Söldnern, während der Fehde ins böhmische Land unternommen, wurde angeführt von zwei Görlitzer Ratsherren, Urban Emerich und Nikolaus Horschel, die etwa 20 Jahre später in ein tragisches Geschick sollten verflochten werden.

Noch zur Zeit der Hussitenkriege, als die Stadt Görlitz sich auf dem Höhepunkt ihres Lebens fühlte, tauchte dort, wahrscheinlich aus Glatz kommend, als Schwiegersohn des Bürgermeisters Rinkegießer, der etwa 35jährige Urban Emerich auf. Obwohl erst eben zugewandert, wurde er doch vom Rat sofort zu vielen Geschäften, politischen und militärischen, gebraucht, woraus man, wie auch aus seiner Ehe mit einem Mädchen aus vornehmer Familie, auf seine außergewöhnliche Tüchtigkeit schließen kann. Jahr für Jahr war Urban Emerich mit politischen Aufträgen unterwegs; er war sechzehnmal Schöppe und fünfmal Bürgermeister, er kaufte Mühlen und Dörfer und gehörte durch Würden und Reichtum zu den angesehensten Männern der Stadt. Über 60 Jahre alt verheiratete er sich zum dritten Male mit Agnete von der Heide. Damals jedoch waren seine glücklichen Jahre schon vorüber. Sein ältester Sohn aus erster Ehe, wie er Urban genannt, befand sich, man weiß nicht warum, in schlechten Geldverhältnissen und kam wegen Schulden in die Gefangenschaft einer Frau von Wartenberg. Diese Familie, ohnehin mit Görlitz verfeindet, hielt ihn sehr hart, und er bat flehentlich, ihn auszulösen. Man sollte denken, das wäre für seinen reichen Vater leicht gewesen; allein der hatte seine Güter schon an seine anderen Kinder vergeben und konnte offenbar für seinen unglücklichen Sohn nichts tun. Fünf Vierteljahre mußte Urban der Jüngere im Turm gefangen liegen, bis sich ein Herr von Gersdorf für ihn verbürgte; Gefangenschaft und Sorgen hatten ihn gebrochen, und er starb bald, zwei Jahre nach dem Vater.

Urbans zweiter Sohn aus erster Ehe, Georg, war etwa zehnjährig, als der Vater nach Görlitz zog. Er studierte die Rechte in Leipzig und ließ sich dann als Großkaufmann in Görlitz nieder; das ist alles, was man von ihm weiß, bis in seinem 42. Jahre plötzlich aus Stadtbüchern und Chroniken ein grelles Licht auf ihn fällt. Neben dem Emerichschen Stammhause am Untermarkt, dem jetzigen Gasthaus zum Baum, wohnte der angesehene Ratsherr Nikolaus Horschel, der aus seiner Ehe mit Benigna Lauterbach eine Tochter harte, die gleichfalls Benigna hieß. Frau Horschel hatte einen Bruder und eine Schwester, die mit Martin Schleife verheiratet war; sowohl die Lauterbach wie die Schleife gehörten zu den alten Görlitzer Geschlechtern. Es ist anzunehmen, daß Georg Emerich und Benigna Horschel als Nachbarskinder sich lange kannten; am Pfingsttage im Mai des Jahres kam es dazu, daß er sie im Hause ihres Vaters verführte. Hatte sie sich vielleicht ihm aufgedrängt? Wollte er sie nicht heiraten, eben weil sie sich verführen ließ? Er weigerte sich, es zu tun, als die Familie der Sache auf die Spur kam und Wiederherstellung der Ehre des Mädchens von ihm forderte. Die stolze Unbeugsamkeit, mit der Emerich allem Drängen der Familie widerstand, ihr entweder durch Heirat oder durch eine Buße Genugtuung zu geben, kränkte und reizte die Beleidigten aufs äußerste. Der Streit nahm solche Formen an, daß der Rat einschritt, dessen Behandlung der Angelegenheit dahin führte, daß der alte Urban mit seinen drei Söhnen geloben mußte, dem Rat 800 rheinische Gulden zu zahlen, eine sehr hohe Summe, die sie vermutlich nicht zur Hand hatten. Die Summe war nicht der gekränkten Familie, sondern dem Rat zu entrichten, weil Georg sich schwer dadurch verfehlt hatte, daß er seinen Fall vor ein fremdes Gericht hatte ziehen wollen. Indessen das Strafgeld wurde nicht gezahlt, und der alte Urban wurde gerade in dieser Zeit Bürgermeister; es scheint, daß die Partei im Rat, die für die Horschel sich eingesetzt hatte, durch die Emerichsche Partei überwunden wurde. Besondere politische Verhältnisse waren es, die den Rat mehr und mehr auf die Seite der Emerich drängten.

Nach dem Tode Kaiser Sigismunds fiel Böhmen an dessen Schwiegersohn Albrecht von Österreich und nach dessen frühem Tode an seinen nachgeborenen Sohn Wladislaus Posthumus, vom Volk zärtlich Lasla genannt. Vierzehnjährig zog er in Görlitz ein, um die Huldigung der Stadt entgegenzunehmen; er war, erzählt die Chronik, von schlanker Statur und holdseligem Antlitz, hatte leuchtende Augen und trug einen Kranz von Ringelblumen im langen blonden Haar. Er wohnte im Schönhof am Untermarkt, zusammen mit dem noch jugendlichen Reichsverweser Georg Podiebrad, der seine Wahl veranlaßt hatte und sich wie ein Vater zu dem Knaben stellte. Podiebrad hatte sich mit den gemäßigten Hussiten ausgesöhnt und wurde deshalb von den Tschechen geliebt, von den katholischen Deutschen gehaßt. Der Kanzler wohnte gleichfalls am Untermarkt in Urban Emerichs Hause; die Stadt hatte viel Geld ausgegeben, um dem jungen Könige den Aufenthalt angenehm zu machen. Als drei Jahre später der Siebzehnjährige plötzlich eines nie erklärten Todes starb, beschuldigten viele Deutsche insgeheim den Podiebrad als seinen Mörder, und als aus dem Statthalter der König wurde, zögerten sie, ihm die Huldigung zu leisten. Urban Emerich war bei dem Hilfsheer, das die Görlitzer dem Podiebrad stellen mußten, als er sich die Niederlausitz unterwerfen wollte, ebenso sein Sohn Urban, aber nicht Georg. Etwa um die Zeit, als sich der verhängnisvolle Liebeshandel im Hause des alten Horschel abspielte, berührte König Podiebrad Görlitz auf seinem Huldigungszuge. Entrüstet darüber, daß der Rat sich der Klage zu wenig annahm, die Emerich vielmehr unterstützte, schlossen sich die Familien Horschel, Schleife und Lauterbach eng an den König, dem der Rat und die Stadt im allgemeinen sich nur äußerlich fügte.

Ohne weiter belangt und belästigt zu werden, unternahm Georg eine Reise nach dem Heiligen Lande, vielleicht, weil der Vater ihn für eine Zeitlang aus Görlitz entfernen wollte, vielleicht auch als Sühne, die ein geistliches Gericht ihm auferlegte. War es eine Buße, so war es eine vergnügliche und ersprießliche für den Schuldigen, der als Ritter des Heiligen Grabes zurückkehrte. Die Überlieferung, freilich von der Wissenschaft nicht bestätigt, gibt ihm noch dazu als reizende Begleitung eine kluge, schöne und herzhafte Frau, die sich als Mönch verkleidet ihm angeschlossen hätte. Es war Agnete Fingerin, die Tochter eines reichen Görlitzer Tuchhändlers, deren viel älterer Mann nach kurzer Ehe gestorben war und sie kinderlos und im Besitz eines großen Vermögens zurückgelassen hatte. Obwohl es ihr nicht an Freiern mangelte, hat sie sich nicht wieder verheiratet. Ihr Andenken erhielt noch lange das von ihr gestiftete Agnetenbrot, eine Art von Semmeln, die jährlich einmal jedem, der sie begehrte, verabreicht wurden. Ihre schöne Gestalt und ihre schwarzen Brauen werden von der Chronik besonders hervorgehoben. Sie starb in hohem Alter im Jahre 1515. Wäre es möglich, daß die Liebe zu dieser geheimnisvollen Frau Georg Emerich gegen die zugemutete Verbindung mit Benigna Horschel gesteift habe? Warum aber hätte er jene nicht geheiratet? Wollte der stolze Mann keine Frau, die nicht den Geschlechtern angehörte? Oder wollte sie ihre Selbständigkeit nicht an einen herrschsüchtigen Mann verlieren? Warum brachte die Chronik sie in Zusammenhang?

In der Kirche zu St. Jakob, die zum Leprosenhause vor der Stadt gehörte, und die 1870 abgebrochen wurde, befand sich das Bild der Agnes Fingerin geb. Langin, die zugunsten des Spitals eine Stiftung gemacht hatte. Darunter standen die Verse: So war von Angesicht die Agnes Fingerin – die mit Herrn Emrichen als eine Pilgramin – im Mönchshabit gereist nach dem gelobten Lande – Als sie sich auf der Reiß unweit von ihm befande – ruft sie Ihn namentlich – Da er sie nicht gekannt – in der verstellten Art, biß sie sich ihm genannt – mit freudigem Gesicht. Nach ihrem Wiederkommen, – hat das Agnetenbrodt hier seinen Grund genommen – das man dem Reisenden, der es begehrt, gar leicht – und ohne einges Geld auf dem Weinkeller reicht. Die Inschrift stammt offenbar aus späterer Zeit, vielleicht aus dem Jahre 1732, in welchem die Kirche renoviert wurde. Tatsache ist, daß Agnes Fingerin auch eine Reise ins Heilige Land gemacht hat, doch soll sie nicht gleichzeitig mit der des Georg Emerich stattgefunden haben. Beide steuerten zum steinernen Ausbau der alten Kapelle zum Heiligen Kreuz bei; neben derselben ließ Emerich eine Nachbildung des Heiligen Grabes in Jerusalem errichten, die noch steht und jahrhundertelang als größte Sehenswürdigkeit von Görlitz galt.

Es geschah nun, daß im Jahre 1466 der Papst den hussitischen König Podiebrad in den Bann tat und alle seine Untertanen aufforderte, von ihm abzufallen. Während die Mehrzahl im Rat diesen Anlaß ergriff, um den stets Gehaßten zu verlassen, wenn auch zunächst noch nicht öffentlich, verbündeten sich die Horschel und ihre Verwandten, dazu noch einige andere Ratsfamilien, desto enger mit dem Landvogt, der Podiebrad in der Lausitz vertrat. Sie verschworen sich, die Stadt dem Könige auszuliefern, und sollen sogar die Absicht gehabt haben, sie in Brand zu stecken, eine Beschuldigung, die allerdings auf durch die Folter erpreßten Aussagen beruht. Am 8. Juni 1467 kündigten die Görlitzer dem Könige den Gehorsam und bemächtigten sich zugleich seiner Anhänger in der Stadt, und im Mai 1468, grade vier Jahre nach jenem Tage, an dem Georg Emerich die Benigna verführt und dadurch die unheilvolle Verwicklung eingeleitet hatte, wurden Martin Lauterberg und Martin Schleife enthauptet, viele Familien aus der Stadt gewiesen. Kurz vorher hatte sich Georg Emerich mit Barbara Knebel, einer reichen Breslauerin, verheiratet. Niemand weiß, was die Unterliegenden fühlten; aber es ist nicht anders möglich, als daß sich in ihrer Brust zur ungelöschten Rache die bitterste Bitterkeit mischte, wenn sie im Kerker unter Folterqualen und auf dem Blutgerüst an den Triumph dessen dachten, der sie entehrt und in schimpflichen Tod getrieben hatte, und vor dem nun eine königliche Laufbahn sich öffnete.

War der Bürgermeister von Görlitz eine kraftvolle, energische, selbstbewußte Persönlichkeit wie Georg Emerich, so konnte er sich König von Görlitz nennen. Er hatte diese Würde fünfmal inne und war einundzwanzigmal Schöppe, zu welchem Amt er als besonders berufen gehalten wurde. Luther, der das weltliche Regiment scharf und streng gehandhabt wissen wollte, damit das geistliche allein auf Freiwilligkeit beruhen könne, hat Georg Emerich als Muster eines rüstigen, tätigen Regenten angeführt, und das war er sicherlich. Indessen bezog sich seine Tätigkeit in erster Linie auf die eigene Bereicherung, und er gehört in die Reihe jener modernen fürstlichen Herrscher, die auf der Grundlage geordneter Finanzen womöglich das Regiment in ihre Hand zu bringen suchen, das Interesse des Gemeinwesens dem eigenen gleichsetzend, vor allem Ordnung bezweckend als Grundlage für Arbeit, Gewinn und einseitig verteilten Reichtum. Das Vermögen seiner ersten Frau brachte sein Handelsgeschäft in die Höhe; er handelte hauptsächlich mit Tuch, das er in Görlitz und nach auswärts verkaufte, außerdem mit Wolle, mit Getreide, mit den Karpfen, die er in seinen Teichen züchtete. Das durch Handel erworbene Geld legte er in Grundstücken in und außer der Stadt an. In der Stadt gehörten ihm außer seinem Wohnhause noch drei Häuser; vor den Toren erwarb er Städte, Dörfer, Güter, Teiche, Wiesen in solcher Menge, wie nie zuvor ein Privatmann besessen hatte. Sie waren mit Hörigen, den sogenannten armen Leuten besetzt, die eine große Menge von Abgaben in Naturalien zu leisten hatten. Er versteuerte das weitaus größte Vermögen in Görlitz, wo es unter den Ratsherren viele wohlhabende Kaufleute gab. Es scheint nicht, daß er durch seinen Reichtum die Stadt besonders gefördert habe. Wenn er ein Hospital für Pilger stiftete, so ist das im Hinblick auf seine Mittel nichts Außerordentliches. Die schöne, tiefempfundene Gruppe der Maria mit dem Gekreuzigten auf dem Schoße von Hans Olmützer, die er der Kirche am Obermarkt schenkte, könnte etwa für seinen Kunstsinn Zeugnis ablegen. Die Anekdoten, die von ihm überliefert sind, zeigen ihn als strengen, gerechten Regenten, so, wenn er seine Frau, es war die zweite, aus der Kirche weisen ließ, weil sie Borten trug, die nach einer neuerdings erlassenen Luxusvorschrift zu breit waren, oder wenn er zur Hochzeitsfeier seiner Tochter nicht mehr Gäste in sein Haus lud, als gestattet war. Er half sich zwar dadurch, daß er sie in Gasthäusern unterbrachte. Daß er einen Mann, der, in Pelz gehüllt, seine Frau und Töchter im Bade erschreckte, habe köpfen lassen, scheint kaum glaubhaft. Jedenfalls wurden Sittlichkeitsvergehen streng geahndet, ein Peter Frentzel wegen Ehebruchs aus dem Rat ausgestoßen, ebenso ein tapferer alter Krieger wegen Trunkfälligkeit und weil er, als ihm verboten wurde, im Weinkeller zu trinken, gesagt hatte, so werde er davorsitzend trinken. Zu einem Gärtner, der vom Baum gefallene Birnen beim Grasschneiden verletzte, sie verwahrte und das Versehen dem gefährlichen Herrn eingestand, soll er gesagt haben: »Zu deinem Glück hast du die Birnen nicht verzehrt; denn es wäre um dich geschehen gewesen.« Es sind Züge, die an Wallenstein erinnern. Kein einziger ist überliefert, der eine menschliche, liebenswürdige Seite des Mannes verriete. Selbst seinen Kindern gegenüber scheint er hauptsächlich der berechnende Hausherr gewesen zu sein, ausgenommen, daß er für die beiden Söhne aus zweiter Ehe eine Vorliebe hatte und sie gut zu versorgen suchte. Einer von ihnen, Caspar, studierte die Rechte in Bologna und wurde im Jahre 1504, offenbar noch sehr jung, Rektor der dortigen Universität.

Georg Emerich starb im Jahre 1507, 85 Jahre alt, und wurde in der väterlichen Gruft in der Nikolaikirche beigesetzt. Sein Grabstein an der äußeren Mauer der Kirche ist nicht mehr vorhanden. Im Wappen führte er eine Sirene mit Fischschwanz und ausgebreiteten Armen, die sowohl im Schild wie auf dem Helm erscheint.

Die Engherzigkeit der Oligarchie nahm ständig zu. Die Ratsherren pflegten sich stets wiederzuwählen, nicht einmal aus den ratsfähigen Familien strömten neue Elemente zu. Zu Emerichs Zeit wühlte einmal ein reicher Bürger namens Jakob Vierling unter der Bürgerschaft gegen das Ratsregiment, entfloh nach Bautzen, wurde nach Görlitz zurückgeführt, am folgenden Tage verhört, zum Tode verurteilt und enthauptet. Schnelle Justiz war im Mittelalter üblich, wo man noch kein ausgebildetes Gefängniswesen hatte, sondern die als schuldig Erkannten umgebracht oder ausgewiesen wurden; aber dieser Fall rechtfertigt doch die Meinung der Handwerker, daß der Rat »allzu geschwinde strafe«.

Noch einmal versuchte die Bürgerschaft, allen voran, wie immer, die Tuchmacher, die Allmacht des Rats zu erschüttern. Am Tage vor einer Ratswahl verlangten sie Aufnahme der Handwerker in den Rat. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, wie so oft in ähnlichen Fällen, welchen Vorteil die herrschende Partei durch ihr größeres Selbstvertrauen, ihr sicheres Auftreten, ihre Gewandtheit in der Behandlung aller Fragen des öffentlichen Lebens, kurz, durch ihre Gewohnheit des Herrschens hatte. Sie sperrten sofort den Zugang zur Peterskirche, wo die Unzufriedenen sich versammeln wollten, ließen die Führer kommen und hielten ihnen streng ihr Unrecht, wie sie es nannten, vor. Obwohl die Ratswahl ungestört vor sich ging, schritten die Sieger zu Verhaftung und Folter. Über diese durch nichts gerechtfertigte Härte empört, und weil sich alle Beteiligten bedroht fühlten, entschlossen sich die Unzufriedenen zu ernstlichem Vorgehen, Überrumpelung und Gefangennahme des Rats. Die Verschwörung wurde entdeckt, und die Rache des Rats traf die Bürgerschaft vernichtend. Sieben Anführer wurden enthauptet, andere wurden aus der Stadt gewiesen, alle waren gefoltert worden. Die, welche nach Breslau geflohen waren, wurden auf Ersuchen des Görlitzer Rats dort hingerichtet. Außerdem wurde den Zünften das Versammlungsrecht genommen; ihre Kraft war so gebrochen, daß nachher kein Aufstand mehr stattfand.

Der Gegensatz zwischen Rat und Handwerkern war zur Zeit dieser Bewegung dadurch verschärft, daß die Handwerker der Reformation anhingen, während die regierende Klasse sie ablehnte. Mit der Unterwerfung der Aufständischen hatte sie den revolutionären Charakter verloren und wurde als gültiges Bekenntnis von der Stadt angenommen. Noch im Jahre 1510, als Tetzel in Görlitz in pompöser Weise den Ablaß predigte, konnte er rühmen, nächst Köln habe er in Görlitz die reichste Einnahme gehabt; zwanzig Jahre später war der Übergang endgültig vollzogen.

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der Zeit, wo der Rat seine Macht innerhalb seines umfangreichen Gebiets auch durch Niederschlagen von Bauernaufständen neu und gründlich befestigt hatte, gab die künstlerische Tätigkeit eines Mannes der Stadt den baulichen Charakter, den sie heute noch hat: es war Wendel Roßkopf, der im Jahre 1519 das Werkmeisteramt in Görlitz übernahm und gleichzeitig die Witwe des Albrecht Stieglitzer heiratete, des Erbauers der Annenkirche, die von einem reichen Ratsherrn, namens Frentzel, gestiftet war. Wendel Roßkopf führte die Renaissance in dem noch ganz gotischen Görlitz ein und schuf in dem neuen Stil stattliche und harmonische Gebäude, die trotz ihres italienischen Charakters sich zu gotisch aneinandergedrängten, voll ausgefüllten, malerischen Gruppen zusammenfügen. Wenn die glückliche Anlage der beiden Märkte, die festen Türme mit den grünen Häuptern, das hohe und breite Dach der Kirche das Bild der Stadt im allgemeinen bestimmen, so ist das Rathaus am Untermarkt ihr Herz, ihr Kleinod und Wahrzeichen. Hier ist kurz vor ihrem Untergange, dem sie sich ferner als je fühlte, ihr blühendes, kräftiges Dasein in dauernder Gestaltung besiegelt.

Der dem Rathaus gegenüberliegende Schönhof mit seinem gastlich festlichen Portal, dem Erker, der schön bewegten Fensterreihe zieht das Auge des vom Obermarkt Kommenden vielleicht zuerst auf sich; die Rathausecke aber lenkt es bald ab und nimmt es vollends gefangen. In einem Winkel sind Portal und Fenster, die Kanzel, von welcher die Verordnungen des Rats verkündigt wurden, die zur hochgelegenen Tür führende, leicht geschwungene Treppe hineingedrückt, ohne doch beengt zu wirken. Die Justitia, die auf einer vom Eckpfeiler der Treppenbalustrade fest und zierlich aufsteigenden Säule steht und ihr Schwert hochhebt, scheint einen Zauberstab zu schwingen, der die kleine Bühne zur rauschenden Welt erweitert. Sie ist, diese Justitia, nicht gerecht, aber sie siegt; Fruchtgehänge, Meerweiber und Kränze verdecken das Blut, das in ihrem Namen vergossen worden ist; sie ist die Stadt selbst, die ihre Macht, Freiheit und Schönheit aus dem Schwall der Zeit gerettet hat.

Unvorbereitet traf das mächtige Gemeinwesen der erste Schlag, der seine Freiheit und seinen Wohlstand erschütterte. Der neue König von Böhmen, Karls V. Bruder Ferdinand, wurde bei seinem ersten Besuch in Görlitz mit einem Glanz und einem Geschmack empfangen, der ihn wohltuend berührte. Er bewies die Freude am Schönen, die den Habsburgern eigentümlich war, indem er sich eine Abbildung der Petruskirche ausbat und sogar, als das Geschenk auf sich warten ließ, daran mahnte. Indessen, im Gemüt der Mächtigen gewinnen diejenigen Regungen, die das Machtgefühl und die Machtgier nähren, die Oberhand; der Anblick des in Görlitz angesammelten Reichtums blieb dem König vielleicht als ein Stachel im Gedächtnis. Im ausbrechenden Schmalkaldischen Kriege war die Neigung der Stadt, wie es nicht anders sein konnte, auf seiten der Protestanten, und wenn sie auch Ferdinands Forderung der Waffenhilfe nicht abzuschlagen wagten, entließen sie doch ihre Truppen, bevor es zu eigentlichen Zusammenstößen kam. Sie selbst schrieben diese eigenmächtige Handlungsweise den hinterlistigen Ratschlägen des Adels zu, der in der Umgebung des Königs war und von ihm bevorzugt wurde. Görlitz hatte sich in der Bekämpfung des räuberischen Adels mehr als die anderen Sechsstädte hervorgetan, hatte sogar einmal zwei Kottwitze gefangen und in ihrer geschwinden Art enthauptet; infolge dieser Fehden hatte sich Haß und Rache in verschiedenen adeligen Familien angesammelt.

Als König Ferdinand Bürgermeister, Rat und Innungsälteste der beschuldigten Städte zur Verantwortung vor sich lud und die hohen Delinquenten diese Reise antraten, wurde in den Kirchen für sie gebetet, so düster sah man in ihre Zukunft. Sie gaben später als ihren Hauptfeind einen Herrn von Nostitz an, der sie unter dem Schein der Teilnahme überredete, sich nicht auf Unschuldsbeweise einzulassen, sondern sich auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Dies wurde als Eingeständnis der Schuld ausgelegt und die Strafe dementsprechend verkündet: die Städte insgesamt mußten 100 000 Goldgulden zahlen, wovon Görlitz der größte Anteil traf, und alle Freiheitsbriefe und Privilegien, die sie gleich hatten mitbringen müssen, ausliefern. Es ist ein Beweis dafür, wie sehr die Schwungkraft des Volkes geknickt war, aber auch, wie stark das protestantische Gefühl zusammenhielt, daß diese furchtbare Niederlage der Regierung nicht zu einem Aufstande ausgenutzt wurde; wenn es Mühe kostete, das Geld aufzutreiben, so waren es doch besonders die Reichen, die sich weigerten zu zahlen. Durch diesen sogenannten Pönfall, den Verlust der freien Ratswahl, der Gerichtsbarkeit, des Zunftrechts, der Landgüter, wurde Görlitz zu einer bedeutungslosen Landstadt herabgedrückt. Zwar erlaubte Ferdinand nach dem bald darauf erfolgten Tode des Nostitz der Stadt den Rückkauf mehrerer Landgüter; aber die Finanzen wurden dadurch nur noch mehr belastet und das Selbstgefühl nicht zurückgewonnen.

Während des Dreißigjährigen Krieges kam die Lausitz erst pfandweise, dann endgültig an Sachsen. Als der Kurfürst Johann Georg in Görlitz einzog und sich im Rathause huldigen ließ, da Bautzen, die Hauptstadt, durch einen furchtbaren Brand zerstört war, sprach der Adel den Eid stehend, Geistlichkeit und Städte kniend nach. Die Geschlechter waren von nun an hochmütiger als je gegen das Volk, erstarben aber in Demut vor dem Hofe. Die Stadt hatte damals noch 5000 Einwohner, etwa um die Hälfte weniger als zu ihrer Blütezeit.

Durch die Zertrennung Sachsens nach den napoleonischen Kriegen, wobei Görlitz und Lauban an Preußen fielen, wurde auch der Sechsstädtebund aufgelöst, der bis dahin noch, obwohl ohne Bedeutung, bestanden hatte.

Der im 19. Jahrhundert überall einsetzende Drang nach Luft und Licht räumte noch vieles von dem hinweg, was die zahlreichen Feuersbrünste, die im alten Görlitz wüteten, übriggelassen hatten. Zum Schutze des Erhaltenen ließ man später, als man seine Schönheit zu würdigen begann, die innere Stadt möglichst unberührt von der Ausdehnung, die das allmähliche Anwachsen der Bevölkerung erforderte, woher es kommt, daß viele stattliche und stilvolle Häuser Geschäftszwecken dienen oder von ärmeren Leuten bewohnt werden. Geht man über den Obermarkt, wo das übliche Kaiser-Wilhelm-Denkmal das alte Salzhaus in der Mitte des Platzes verdrängt hat, sucht man sich die geschmackvollen Barockfronten zu vergegenwärtigen, wie sie einst waren, bevor sie Schilder und Plakate verklebten. In den malerisch bewegten, geschwungenen Straßen rinnt schwacher Verkehr und durch die geschmückten Portale gehen ausdruckslos und dürftig gekleidete Menschen ein und aus; stille Kinder spielen unter den festgegründeten Lauben.


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