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Stadtwappen

Halberstadt

Unsichtbar und ewig im veränderlich Sichtbaren schafft die unermeßliche Gottheit; in wechselnden Formen beten die Völker sie an, alle ahnen sie und opfern ihr, sei es um zu bitten oder um zu danken. Der Rauch vom Altar, das andächtige Wort, die gute Tat, alles soll ein Band sein, das unser flüchtiges Menschendasein an das unsterbliche Herz der Welt knüpft. Um die Stätte, wo einmal gebetet und geopfert, wo der Name des Namenlosen von gläubigem Volke beschwörend genannt wurde, weht fort und fort ein Hauch der mystischen Umarmung des allmächtigen Vaters und seiner bedürftigen Geschöpfe; sie bleibt geweiht oder gemieden, schauerlich umgeistert, ungeheuer inmitten des alltäglichen Treibens. Die ersten kirchlichen Kirchen in Deutschland entstanden häufig da, wo auf Anhöhen, den Wolken näher, heidnischer Kult geübt worden war, sei es von Römern oder von Germanen. So war es auch in Halberstadt: auf einem großen, vor dem Dom liegenden Steine sollen einst den alten Göttern Opfer dargebracht worden sein. Der Platz, auf dem jetzt die beiden Kirchen, der Dom und die Liebfrauenkirche, einander gegenüberliegen, von Felsen und Fluß auf allen Seiten begrenzt, ist selbst schon ein dem Himmel nähergerückter Altar.

Ein edler Friese, Hildegrim, soll als Knabe in seiner Heimat von der Persönlichkeit des Bonifazius so ergriffen worden sein, daß er sich mit Leib und Seele in den Dienst des neuen Glaubens stellte; ihn machte Karl der Große zum ersten Bischof des Bistums Halberstadt. Der von ihm gegründete Dom wurde unter seinem Neffen fertiggestellt und im Jahre 859 geweiht. Aus Holz gebaut, stürzte er hundert Jahre später ein, vielen Andächtigen, die gerade versammelt waren, zum Verderben; der zweite brannte ab, der dritte ging bei der Zerstörung Halberstadts durch Heinrich den Löwen in Flammen auf. Der vierte, zu eilig aus den Trümmern wieder aufgebaut, wurde als roh und ungenügend wieder abgerissen, worauf im Jahre 1220 der Bau des fünften, des jetzigen, begonnen wurde. Erst im Jahre 1516 konnte er als vollendet geweiht werden. Woran die Zeit baut, das pflegt am meisten vom Geheimnis der Schönheit durchdrungen zu sein. Viele Kirchen mögen prächtiger, merkwürdiger, kunstreicher sein als der Halberstädter Dom; dieser scheint mir von allen der edelste zu sein. Ist es die Schlankheit der Pfeiler, die schöne Biegung der Gewölbe, das Maß der hohen Fenster und wie das alles rein zusammenklingt; den Eintretenden entrückt ein Bewußtsein des Göttlichen, wie die Erscheinung des Vollkommenen es erzeugt. Der frohe Lärm spielender Kinder, der vom Platze draußen hereindringt, scheint so unendlich fern zu sein, wie es seligen Geistern das Wirrsal irdischer Sorgen sein mag. Von Mauern und Pfeilern wirkt die stumme Gegenwart der Heiligen: Sankt Stephan, der Patron der Kirche, die Steine im Arm, Sankt Georg mit dem Drachen zu Füßen, der heilige Mauritius mit dem charakteristischen Kopf des Mohren, die heilige Katharina mit dem Rade, sie alle durch den Adel ihrer Züge und ihrer Haltung in eine fast schmerzliche Einsamkeit gehoben. Die edle und darum leidende Menschlichkeit steigert sich zu höchster Glorie in dem Triumphkreuz über dem Lettner, wo der Gekreuzigte schwebend thront, neben ihm die im Schmerz erstarrten Frauen und zwei Engel mit seltsam altertümlichen Flügelpaaren. Der Gedanke, daß das Schöne auf Erden unerkannt zertreten und daß die Liebe ans Kreuz geschlagen wird, flutet in tragischen Akkorden durch den hoheitsvollen Raum, von den Fenstern des Chors, in deren Reihe nur ein neues stört, strömt farbiges Licht in das Heiligtum. Dies violette Braun, dies schwärzliche Grün, dies Rot sagenhaften Karfunkels findet sich nirgends in der Natur; es sind überirdische Farben, in denen alle Leiden und Leidenschaften, alle Inbrunst und Sehnsucht und aller Todesschmerz der menschlichen Seele gefangen, verschmolzen und verklärt sind und von der irdischen eine Welt abscheiden, wo die Gerechten leuchten und die Tränen der Dulder getrocknet werden.

Die dem Dom gegenüberliegende Liebfrauenkirche ist um das Jahr 1000 gegründet; manche ziehen die schlichte Größe des romanischen Stiles, in dem sie erbaut ist, dem gotischen Dome vor. Prachtvoll übersichtlich stellt sich die Form der Schiffe, von vier starken Türmen im Osten und Westen bestimmt, dem Auge dar. Einen unvergleichlichen Schmuck des Innern bilden die Chorschranken; hier entfalten sich die Anmut und die Würde, die dem im Klassischen wurzelnden Stile eigen ist. Auf der Mauer, in Stuck gearbeitet, erheben sich geschmückte, durch Bogen verbundene Pfeiler, darunter sitzen Apostel und Propheten, auf der einen Seite Christus, auf der anderen Maria umgebend. Die männlichen Gestalten, eingehüllt in reiche Falten werfende Gewänder, sind von ernster Schönheit; der Maria, deren blonden Liebreiz man fühlt, hängen als ungewöhnlicher Schmuck lange Zöpfe über die Schultern. Geschmackvolles Ornament, zierliche Säulen und leichte Galerien ziehen einen harmonischen Rahmen um die Bilder. Im Kreuzgang, der den Stiftsgarten umschließt, stehen die Grabsteine, die von alten Begräbnisplätzen weggenommen sind. Darunter befinden sich mehrere mit den Bildnissen schwedischer Offiziere, die aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stammen. Einer fällt auf: er trägt das lockige Haar und den Spitzbart seiner Zeit, sein Schnurrbart ist ungewöhnlich stark und ein Helm mit vollem Federbusch lehnt zu Füßen des Gerüsteten. Sich über die Schulter wendend, sieht er uns an; den großen Blick seiner Augen vergißt man nicht.

Der ganze Platz, wo die beiden Kirchen samt der bischöflichen Burg standen, war einst von einer Mauer umgeben, von der noch einige Teile im Lichten und im Düstern Graben, zwei Straßen unterhalb des Burgplatzes, sichtbar sind, so gewaltig, daß man nicht begreift, wie solches Gefüge zerstört werden konnte. Mehrere befestigte Treppen führten aus den tieferliegenden Ansiedelungen zu den Kirchen und der Burg empor.

In der langen Reihe von Bischöfen, die von der Zeit Karls des Großen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges regierten, sind viel kriegerische und herrschsüchtige gewesen, wie ja im allgemeinen die Kirchenfürsten stolzer und unbeugsamer als die weltlichen waren. Bischof Siegmund verlangte vom Herzog Heinrich von Sachsen, dem späteren König, daß er seine Ehe mit der Gräfin Hatheburg löse, die schon einmal verheiratet gewesen war und sich nach dem Tode ihres ersten Mannes in ein Kloster zurückgezogen hatte. Als Heinrich sich weigerte, tat ihn der Bischof in den Bann, und wenn er diesen auch auf Befehl König Konrads I. zurücknehmen mußte, blieb er doch Sieger: die Ehe wurde gelöst und Hatheburg kehrte ins Kloster zurück. Ebenso erfolgreich war Siegmunds Nachfolger Bernhard in einem Streit mit Otto dem Großen. Dieser wollte von dem damals sehr großen Bistum Halberstadt einen Teil im Norden für das neuzugründende Erzbistum Magdeburg abtrennen, das Mittelpunkt für die vom Markgrafen Gero überwundenen Wenden werden sollte, im Süden einen kleineren Teil zur Gründung des Bistums Merseburg, entsprechend seinem Gelöbnis in der Ungarnschlacht auf dem Lechfelde. In diese Verkleinerung einzuwilligen weigerte sich Bischof Bernhard so entschieden, daß der mächtige Kaiser nachgab, wie sehr ihm auch die beiden Neugründungen am Herzen lagen, und sie erst durchführte, als nach dem Tode Bernhards der ihm ergebene Hildeward Bischof geworden war. Hildeward ist der Erbauer des zweiten Domes, der in Gegenwart Kaiser Ottos III., der Kaiserin und vieler Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte geweiht wurde. Auch erhielt er, vielleicht als Gegengabe für sein Entgegenkommen, den Zoll, das Münz- und Marktrecht und den Blut- und Heerbann, so daß der Bischof von nun an die wesentlichen Rechte eines weltlichen Fürsten in seiner Hand vereinigte. Auf Burkard I., einen bayrischen Grafen, den Erbauer der Burg, folgte der volkstümliche Buko von Halberstadt, Burkard II., gleichfalls ein geborener Bayer aus der Familie der Grafen von Waldenburg.

Welches niederdeutsche Kind kennt nicht den Reim:

»Buko von Halberstadt
Bring doch unserm Kinneken wat!«
»Wat schall ek em bringen?«
»Rode scho mit Ringen,
Rode scho mit gold beslan,
Di soll unser Kinneken han.«

Heißblütige und rauflustige Männer sind nicht selten gutherzig und namentlich im Umgange mit Kindern zartfühlend; so mag man es wohl glauben, daß der wilde und rachsüchtige Kriegsmann die Kinder liebte und der Kinder Liebling war.

Die ersten Jahre des Friedens wurden durch einen siegreichen Zug gegen die Wenden unterbrochen. Burkard soll auf einem weißen Roß, das im Tempel eines wendischen Gottes, diesem geweiht, verpflegt wurde, und das er erbeutete, nach beendigtem Kriege seinen Einzug in Halberstadt gehalten haben. Nachdem der Dom Hildewards abgebrannt war, erbaute er einen neuen, der zu Pfingsten 1071 in Anwesenheit Heinrichs IV. eingeweiht wurde. Bald hernach brach der Aufstand gegen den Kaiser los, in welchem der Bischof die Partei der Sachsen nahm. Ob er an jenem Pfingsttage schon Groll gegen den hohen Gast verbarg? Ob der hochfahrende Jüngling durch ein unüberlegtes Wort Burkards Selbstgefühl verletzt hatte? Es scheint, daß Heinrich durch seine Persönlichkeit und sein Benehmen überall Zuneigung verscherzte, anstatt zu erwerben; erst sein Unglück und sein Kampf gegen den Papst hat ihn dem Volke wert gemacht. Die erste Niederlage gelang es dem Kaiser wettzumachen; mit anderen sächsischen Großen mußte auch Burkard sich unterwerfen. Auf der Reise nach Ungarn, wo er gefangen gesetzt werden sollte, entfloh er und zog wieder in sein Bistum ein, nach der erlittenen Demütigung um so mehr mit Haß erfüllt. Unbesänftigt durch die Schmach von Kanossa lud er mehrere sächsische Große nach Goslar ein, um den Krieg gegen Heinrich zu beschließen. Bei dieser Gelegenheit geriet sein Gefolge mit den Bürgern Goslars in Streit, und als er sich drohend am Fenster seiner Herberge zeigte, traf ihn ein Pfeil am Halse. Das gab das Zeichen zum allgemeinen Aufruhr; die Bürger drangen gewaltsam ein und ein Schmied durchbohrte des greisen Bischofs Brust mit seinem Spieß. Unterdessen hatten die Bischöflichen die Stadt in Brand gesteckt, und in der Verwirrung von Flammen, Rauch- und Kriegsgetümmel entflohen Getreue mit dem Todwunden. Er starb im Kloster Ilsenburg, das im Anfang des Jahrhunderts gegründet und von ihm erneuert war, und wurde dort begraben.

Bischof Ulrich konnte hassen wie Burkard, doch war der Gegenstand seiner Leidenschaft nicht der Kaiser, sondern Heinrich der Löwe, der, im Norden mächtig, dem Bistum einige Lehen absprach, während die Hohenstaufen mehr auf den Süden des Reiches einwirkten. Nachdem die Gegner sich in kleineren Fehden Festen verbrannt und Leute getötet hatten, besiegte Ulrich bei der Feste Langenstein den Herzog in einer Schlacht. Diesem glücklichen Streich ließ er den Bannstrahl folgen, den Heinrich doppelt fürchtete, weil Barbarossa gegen ihn heranrückte; er begab sich nach Halberstadt, warf sich dem Bischof zu Füßen und erlangte gegen eine auferlegte Buße Verzeihung, in die beider Herzen nicht einstimmten. Vom Kaiser geächtet und seiner Lehen beraubt warf sich der verzweifelte Löwe auf seinen nächsten Feind, den Halberstädter Bischof. Es kam zur Schlacht bei Halberstadt, wo die Bischöflichen weichen mußten; ihnen nach drangen die Leute des Herzogs in die Stadt ein und zündeten sie unter dem Plündern an. Von den strohgedeckten Holzhäusern sprang das Feuer auf die Kirche über; der Dom brannte und stürzte ein, und auch die Burg ergriff die Brunst. Man riß Bischof Ulrich mit Gewalt aus den Flammen und brachte ihn vor seinen siegreichen Feind. Es heißt, der Anblick des alten Mannes, der die Reliquien des heiligen Stephan in den zitternden Händen hielt, habe den Herzog ergriffen, und er habe sich schweigend abgewendet; die Wissenschaft zweifelt, ob Heinrich bei der Zerstörung Halberstadts überhaupt anwesend war.

Unter so tatkräftigen und auf ihre Rechte eifersüchtigen Herren hatte die Stadt es nicht leicht, sich zur Selbständigkeit durchzuringen und hat auch nie eine vollständige erreicht. Sie entstand, so klein sie war, aus mehreren noch kleineren Gemeinwesen: der älteren Altstadt, der jüngeren Altstadt, der Neustadt und der Vogtei, die bis zum Ende des 14. Jahrhunderts unter einem bischöflichen Vogt stand. An der Spitze der vereinigten Alt- und Neustädte stand ein städtischer Rat. Mittelpunkt des städtischen Lebens war der Markt, die Marktkirche und das Rathaus, das ursprünglich von Holz war wie der Roland, der dazugehörte. Die Kirche schmückt ein Bild des heiligen Martin und die ungleichen Türme, die durch einen schönen durchbrochenen Giebel und oben durch einen hölzernen Gang verbunden sind, geben ihr ein charakteristisches Aussehen. Von den Mauern, Toren und Türmen, die die Stadt einst befestigten, ist nur der runde Wassertorturm übriggeblieben.

Wie sich die Bürger allmählich durch Handel bereicherten, benutzten sie Geldverlegenheiten der Bischöfe, um ihnen mehrere wichtige Rechte abzukaufen, so daß sie sich einer gewissen Unabhängigkeit erfreuen und der Hanse beitreten konnten. Bürgermeister, Schöffen und Ratsmänner, die die Regierung bildeten, wurden aus dem Patriziat gewählt, das sich aus reichen Grundbesitzern und Kaufleuten zusammensetzte. Innungsmeister und Bauermeister, letztere die Vorsteher der Nachbarschaften, in welche die Stadt eingeteilt war, gehörten einem weiteren Rate an, der gelegentlich befragt wurde; mehr und mehr aber gewöhnte sich der Rat das Regiment despotisch zu führen, ohne sich um das Selbstverwaltungsrecht der Gesamtbürgerschaft zu kümmern.

Eine niedergehaltene Kraft, die sich durchsetzen will, wird immer die Gelegenheit benutzen und benutzen müssen, wo die herrschende Macht durch eine Niederlage geschwächt ist. So kam es auch in Halberstadt zu dem einzigen Versuch, den die Handwerker machten, in die Regierung einzudringen, als diese durch den sogenannten Pfaffenkrieg erschüttert war. Der Rat hatte sich nämlich in einen Streit mit der Geistlichkeit eingelassen, der der Papst mit dem Interdikt, das er über die Stadt verhängte, zu Hilfe kam. Einige in diesem Zustand verlebte Jahre brachen den Widerstand des Rats, so daß er sich zu einem unvorteilhaften Frieden verstand, durch den er nicht nur Rechte verlor, sondern auch in Schulden geriet. Dieser Augenblick des Fehlschlags in der äußeren Politik schien einem Feinde der regierenden Geschlechter zur Empörung geeignet. Mathias von Hadeber, der lange Matz genannt, hatte schon einmal einen Angriff auf das Regiment gemacht, wobei ihn die Schmiede unterstützten, und als derselbe mißlungen war, hatte sich der Ausgewiesene, offenbar ein energischer und hartnäckiger Mann, an das westfälische Femgericht gewandt, das wirklich eine Einigung zustande brachte, infolge welcher er nach Halberstadt zurückkehrte. Nun gab eine außergewöhnliche Steuer den Anlaß zu einer neuen Erhebung, bei der diesmal die Schuhmacher besonders mitwirkten. Die nicht gerade unbillige Forderung des langen Matz, die Steuer solle hauptsächlich von den Patriziern getragen werden, wurde von ihnen abgelehnt. Während sie auf dem Rathause versammelt waren, um einen Schlag gegen die Aufständischen vorzubereiten, brachen diese los, bemächtigten sich des Bürgermeisters Volkmar Lobeck und dreier Ratsherren und warfen sie ins Gefängnis. Dem Bischof, der am anderen Morgen, durch Flüchtlinge verständigt, aus Gröningen, wo er residierte, herbeieilte, versperrten die nunmehrigen Gewalthaber das Tor. Sie beeilten sich, den Umschwung zu Ende zu führen, und ließen noch am Abend desselben Tages dem Bürgermeister und den drei Ratsherren vor dem hölzernen Roland am alten Rathause durch den Henker den Kopf ab schlagen. Die Güter der so tumultuarisch Gerichteten wurden mit Beschlag belegt und ihre Angehörigen aus der Stadt gewiesen. Die Sieger setzten einen neuen Rat ein, dem außer den Innungs- und Bauermeistern 46 gewählte Bürger zur Seite standen; Bürgermeister wurde zuerst ein Freund des langen Matz, dann er selbst. Wenn die neuen Herren, anstatt die verheißene Demokratisierung durchzuführen, selbstherrlich und wohl auch tyrannisch regierten, so taten sie es unter der in solchen Fällen immer bestehenden Notwendigkeit, die auf Wiederherstellung des Alten und Rache bedachten Verdrängten abzuschrecken und zurückzuhalten. Man muß sich wundern, daß sie zwei Jahre lang am Regiment bleiben konnten. In dieser Zeit erwirkte der Bischof die Hilfe der Hanse, die bei ihren Gliedern grundsätzlich die Aristokratie unterstützte und ein Heer schickte, das von der Stadt Braunschweig und Halberstadts beiden Bundesstädten Quedlinburg und Aschersleben gestellt wurde. Da die Bürgerschaft nicht Lust hatte, sich der Belagerung auszusetzen, entfloh der lange Matz mit seinem Sohn aus der Stadt, wurde aber erkannt, festgenommen und dem Bischof übergeben. Er zeigte eine gewisse Milde, indem er sie nebst zwei anderen Führern der Bewegung nicht dem Urteil gemäß rädern, sondern enthaupten und begraben ließ. Über die Stadt wurden allerlei Strafen verhängt: vor allen Dingen mußten die Leichen der bei Beginn der Revolution getöteten Herren, die vor der Martinikirche eingescharrt worden waren, ausgegraben und feierlich in der Kirche beigesetzt werden. Die geistliche Oberherrschaft benutzte die Gelegenheit, um sich ihre Vorrechte bestätigen und sich eine bedeutende Summe Geld bezahlen zu lassen. Es versteht sich von selbst, daß die Regierung im aristokratischen Sinne wiederhergestellt wurde.

Wieviel Selbständigkeit die Stadt bei aller Abhängigkeit vom Landesherrn doch hatte, zeigte sich zur Zeit der Reformation. Bischof war damals ein mächtiger Mann, Albrecht von Brandenburg, zugleich Erzbischof von Magdeburg und später auch von Mainz, dessen Äußeres wir an den Bildern von Dürer und Kranach, dessen unsicheren Charakter wir aus der Reichsgeschichte kennen. Da der Propst des Johannisklosters und der Bürgermeister Heinrich Schreiber die neue Lehre ergriffen, konnte es geschehen, daß etwa im Jahre 1521 zwei ehemalige Mönche in der Martinikirche evangelisch predigten. Zwar griff der Bischof ein, vertrieb die beiden Prediger, verhaftete den Bürgermeister und verurteilte ihn zum Tode; aber dank Albrechts Geldfreudigkeit konnte der unerschrockene Mann losgekauft und nach beinahe 20 Jahren auch die Duldung der Protestanten durch 500 000 Gulden erworben werden. Der Dom jedoch wurde erst im Jahre 1591 evangelisch, als der Bischof Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, sich öffentlich zur Reformation bekannte und die Messe abschaffte. Die Verfassung des Fürst-Bistums wurde dadurch nicht angetastet, die adligen Domherren, die zum Teil katholisch waren, wählten nach wie vor den Bischof und das Stift blieb bis zum Westfälischen Frieden, wo es an Brandenburg fiel, ein unmittelbarer Reichsstand.

Der letzte evangelische Bischof von Halberstadt, Christian von Braunschweig, schließt sich seltsam gleich und ungleich an die ungestüm kriegerischen der Frühzeit, ein Abenteurer des Dreißigjährigen Krieges. Mit 17 Jahren, kurz vor dem Ausbruch des Krieges, zog er in Halberstadt ein, am Breiten Wege von der Bürgerschaft, am Düstern Tor von den Stiftsherren, auf dem Domplatz von der Geistlichkeit empfangen. Angetan mit Bischofsmantel und Mitra betrat er den Dom, den der große Schall des Tedeums erfüllte. Nach einigen Jahren kehrte er an der Spitze eines Söldnerheeres wieder, das ihm Stift und Stadt erhalten sollte. Auch vor Jahrhunderten nahmen die Bischöfe wie die andern Fürsten Partei in kleinen provinzialen Fehden und für oder gegen den Kaiser; aber damals rührte sich ein jugendwildes Volk in stolzen Einzelkräften, die zusammen ein mächtiges Reich bildeten; nun glichen sie Brandstiftern und Banditen, die aus den Trümmern und der Asche des eingestürzten Gebäudes Kostbarkeiten hervorwühlen und sich gegenseitig entreißen. Auch vor Jahrhunderten trug das platte Land und trugen oft die Städte die Rosten des Krieges, aber es gab damals ein rüstiges Volk, das sich wehren konnte, während nun die längst entwaffneten Bauern und die der Waffen entwöhnten Bürger das Schwert der Söldner als ohnmächtiges Opfer über sich hin sausen ließen.

Wer in der Braunschweiger Galerie das schöne Bildnis des tollen Christian von Moreelse betrachtet, wird sich eigenartig angezogen fühlen. Das Scharlachrot des Federbuschs und der Schärpe schlägt wie eine Flamme über die schwarze Eisenrüstung und läßt das junge Gesicht sehr blaß erscheinen, dem die leisen Züge beginnender Entartung eines alten Geschlechts und ausgeprägte Persönlichkeit Reiz verleihen. Was von ihm erzählt wird, zeugt von Phantasie, Verwegenheit und einem wilden Humor, der ohne eine gewisse geistige Überlegenheit nicht denkbar ist. Daß er als Ritter der schönen Böhmenkönigin auftrat, daß er, nachdem er sich einen zerschossenen Arm hatte abnehmen lassen, auf Münzen einen drohenden Arm mit der Umschrift setzen ließ: der andere ist noch da; daß er die silbernen Apostel im Dom von Paderborn einschmelzen und in Geld umwandeln ließ, weil der Herr den Aposteln geboten habe, in alle Welt hinauszugehen; daß er sich in den furchtbaren Krieg wie in ein Spiel stürzte, alles das ließ ihn den Zeitgenossen als den Unbegreiflichen, den Tollen erscheinen. Nachdem Tilly in Westfalen sein Heer vernichtet hatte, legte er die Regierung des Bistums nieder, damit der Gegner nicht Anlaß nehmen sollte, es feindlich zu behandeln, und starb bald darauf in den Armen seiner Mutter. Seine Fürsorge schützte Stift und Stadt nicht vor den Schrecknissen des Krieges. Stellt man zusammen, was Halberstadt im Laufe der Kriegsjahre geleistet und gelitten hat, so erstaunt man über die Ergiebigkeit eines so kleinen, bereits geschwächten Körpers.

Nachdem schon an Christian von der Bürgerschaft Gold- und Silbergerät und Schmucksachen, vom Domkapitel 150 000 Taler hatten abgegeben werden müssen, folgte die Brandschatzung Wallensteins, der mitsamt seinen Offizieren und seinem Heer gut verpflegt werden mußte. Tilly konnte trotz seines Wohlwollens die Plünderung, die Pappenheim verhängt hatte, nicht abwenden, dann kamen Schweden als gefährliche Retter, dann wechselten Kaiserliche und Schweden. Alle preßten die Stadt aus bis aufs Blut, und es ist kein Wunder, daß am Ende des Krieges die Häuser leer standen und verfielen und von 2400 waffenfähigen Bürgern nur noch 200 vorhanden waren. Ungeheuerliches hatte Halberstadt erlebt: den tollen Christian mit seinen gefährlichen Launen, den düstern, unzugänglichen Wallenstein, die Ankunft einer Menge verlassener kleiner Kinder nach dem Falle Magdeburgs, die trotz alles Elends von den mitleidigen Bürgern aufgenommen wurden, den Durchzug des zum ersten Male geschlagenen Schlachtenmeisters Tilly, der, erschüttert und verwirrt durch die neue Kriegskunst des nordischen Helden, doch noch die Plünderung hintertrieb, die Pappenheim wollte, die Schweden, die als Sieger wie später als Flüchtlinge verwüsteten wie die anderen, den geheimnisvollen Tod des kühnen Banér, den kaiserlichen Oberst Heister, den sie Meister im grausamen Aussaugen nannten, und schließlich den lahmen Torstenson und den prachtliebenden Königsmark.

Trotz des Druckes hielt die Stadt am evangelischen Glauben und an der Ausübung ihres Gottesdienstes beharrlich fest; am Ende des Krieges brachte die verarmte Gemeinde es sogar dazu, an Stelle der abgebrannten Johanniskirche eine neue zu bauen, deren sparsame Schlichtheit noch heute an die Not und an den Glaubenseifer jener Zeit erinnert. Ein altertümliches Tor an der Schmiedestraße führt zu der abseits liegenden niedrigen Kirche. Neben ihr steht ein wunderlich barockes Gebilde, der Glockenturm. Auf steinernem Untergeschoß erhebt sich die hölzerne Laube, deren Dach ein spitzes Türmchen krönt. Den Unterbau unterbricht auf einer Seite eine Treppe, auf der anderen ein spitzbogiges Tor, sonst schmückt ihn nur ein Grabstein und ein Wappen. Die Kirche umgibt ein alter, wuchernder Friedhof mit anmutigen Grabmälern aus der Biedermeierzeit. Von der Stadt dringt kaum ein Laut herüber; eine Frau breitet Wäsche aus, ein Kind spielt am Glockenturm und sieht erstaunt den seltenen Gast zwischen den versunkenen Steinen.

Außer den Kirchen ist in Halberstadt wie in den meisten Städten fast nichts von dem, was das Auge als schön und gefällig auf sich zieht, sehr alt. Die hübschen Fachwerkhäuser stammen aus dem Ende des 16. und aus dem 17. Jahrhundert. Viele hat der Dreißigjährige und später der Siebenjährige Krieg zerstört, das schönste von den übriggebliebenen, der Schuhhof, das Innungsgebäude der Schuhmacher, brannte im Jahre 1903 ab, allgemein betrauert und nicht verschmerzt. Die großen fratzenhaften Gesichter an den Balkenköpfen, die hie und da auffallen, scheinen Halberstadt eigentümlich zu sein. An dem Rathaus ist vom 14. bis ins 17. Jahrhundert gebaut worden, es hat den Charakter reicher und solider Renaissance. Bischof Heinrich Julius baute dem Rathaus gegenüber die stattliche Kommisse und am Domplatz die gemütlich-prächtige Dompropstei. Von den Kurien, die die Domherren bewohnten, denn diese blieben als evangelisches Stift bestehen, sind nur noch wenige vorhanden; immerhin ist die schöne Vornehmheit des einst gewaltigen Platzes nur durch ein Kriegerdenkmal, und auch durch dies nicht unerträglich gestört. Diese barocken Kurien jedoch stammen schon aus der Zeit, wo Halberstadt eine brandenburgische Territorialstadt geworden war.

Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges waren es die Bürger vermutlich zufrieden, einem protestantischen Staat einverleibt zu werden; ehrgeizige Gelüste hatten sie wohl ohnehin nicht mehr, sondern sehnten sich nach Sicherheit und Ruhe. Das Museum bewahrt noch den rotsamtenen Sessel, auf dem der Kurfürst saß, während ihm Adel und Bauerngemeinden in der Kommisse huldigten. Er zertrümmerte den steinernen Roland nicht, wie es die sächsischen Fürsten im Jahre 1477 mit dem von Quedlinburg gemacht hatten; denn er wurde schon nicht mehr ernst genommen. Der steinerne Ritter mit dem geschulterten Schwert und dem Schild, das den Kaiseradler trägt, mit dem löwenhaften Haupt und dem geheimnisvollen, erstarrten Lächeln ist nur noch eine Sehenswürdigkeit für Reisende und ein willkommenes Problem für die Geschichtswissenschaft.


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