Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XXVIII.

Major Botstiber hatte Frau Isabel, die sehr blaß und schweigsam war, bis an ihre Gemächer begleitet und kehrte nun in sein Zimmer zurück, das er seit dem Morgen nur betreten hatte, um sich umzukleiden.

Er strahlte nicht mehr. Irgend etwas an Frau von Rittlers Wesen beunruhigte ihn. Trotz ihrer kläglichen Gedrücktheit schien sie nicht mehr so hilflos und fügsam wie früher. Zuweilen blitzte sogar etwas wie Entschlossenheit in ihren Augen auf und das erste Wort, das sie nach der Begrüßung sprach, war Botstiber so unerwartet gekommen, daß er sich noch jetzt nicht fassen konnte darüber.

»Wissen Sie etwas über Baron Wellenberg, Malchus?« hatte sie gefragt. »Er befand sich in Meiner Gesellschaft und wurde verhaftet. Aber er ist unschuldig, und ich werde nicht ruhen, ehe der Richter mir glaubt!«

»Aber begreifen Sie denn nicht,« hatte er niedergeschmettert gestammelt, »daß es die Gesellschaft jenes Mannes war, der ich Sie durch mein Telegramm entreißen wollte? Er kompromittierte Sie.«

»Dies habe ich nur vor Gott und mir selber zu verantworten. Der arme Achim selbst würde verlangen, daß ich unter diesen Umständen alles tue, um einen Unschuldigen zu retten!«

»Aber ich kann nicht dulden, daß Sie sich . . .«

»Lieber Malchus, Sie vergessen immer, daß ich längst kein Kind mehr bin,« war sie ihm ins Wort gefallen. »Dies ist eine Angelegenheit, die ich ganz allein mit mir ausmachen muß.«

Damit war sie in ihrem Zimmer verschwunden und hatte den Major einfach stehen lassen.

Von den widerstreitendsten Gedanken beherrscht, stieg er in das zweite Stockwerk hinauf. Als er die Tür seines Zimmers öffnete und eintrat, sah er sich plötzlich zwei wildfremden Leuten gegenüber, die offenbar hier auf ihn gewartet hatten.

Mehr verwundert als erschrocken, wollte er eine Frage tun, als einer der Herren ihm zuvorkam und sagte: »Sie nennen sich Major Botstiber?«

»Ja. Aber was soll . . .«

»Dann erkläre ich Sie hiermit für verhaftet. Hier ist der Haftbefehl.«

Er zog ein Papier heraus und wollte es entfalten, während der zweite Herr sich vor die Ausgangstür stellte. Aber zugleich hatte Botstiber begriffen.

Er stieß einen wilden Fluch aus, und ehe einer der Polizeibeamten nur einen Finger rühren konnte, war er mit einem Satz im Nebenzimmer verschwunden, dessen Tür er hinter sich verschloß.

»Schnell – er entkommt uns,« rief der Kommissär. Aber sein Gehilfe schüttelte den Kopf.

»Wohin? Das Schlafzimmer hat ja keinen zweiten Ausgang! Uebrigens wollen wir die Türe bald offen haben.«

Gelassen stemmte er seine breite Schulter gegen die Füllung.

Botstiber hatte inzwischen auf alle Fälle seinen Revolver aus der Tasche gerissen. Diesen in der Hand stürzte er auf einen altertümlichen geschnitzten Eichenschrank zu, riß dessen Tür auf und drückte mit bebenden Fingern auf einen scheinbar nur zur Verzierung angebrachten Knopf.

Lautlos schob sich die Rückwand auseinander. Ein dunkler Raum, aus dem eine enge gewundene Wendeltreppe nach abwärts führte, wurde sichtbar.

Schon wollte Botstiber einen zweiten Knopf, der hinter ihm die Schranktür wieder in Ordnung bringen sollte, berühren, als er sich plötzlich von zwei eisenfesten Armen umklammert fühlte.

»Nein, mein Lieber – da hinab gibt's keinen Ausweg mehr,« sagte Hempels Stimme spöttisch. »Sie müssen sich schon bequemen, mit mir zu den beiden Herren zurückzukehren!«

Er drängte den vor Wut Sprachlosen mit unwiderstehlicher Gewalt nach dem Schrank zurück.

Im selben Augenblick krachte die Tür.

»Holla – hieher, ich habe ihn,« rief Hempel laut, »aber er wehrt sich wie ein Wahnsinniger . . .«

Botstiber wehrte sich in der Tat mit der Verzweiflung eines Menschen, der seine Sache lebend nicht verloren geben will. Es gelang ihm, die Hand mit dem Revolver frei zu bekommen. Plötzlich krachte ein Schuß, gleich darauf ein zweiter.

Hempel fühlte, wie der Körper in seinen Armen schlaff wurde und zu Boden gesunken wäre, wenn er ihn nicht gehalten hätte.

»Oh – er hat sich getötet . . .« rief er den erschrocken herbeieilenden Polizeibeamten zu, »rasch – helfen Sie mir, vielleicht können wir ihn noch retten . . .«

Mit vereinten Kräften trugen sie den scheinbar leblosen Körper ins Zimmer zurück und legten ihn auf das Bett.

Botstiber war nicht tot. Seine Augen standen offen und ruhten starr vor Wut und Grauen auf Silas Hempel, als wollten sie sagen: Du also bist es, der mein Verderben herbeiführte!

Silas beugte sich über ihn und untersuchte die beiden Wunden an der Brust.

»Sie haben vielleicht nur mehr kurze Zeit zu leben, Tobias Lämmermaier,« sagte er, »wollen Sie Ihr Gewissen nicht wenigstens durch ein offenes Geständnis erleichtern?«

Der Sterbende war bei dem Namen Lämmermaier zusammengezuckt. Jetzt verzerrte ein böses Lächeln seine Züge.

»Wozu . . .? Da Sie ja doch schon alles wissen? Sagen Sie mir lieber . . . wie . . . Sie auf . . . meine Spur kamen? Niemand wußte . . . um die Treppe . . .«

Die Worte kamen stockend von den Lippen, aber der Blick der stechenden schwarzen Augen hing in düstrer Spannung an dem Munde des Detektivs.

»Wenn dies alles ist, was Sie noch zu wissen wünschen, so mögen Sie es erfahren: Ihr Bett hier war es, das mich zuerst auf Ihre Spur führte. Während damals die Kommission nach Herrn von Rittlers Tod unten den Tatbestand aufnahm, trieb ich mich unbeachtet im Schloß herum. Dabei kam ich auch in dieses Zimmer. Ich wußte noch nicht, daß es das Ihre ist, aber ich sah, daß man das Bett hier künstlich in Unordnung gebracht hatte, um den Anschein zu erwecken, als habe bereits jemand darin geschlafen.

Von diesem Punkt ging ich aus, obwohl später alles gegen Ihre Schuld zu sprechen schien und ich keine Erklärung dafür finden konnte, warum Sie Herrn von Rittler töteten, und wie es denkbar wäre, daß Sie nach der Tat Ihr Zimmer ungesehen wieder erreichten.

Erst als ich Sie gestern nacht, als Sie von Ihrem Mordgang aus dem Winzerhaus heimkehrten, durch das Schlüsselloch beobachtete und sah, wie Sie durch einen Griff das alte Ritterbild im Zimmer des ermordeten Hausherrn unten in eine Tür verwandelten, begriff ich Ihr Geheimnis. Und als ich durch den Bruder der armen Kathi Schartner Ihre Geschichte erfuhr, die mir zum Teil allerdings schon früher bekannt war, wußte ich auch, warum Sie zum Mörder wurden . . . sind Sie nun befriedigt?«

Lämmermaier antwortete nicht. Eine fahle Blässe hatte sein Antlitz überzogen. Jetzt ging ein Zucken durch seinen Leib und die Augen bekamen einen leeren glasigen Blick.

Zwei Minuten später sagte Silas Hempel, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, feierlich: »Es ist vorüber, meine Herren. Er war ein großer Verbrecher und der schlaueste Mensch, der mir je begegnet ist, aber er steht nun vor seinem Richter. Möge er im Frieden ruhen.« – –

Unten saßen indessen Mara und Yolanthe beisammen. Ohne daß sie es beabsichtigt hatten, ja im Gegenteil gegen ihren festen Vorsatz, war das Wiedersehen kühl, die ersten Worte steif ausgefallen.

Nun lag es wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Yolanthe sprach viel und lebhaft. Aber während sie von der Reise erzählte, dachte sie: »Wie sonderbar, daß ich gar kein Bedürfnis empfinde, ihr von Almassa zu erzählen! Aber mit ihrem steinernen Gesicht und dem ernsten Blick, den sie immer wie in heimlichem Vorwurf auf mich richtet, kommt sie mir noch fremder vor als damals bei der Abreise . . .«

Und Mara fragte sich heimlich mit schmerzhaften Gefühlen: »Oh – sind wir denn nicht mehr Schwestern, Yolanthe und ich? Warum spricht sie von Nichtigkeiten, anstatt mich nach ihm zu fragen? Es ist ja nicht denkbar, daß sie inzwischen nicht zur Besinnung gekommen ist . . .«

Und plötzlich eine Pause benützend, sagte sie, den Blick fest auf die Schwester richtend:

»Yolanthe – man hat Dr. Sturm heute oben im alten Winzerhaus gefunden, wo er durch Meuchelmörder schwer verwundet und besinnungslos lag. Siehst du nun wohl ein, wie schweres Unrecht du ihm tatest mit deinem schmählichen Verdacht?«

Yolanthe machte eine Bewegung der Ueberraschung.

»Oh – man hat ihn wirklich gefunden? Und er ist in der Tat ganz unschuldig? . . . Nun – das freut mich um seinetwillen,« setzte sie errötend hinzu.

Mara atmete schwer.

»Sonst hast du gar nichts zu sagen? Gar nichts . . . Yolanthe?«

Yolanthe warf den schönen Kopf stolz zurück.

»Nein!«

»Du nimmst ihm vielleicht seine Erkundigungen bei Notar Funke übel, Yolanthe? Aber auch dies hat sich aufgeklärt. Herr Hempel, der Sturm auffand und eine Unterredung mit ihm hatte, erhielt auf seine Frage von Sturm folgende Antwort: ›Ja, ich erkundigte mich um die Vermögensverhältnisse Fräulein von Rittlers, wie es meine Ehre mir gebot. Man hatte meine Bewerbung in der beleidigendsten Form abgewiesen, und ich hätte das, was ich beabsichtigte, nicht tun dürfen, wenn sie unter allen Umständen eine reiche Partie geblieben wäre. Aber ich erinnerte mich dunkel, einmal darüber in anderem Sinn sprechen gehört zu haben. Darüber wollte ich mir Gewißheit verschaffen. Gottlob, es war so: wenn Fräulein von Rittler gegen den Willen ihres Vaters meine Frau wurde, so war sie arm! Diese Gewißheit machte meine Hände frei. Ich durfte sie nun bitten, aus eigenem Antrieb meine Frau zu werden, mir das unaussprechliche Glück zu gewähren, für sie arbeiten, ihr alles ersetzen zu dürfen, was sie um meinetwillen aufgab‹ . . .«

Mara schwieg und schöpfte tief Atem. Dann setzte sie leise hinzu: »Du siehst, es war tiefste Liebe und höchste Selbstlosigkeit, die ihn zu jener Erkundigung antrieb, und auch darin tatest du ihm schwer unrecht!«

Yolanthe sagte kein Wort. Was in ihren Zügen stand, war viel eher ärgerliche Ungeduld als Reue oder Rührung.

Da trat Mara an sie heran und sah ihr beschwörend in die Augen.

»Yolanthe – du sagtest damals: wenn seine Unschuld erwiesen ist, wer hindert mich denn dann, seine Frau zu werden? Nun – seine Unschuld ist erwiesen! Ich war heute bei seiner Tante – er wird nichts von deinem kränkenden Verdacht erfahren, nichts davon, daß du bereit warst, ihn aufzugeben. Aber er wird nun auf ein Wort von dir warten, wie ein Verdurstender in der Wüste. Er wird sich nach deinem Anblick sehnen . . .«

»Genug,« schnitt Yolanthe ihr die Worte kurz ab, indem sie sich erhob. »Du fragst, was mich hindern könnte, seine Frau zu werden – nun gut, ich will es dir sagen: er ist mir völlig gleichgültig geworden. Jene Liebe war eine Täuschung. Eine Torheit – durch die Langweile auf Kreuzstein hervorgerufen. Außerdem habe ich eine unvergleichlich glänzendere Partie in Aussicht, und wenn das Trauerjahr zu Ende ist . . .«

»Yolanthe! Das kann dein Ernst nicht sein!« schrie Mara empört auf.

»Doch. Es ist mein unabänderlicher Entschluß. Wenn du willst, daß wir in Frieden nebeneinander leben, so bitte, komme nie mehr auf jene Torheit der Vergangenheit zurück!«

Ehe Mara etwas antworten konnte, wurde die Tür hastig aufgerissen und Frau Isabel stürzte leichenblaß herein.

»Kinder – Onkel Malchus – er ist – er hat sich soeben erschossen –« stammelte sie bebend, »und . . . und . . . oh, ich bringe es kaum über die Lippen . . . er ist es, der auch den armen Papa getötet hat . . .

Beide Mädchen prallten fassungslos zurück.

»Also doch er!« murmelte Mara entsetzt.

Frau von Rittler, die auf einen Stuhl gesunken war, atmete tief auf, während ihr Blick unbewußt etwas Leuchtendes bekam.

»Und Weltenberg ist unschuldig! Oh, ich wußte es ja! Ich fühlte es in tiefster Seele, daß man ihm unrecht tat!«


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