Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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I.

Yolanthe von Rittler zog leise das kleine Seitenpförtchen, durch das sie aus dem Park ins Schloß getreten war, hinter sich zu und drehte tief aufatmend den Schlüssel um. Selbst die Sicherheitskette legte sie noch vor, so unheimlich und ängstlich war ihr plötzlich zumute.

War das aber eine Nacht geworden nach dem schönen Abend vorhin!

Vor zehn Minuten noch rührte sich kein Blatt und der Vollmond wob seine gleißenden Zauber über dem Park. Betäubend schier, wie in Sommernächten, dufteten die letzten Rosen in der schwülen, reglosen Luft.

Dann ein fauchender Windstoß wie der heiße Atem eines Raubtieres. In den Baumkronen raschelte es, Aeste knarrten, dürres Laub tanzte in der Luft.

Mond und Sterne aber waren verschlungen von pechschwarzen Wolken, die tiefe Finsternis über die Erde breiteten. Kaum daß Yolanthe mit Hilfe der leuchtenden Blitze den Rückweg ins Schloß fand.

Nun stand sie erschauernd im Korridor, wo es unheimlich still war, während draußen der Sturm sich zum Orkan steigerte und die verrostete Wetterfahne auf dem Dach ächzend knarrte, daß es wie Wehklagen und Hilferuf klang.

Bebend schlich Yolanthe die Haupttreppe hinauf nach dem breiten hufeisenförmigen Korridor des ersten Stockwerkes, in dessen rechtem Seitenflügel ihre und Schwester Maras Zimmer lagen.

Ihr Herz klopfte laut. Etwas wie Gespensterfurcht schnürte ihr die Kehle zusammen, während sie sich im Dunkeln der Mauer entlang tastete.

Und doch wagte sie kein Licht zu machen, obwohl sie Streichhölzer in der Tasche trug und ein Lichtstümpchen.

Mara konnte durch den Sturm erwacht sein und ihre heimliche Rückkehr bemerken . . .

Yolanthe erbebte bei der bloßen Vorstellung. Sie waren Zwillingsschwestern, und wenn sie auch Mara genau so beherrschte wie alle andern im Hause, und wenn Mara sie auch liebte und ihr blind vertraute – so gab es doch Momente, wo die stolze, verhätschelte Yolanthe sich vor der sonst bescheiden zurücktretenden Schwester fürchtete.

Das war, wenn Maras klare hellgraue Augen sich, wie manchmal in der letzten Zeit, vorwurfsvoll oder fragend auf Yolanthes Antlitz richteten.

Man konnte nicht lügen unter diesem reinen, durchdringenden Blick Maras. Nicht einmal Ausreden fielen Yolanthe ein, so klug sie sonst war.

Und jetzt – wenn Mara ihre Abwesenheit bemerkt hätte – welchen Vorwand könnte Yolanthe angeben? Es mußte fast auf Mitternacht gehen . . .

Immer hastiger wurde Yolanthes Schritt. Mit katzenartiger Geschmeidigkeit, den Kopf angstvoll lauschend vorgestreckt, eilte sie lautlos vorwärts und hatte die Tür ihres Gemaches fast erreicht, als diese plötzlich von innen geöffnet wurde, und Mara, ein Licht in der Hand, im Rahmen derselben erschien.

Wie erstarrt blieb Yolanthe stehen. Die Hand, welche den seidenen Staubmantel über dem hellen Gewand zusammenhielt, zitterte.

Auch Mara sah verstört aus. So standen sie einen Augenblick regungslos, einander stumm ansehend. Zwei wunderschöne Frauenbilder.

Beide hatten dasselbe reiche, glänzende kastanienbraune Haar, mit kupferrotem Reflex, dieselben tadellosen Gestalten, dasselbe fein geschnittene sanft gerundete Oval des Gesichtes.

Nur der Ausdruck war verschieden und die Augen. Von Yolanthes dunklen samtartigen Augen verbreitete sich ein geheimnisvoll verschleierter, träumerischer Reiz über das ganze Antlitz, das, weich und von berückender Färbung, an die lockende Schönheit einer Märchenprinzessin mahnte.

In Maras Antlitz war nichts Geheimnisvolles. Rein und edel war die klare Schrift dieser Mädchenzüge jedermann offenbar, und das Licht, das aus ihren grauen, tiefliegenden Augen strahlte, war wie das Licht eines hellen wolkenlosen Frühlingstages.

Jetzt aber wurde es streng und voll durchdringender Schärfe.

»Wo warst du?« fragte sie Yolanthe verstört. »Es ist fast Mitternacht und du gabst gleich nach Tisch vor, zu Bett gehen zu wollen!«

Yolanthe hatte sich gefaßt.

»Ich konnte nicht schlafen,« antwortete sie trotzig, »und der Mond schien so herrlich . . . ich war noch im Park.«

Unruhe malte sich in Maras Zügen.

»Im Park? Du . . . die du sonst nicht um die Welt am Abend allein vor die Haustüre gehen würdest . . .?« Und zögernd, fast ängstlich setzte sie hinzu: »Yolanthe, warst du allein bis jetzt im Park?«

»Natürlich. Mit wem sollte ich denn gewesen sein? Papa wollte noch arbeiten, Onkel Malchus behauptete, die Wochenrechnungen durchsehen zu müssen, und Mama sowohl wie du, ihr wolltet doch auch schlafen gehen! Ich wußte nicht, daß du –«

»Ich war schon zu Bett,« fiel Mara ein, »aber auch ich konnte nicht schlafen. Es ist so unheimlich heute . . . Der Sturm draußen . . .«

Sie verstummte, und beide Schwestern fuhren erschrocken zusammen. Mitten in das sich steigernde Toben des Sturmes draußen, das Kreischen der Wetterfahne und den rollenden Donner war ein seltsam kurzer scharfer Laut gefallen.

Die Mädchen sahen einander angstvoll an. Was war das gewesen? Und jetzt – klang es nicht wie ein durch die Entfernung gedämpfter Schrei, dem Klirren folgte?

»Es ist, als wäre es im Hause selbst . . .« murmelte Mara mit blassen Lippen. Beide horchten mit angehaltenem Atem.

Der Sturm hatte plötzlich nachgelassen. Und in die augenblickliche Stille klang nun kurz und scharf zum zweitenmal jener unheimliche Laut.

Diesmal konnten sie sich nicht täuschen: es war ein Schuß!

Wie gejagt flog Mara den Korridor entlang um die Ecke und gegen die Haupttreppe zu, an welche anschließend ihres Vaters Zimmer lagen, denn von dorther schien das Geräusch des Schusses gekommen zu sein.

Am ganzen Leibe zitternd folgte Yolanthe. Noch aber hatte sie die von Mara aufgerissene Türe von ihres Vaters Arbeitszimmer nicht erreicht, als ein markerschütternder Schrei das Haus durchgellte.

Mara stieß ihn aus, nachdem sie nur einen Blick in das Gemach geworfen und im hellen Schein des Gaslüsters ihres Vaters Gestalt lang ausgestreckt und regungslos am Boden liegend erblickt hatte.

Ratlos flüsternd stand die durch Maras Schrei aus dem Schlaf aufgeschreckte Dienerschaft am Eingang des Gemaches.

Paul, des Schloßherrn Kammerdiener, dessen Zimmer im Erdgeschoß lag, und der eben aufgestanden war, um sein offenstehendes Fenster des Sturmes wegen zu schließen, hatte den Schrei zuerst gehört und die andern alarmiert.

Hinaufgekommen fanden sie die beiden Schwestern fassungslos am Boden kauernd neben dem Körper ihres Brotherrn.

Schweigend half Paul, über dessen gefurchtes Greisenantlitz große Tränen liefen, dem Kutscher, Herrn von Rittlers Körper auf ein Ruhebett legen.

Jetzt, wo das helle Licht der Gasflammen auf das bleiche im Todesschreck wie versteinerte Antlitz fiel, konnte kein Zweifel mehr darüber herrschen: Joachim von Rittler, der Besitzer von Kreuzstein, war tot. Zwei Wunden an der linken Schläfe ließen die Todesursache nur zu deutlich erkennen.

Leise weinend sanken die beiden Töchter neben dem Leichnam in die Knie. Sie hatten mit ihm ihren besten Freund, ihre letzte natürliche Stütze verloren, denn Frau Isabel von Rittler war die zweite Gemahlin ihres Gatten, während die Töchter aus erster Ehe stammten.

Paul warf stumm zurücktretend einen forschenden Blick auf das Gemach.

Alles schien in tadelloser Ordnung. Nur der Stuhl am Schreibtisch war nach rückwärts umgefallen, als wäre er infolge jähen Aufspringens allzu heftig zurückgeschleudert worden.

Und das Fenster war zertrümmert. Es befand sich links vom Schreibtisch und von links waren auch die Schüsse gekommen.

»Man hat ihn von außen, durchs Fenster erschossen,« flüsterte die Beschließerin, Frau Baumer, scheu, »ach Gott, ach Gott, wer kann denn nur . . .«

»Am Ende hat er's selbst getan?« murmelte der Kutscher, auf einen Revolver weisend, der unweit von der Stelle auf dem Teppich lag, wo man Herrn von Rittlers Leiche gefunden hatte, »ganz richtig war's ja nicht mehr im letzten Jahr zwischen ihm und der gnädigen Frau, und wer weiß . . .«

»Schämen Sie sich, Johann,« sagte Frau Baumer entrüstet, »so was auch nur zu denken! Zwölf Jahre ist die Gnädige nun hier, und weiß Gott, abgöttischer kann kein Mann seine Frau lieben, als unser armer Herr die seinige lieb hatte. Und schön und lieb genug ist sie ja auch. Ein schlechter Kerl übrigens, der ihr das Geringste nachsagen möchte!«

»Na, ich meinte ja nur so . . . weil der Revolver dort liegt . . .«

»Der lag stets in einem Fach seines Schreibtisches,« mischte sich Paul ein, »und ich wette, der gnädige Herr hat nur zur Verteidigung darnach gegriffen. Meinen Kopf setze ich ein, daß er nie daran dachte – aber sollte man nicht die Gnädige holen? Sie wird kaum etwas gehört haben, da ihre Zimmer nach dem Weiher gehen und Sephines Kabinett sie vom Korridor trennt.«

»Holen wir lieber den Herrn Major, damit doch jemand da ist, der uns sagt, was zu geschehen hat. Die jungen Damen wissen ja vor Kummer und Herzleid nicht aus noch ein.«

»Jawohl, Johann, holen Sie den Herrn Major,« entschied Frau Baumer. »Die Gnädige müßte doch erst vorbereitet werden und dann wird sie höchstens auch den Kopf verlieren. Aber der Major weiß immer das Richtige, der ist energisch –«

»Und steckt seine Nase leider Gottes seit Jahren ohnehin in jeden Winkel auf Kreuzstein,« ergänzte der alte Paul ärgerlich, »und weiß Gott, es wundert mich nur . . .«

Die Beschließerin warf dem Alten einen verweisenden Blick zu.

»Sie können eben den Herrn Major nicht leiden, wie Ihre Kollegen, weil er streng ist und nicht viel Federlesens macht. Aber was wahr ist, bleibt wahr: seit er auf Kreuzstein die Oberaufsicht führt, sieht's hier ganz anders aus als zuvor. Der gnädige Herr wußte wohl, was er tat, als er ihm hier ein Heim anbot und freie Hand in der Wirtschaft ließ, sicherlich tat er's nicht bloß darum, weil Major Botstiber der Vormund unserer Gnädigen war und unseres jungen Herrn Leo Taufpate . . .«

»Wir brauchen jetzt nicht darüber zu streiten, Frau Baumer, meine ich. Schließlich muß uns auch recht sein, was unsere Herrschaft, bei der wir beide grau geworden sind, für gut findet zu tun. Gehen Sie also nur, Johann, und nehmen Sie sich Anton mit, falls Sie sich fürchten – blaß genug sehen Sie ja aus, daß man's glauben könnte.«

Ohne zu antworten, entfernte sich der Kutscher, von einem Diener begleitet.


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