Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XVIII.

»Das war eine famose Idee von Weltenberg, uns hieher zu lootsen, anstatt nach Paris, wie wir zuerst vorhatten,« sagte Yolanthe von Rittler, sich behaglich in den Kissen einer Chaiselongue dehnend, die am Fenster stand und einen herrlichen Ausblick über das Meer mit seinen malerisch verstreuten Inseln und der Küste von Istrien gewährte. »Es ist ja wahr – was hätten wir von Paris gehabt, da wir keinen Menschen kennen und die Trauer uns von allen Vergnügungen ausschließt? Ich glaube, es wäre fast so langweilig geworden wie die famose Mittelmeerreise, die Onkel Malchus uns zugedacht hat.«

Sie sprach zu ihrer Stiefmutter, die am andern Fenster saß und mit ihren weißen rundlichen Kinderhänden an einer Stickerei herumbastelte.

Frau Isabel errötete ein wenig.

»Nicht wahr?« antwortete sie eifrig. »Weltenberg hat immer so nette Einfälle! Und immer trifft er das Richtige! Weißt du, was er sagte? ›Sie sind in Trauer,‹ sagte er, ›vergessen Sie das nicht! Was wollen Sie in diesen überfüllten Modeorten, wo man alle zehn Schritt einen Bekannten trifft und wo Sie doch nur zusehen dürften, wie die andern sich amüsieren. Reisen Sie doch lieber an einen stillen schönen Ort, wo Sie sich erholen können. Z. B. Brioni – dort ist jetzt die Saison vorüber, die paar Leute, die noch dort weilen, gehören nur der Elite an, und schließlich ist es – österreichischer Boden! Glauben Sie mir: die Heimat ist immer besser als die Fremde!‹ Hat er nicht recht? Ich fand dieses Herumreisen eigentlich fürchterlich anstrengend . . .«

»Dies hätte mich nun zwar nicht geniert, aber ich bin sehr zufrieden hier . . . wenigstens so lange Conte Almassa auch in Brioni bleibt,« nickte Yolanthe nachdenklich und streifte mit dem Blick ein herrliches Rosenarrangement, das den Tisch zierte. »Ich finde, die Italiener sind nicht nur die feurigsten, sondern auch die nettesten, galantesten Leute der Welt!«

Beide Damen lachten, unterbrachen sich aber rasch, fast erschrocken. Frau Isabel senkte den blonden Kopf wie ein schuldbewußtes Kind, das man zur Ordnung gerufen hat.

»Es ist eigentlich nicht recht, daß wir schon so bald nach des armen Papas Tod . . .« murmelte sie.

Yolanthe unterbrach sie beschwichtigend: »Wir werden den lieben guten Papa ja niemals vergessen! Sein Andenken bleibt uns heilig, auch wenn wir keine tragische Miene aufsetzen und nicht immer in Tränen schwimmen, wie z. B. Mara es für ihre Pflicht hält. Erinnere dich nur, Mama, er selbst hatte es am liebsten, wenn wir fröhlich waren!«

»Gewiß . . . nur weißt du . . . manchmal denke ich, er würde es vielleicht doch nicht billigen, daß wir gerade Weltenbergs ritterlichen Schutz annahmen . . .«

»Du meinst wegen der dummen Geschichte damals in Franzensbad? Aber Mama – das war doch ein Scherz und ist längst vergessen! Weltenberg selbst ist viel zu taktvoll, um jetzt darauf zurückzukommen. Sein Benehmen ist tadellos, ich beobachtete ihn genau, er wird dich sicher durch keine Unzartheit in Verlegenheit setzen, und daß er gleichsam par distance über uns wacht, ist etwas, wozu seine Kavalierspflicht als alter Bekannter ihn geradezu zwingt. Mache dir nur nicht unnötig Sorgen! Wir leben hier so still und zurückgezogen wie Klosterfrauen, mehr kann niemand verlangen.«

Frau Isabel rückte unruhig auf ihrem Stuhl herum.

»Yolanthe . . . Liebling . . . ich muß dir aber noch ein Geständnis machen: Weltenberg traf nicht aus Zufall vor acht Tagen mit uns in Nizza zusammen. Er suchte uns . . .«

»Nun – und was weiter? Das dachte ich mir gleich.« Yolanthe nahm eine weise, überlegene Miene an, wie öfter der Stiefmutter gegenüber. »In solchen Fällen ist es am besten, Mama, man tut, als merke man nichts.«

»Gewiß, das tat ich auch. Aber ich habe eine schreckliche Angst, Onkel Malchus könnte etwas erfahren . . . er würde all dies furchtbar unpassend finden. Er ist so streng. Und denke dir nur – Weltenberg wollte mir zwei Tage nach dem Unglück einen Kondolenzbesuch machen, aber Onkel Malchus erlaubte dem Diener nicht einmal, mir Weltenbergs Karte zu bringen. Er wies ihn sehr schroff ab . . . ich erfuhr dies erst jetzt von Weltenberg selbst.«

»Das ist eigentlich stark von Onkel Malchus. Was gehen ihn deine Besuche an?«

»Nun, er war mein Vormund und . . .«

»Ist es längst nicht mehr! Du bist doch jetzt ganz deine eigene Herrin!«

»Ich bin Major Botstiber viel Dank schuldig . . . immerhin möchte ich nicht, daß er . . . es ist wegen der Zukunft . . . ich kann mich doch nicht immer von ihm bevormunden lassen? Siehst du, darum hielt ich es für das beste, ihm gar nichts von unseren veränderten Plänen zu schreiben . . . ich bin so froh, daß du einverstanden warst!«

»Natürlich! Er wäre imstande, uns einmal zu besuchen, wenn er uns so nahe wüßte, und täte womöglich noch erstaunt, uns nicht in Sack und Asche zu finden . . . nein, nein, ganz gut, daß er nicht mehr weiß. Wir brauchen ihn jetzt durchaus nicht hier.«

Sie stand auf und trat vor den Spiegel, wo sie ihre Erscheinung einer kritischen Musterung unterzog.

»Schwarz steht mir nicht übel, glaube ich, wenn es mich auch nicht so vorteilhaft kleidet wie dich, Mama.«

»Du bist immer bildschön, mein Kind. Das machen deine sanften verschleierten Augen, die so träumerisch aussehen wie ein Märchen . . . verdrehe dem armen Almassa nur nicht zu sehr den Kopf, er ist ohnehin schon ganz weg.«

Yolanthe lächelte zufrieden.

»Warum denn nicht? Wäre er nicht eine sehr glänzende Partie?«

Frau Isabel sah ihre Stieftochter überrascht an.

»Du denkst ernstlich daran . . .

»Hm – ich lasse die Dinge stets erst an mich herankommen. Dann greife ich danach oder – schiebe sie von mir, wie es mir eben vorteilhafter erscheint.«

»Liebst du ihn denn?«

»Ich glaube nicht. Er ist sehr nett . . . aber da wir in Trauer sind, haben wir ja noch lange Zeit zu überlegen. Liebe – hm, weißt du, Liebe ist unter Umständen das albernste Ding der Welt.«

Ein Schatten flog bei diesen Worten über das schöne Gesicht. War es die Erinnerung an einen Mann, den Yolanthe einst glauben ließ, sie liebe ihn? . . .

Mit gerunzelten Brauen wandte sie sich vom Spiegel ab.

»Bist du fertig, Mama? Es ist drei Uhr. Die Herren werden drüben im Hotel warten, um den besprochenen Ausflug nach Val Madonna zu machen,«

»Ja, ich bin fertig,«

Beide Damen traten hinaus auf den weißen Loggiengang der Dependance, in welcher ihre Zimmer lagen, und stiegen die Treppe hinab.

Ein zu beiden Seiten von Riesenaquarien eingefaßter Wandelgang verband die Dependance mit dem eigentlichen Hotel, das nur durch ein paar Tischreihen vom Strand getrennt war.

Zwei Herren promenierten wartend im Wandelgang auf und ab. Weltenberg und Conte Almassa, ein mittelgroßer Italiener mit blitzenden Augen, braunem Teint und sehr markierten Zügen.

Er gesellte sich sofort zu Yolanthe, während Weltenberg mit Frau Isabel langsam folgte.

Als sie den Wandelgang verließen, legte drüben am Hafen ein Schiff an. Es war nicht die schöne weiße Jacht, welche sonst den Verkehr zwischen Pola und den Brionischen Inseln vermittelte, sondern ein Militärtender, dem mehrere Herren entstiegen.

»Fremde – wie lästig,« sagte Yolanthe naserümpfend, denn die Herren sahen gar nicht so aus, als ob sie die kleine exklusive Gesellschaft, die momentan noch auf Brioni weilte, angenehm bereichern würden.

Conte Almassa warf einen Blick nach dem Molo. »Kaum,« lächelte er, »es sieht eher aus wie eine Kommission. Der Herr, welcher voran geht, ist der Bezirkshauptmann von Pola. Wahrscheinlich gilt es wieder Schmugglern oder einem Spion.«

Plaudernd schritten sie weiter auf der herrlichen, von Rosmarinbäumen eingesäumten Straße nach Val Madonna.

Das zweite Paar folgte schweigsam. Frau Isabels blaue Kinderaugen schweiften entzückt über die grünen Gelände der Insel, deren üppige Tropenvegetation, von kundiger Hand gepflanzt, wirksam unterbrochen wurde durch altersgraue Ruinen und die Befestigungen der Forts.

In der Ferne, klippenumsäumt, blaute das Meer. Unbewohnte Eilande, nur von weißen Möwenscharen bevölkert, bildeten da und dort eine angenehme Unterbrechung der endlos scheinenden Fläche.

»Wie wunderschön es hier ist!« rief Frau Isabel impulsiv aus und blieb stehen.

»Aber Sie sind so schweigsam . . . gefällt es Ihnen denn hier nicht auch, Baron?«

Er schwieg. Seine Züge waren düster, er selbst so in Gedanken versunken, daß er die Frage gar nicht gehört hatte.

Auch seine Blicke streiften über das grüne Gelände hin, aber er sah nichts von seiner Pracht. Vor ihm stand überall das schöne blonde Rätsel mit den blauen Kinderaugen, das einmal so rein und harmlos wie ein Engel, dann wieder voll dunkler Unergründlichkeit wie ein Dämon erschien.

Er liebte sie verzehrend. Ein Jahr lang war er ruhlos von Ort zu Ort geflohen, um diese Liebe zu vergessen, aber sie war nur gewachsen, immer heißer, immer gieriger, bis sie ihn völlig um den Verstand gebracht hatte . . .

Nun endlich war die geliebte Frau frei, nun endlich konnte sie sein eigen werden – wenn sie wollte . . .

Aber würde sie wollen? Liebte sie ihn? Konnte sie ihn überhaupt lieben? Dies war die Frage, um die sich seit Wochen all sein Denken drehte.

In fieberhafter Angst suchte er ihre Seele zu ergründen. Aber er fand bis jetzt nur ein weißes Blatt. Weder das Leben noch die Ereignisse der letzten Zeit schienen eine Spur darauf zurückgelassen zu haben.

Sie lächelte, plauderte und gab sich wie damals vor einem Jahre, als er sie noch für ein Mädchen hielt. Ab und zu, mitten im Gespräch fiel ihr wohl das schreckliche Ende ihres Mannes ein, dann fuhr sie schaudernd zusammen, erinnerte sich seiner gütigen Liebe und weinte ein bißchen.

Aber diese Tränen waren wie Sommerregen – sie trockneten schnell.

Und der Mann an ihrer Seite, der jede Regung angstvoll belauerte, fragte sich bang: ist dies nur die Oberflächlichkeit einer Frau, deren Herz trotz Ehe und Mutterschaft noch in jungfräulichem Schlafe liegt, oder angeborene Kälte?

»Ich habe eine Frage an Sie gerichtet, Aaron!« sagte Frau Isabel, verletzt durch sein Schweigen, und ihre feingeschnittene»Lippen zitterten ein wenig.

»Pardon . . .« er fuhr herum. Seine dunklen Augen versenkten sich in die ihren, »ich war in Gedanken . . . was wünschten Sie zu wissen, gnädige Frau?«

Sie wandte den Kopf ab.

»Ach, es lohnt sich nicht der Mühe . . .« Plötzlich sah sie ihn wieder an. Anders als sonst: fest, geradeaus, unruhig, forschend.

»Wissen Sie, daß Sie gar nicht mehr so nett zu mir sind, wie . . . wie früher? Immer schweigsam . . . immer versunken in weiß Gott was für ernste, düstere Gedanken . . . nein, wirklich, Sie sind gar nicht lieb und gut zu mir!«

»Ich!!!« Er sagte nur dies eine Wort, aber es lag alles darin, was er bisher mühsam in sich verschlossen hatte. Seine ganze Liebe, seine Angst, seine Sehnsucht.

Frau Isabel erschrak und begriff, daß sie etwas sehr Törichtes getan hatte. Etwas, das sie um jeden Preis hätte vermeiden müssen.

Sie schämte sich, war unglücklich über sich selbst und wünschte sich tausend Meilen weg. Und in ihrer Ratlosigkeit tat sie zum zweitenmal etwas Törichtes: sie setzte sich, anstatt weiter zu gehen und das Paar vorne einzuholen, auf eine Bank am Wege und begann hilflos zu weinen wie ein Kind.

›Nein,‹ dachte sie, ›ich werde nie lernen, mit dem Leben fertig zu werden. Immer sage und tue ich gerade das Gegenteil von dem, was ich eigentlich sollte und – möchte.‹

Weltenberg stand schwer atmend neben ihr. Er hätte sie in die Arme nehmen und trösten mögen, ihr sagen, wie er sie liebe, sie fragen, ob . . .

Aber er begriff: es wäre gemein, ihr jetzt, einen Monat nach ihres Mannes Tod, von Liebe zu sprechen.

Mit einem Rest von Vernunft hatte er sich selbst das Wort gegeben, in dieser Richtung stark zu sein und nicht vor Ablauf des Trauerjahres zu sprechen. Dieses Wort mußte er halten.

Isabel von Rittler weinte still in sich hinein. Sein Schweigen ließ das Unpassende ihres Gebarens ihr immer deutlicher ins Bewußtsein treten.

Verstört murmelte sie: »Oh – was müssen Sie von mir denken? Ich bin so ungeschickt . . . so töricht . . . verzeihen Sie . . .«

In ihm aber blitzte plötzlich das Verständnis ihres Wesens auf wie eine Offenbarung. Er erkannte hinter den oberflächlich anerzogenen Allüren der Weltdame die naive, seltsam unentwickelt gebliebene Kinderseele.

Worte fielen ihm ein, die ihre Stieftochter Mara einst besänftigend gesprochen hatte, als Zorn und Schmerz ihn um alle Besinnung zu bringen drohten,

»Sie dürfen Mama nie messen mit dem Maß anderer Frauen. Sie handelt immer impulsiv, manchmal unbesonnen, aber nie in böser Absicht. Man hat sie bis zu ihrer Vermählung fast immer in der Obhut eines Klosters gelassen, und später schuf meines Vaters Liebe einen Wall um sie, der sie nur selten mit der Welt in Berührung treten ließ. So blieb sie, was sie war: weltfremd, fröhlich, und . . . gedankenlos. Das bildet ihren Charme, aber es ist auch die Wurzel manches Fehlers.«

Wie richtig beurteilten Maras Worte diese Frau! Rührung und ein großes Glücksgefühl durchströmten Weltenberg.

Er setzte sich neben Frau Isabel, nahm ihre Hand und sagte sanft: »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Sie sollen sich mir gegenüber immer geben, wie Sie sind, und ich werde Sie nicht mißverstehen. Aber Sie müssen auch Vertrauen in mich setzen . . . Wenn ich Ihnen heute weniger lieb und gut erscheine, so sollen Sie nichts anderes daraus schließen, als daß ich schwerwiegende Gründe habe, so und nicht anders zu handeln. Gründe, die Sie eines Tages gewiß verstehen und . . . billigen werden.«

Sie blickte zaghaft, unsicher zu ihm auf. Dämmerte ihr der Sinn dessen, was er meinte?

Weltenberg konnte es nicht ergründen, denn in diesem Augenblick kehrten Yolanthe und Conte Almassa, die sich öfter umgeblickt hatten, zurück.

Er drückte also nur noch einmal beruhigend ihre Hand und flüsterte: »Vergessen Sie nicht – ich bitte Sie nur um unbedingtes Vertrauen.«

Frau Isabel kam bei Yolanthes Anblick plötzlich peinlich zum Bewußtsein, daß sie verweint aussehen mußte.

»Was würde Yolanthe, die immer kühle, gelassene, formvollendete, von ihr denken?«

Hastig griff sie nach ihrem Täschchen, in dem sich das Taschentuch befand.

Im nächsten Augenblick stieß sie einen leisen erschrockenen Schrei aus, indem ihre Hand eine noch uneröffnete Depesche aus dem Täschchen zog.


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