Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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VII.

In ihrer kleinen Wohnung in der Fürstenstraße Nr. 10 ging Fräulein Rehbein rastlos auf und nieder, während ihre Augen abwechselnd nach dem Zifferblatt der Wanduhr und nach dem Fenster glitten.

Die Wohnung lag im Erdgeschoß und man konnte von ihr aus einen guten Teil der mäßig breiten stillen Seitenstraße überblicken.

Immer deutlicher malte sich Unruhe und Besorgnis in dem gutmütigen Gesicht der alten Jungfer.

Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen: die Flurklingel war stürmisch in Bewegung gesetzt worden.

Ueber Fräulein Rehbeins Antlitz glitt ein Schimmer von Glück, während sie mit einem Seufzer tiefster Erleichterung hinauseilte.

»Endlich!« rang es sich von ihren Lippen, »Gott sei Dank, endlich!«

Sie riß die Türe auf, blieb aber dann wie versteinert stehen, während grenzenlose Enttäuschung sich in ihren Zügen malte.

Nicht der, den sie erwartet, sondern ein gänzlich fremder junger Mensch stand atemlos vor ihr und wußte offenbar nicht recht, was er sagen sollte.

»Sie wünschen?« fragte die alte Dame endlich, etwas erstaunt über das Schweigen des Burschen.

»Den Dr. Sturm. Er wohnt doch hier?«

»Allerdings. Aber . . .«

»Ich muß ihn unbedingt sprechen. Bitte rufen Sie ihn heraus!«

»Er ist nicht daheim. Wenn Sie aber vielleicht eine Botschaft hinterlassen wollen . . .«

Der Bursche achtete nicht auf die letzten Worte. Auch in seinen Zügen malte sich jetzt tiefe Enttäuschung, eine Enttäuschung, die an Schreck grenzte.

»Nicht daheim!!« rang es sich fast verzweifelt von seinen Lippen, während seine Blicke ratlos an Fräulein Rehbein vorüber irrten.

Sie betrachtete ihn aufmerksamer. Irgend etwas erweckte ihr Mißtrauen. Warum sah er nur so scheu zur Seite und weshalb erschrak er darüber, daß Ernst nicht daheim war?

»Wer sind Sie denn eigentlich und was wollen Sie von meinem Neffen?« fragte sie.

Aber auch jetzt schien es, als habe der Bursche ihre Antwort kaum vernommen. Ohne zu antworten, machte er eine linkische Verbeugung und wandte sich zum Gehen.

»So warten Sie doch, mein Neffe muß jeden Augenblick kommen,« rief ihm Fräulein Rehbein nach.

»Ich warte unten auf ihn,« klang es zurück und schon fiel das Haustor hinter dem seltsamen Besucher zu.

Die alte Dame blieb noch einen Augenblick stehen und starrte verwirrt vor sich hin, dann kehrte sie seufzend in die Stube zurück und nahm ihre Wanderung wieder auf.

Langsam verrann Viertelstunde auf Viertelstunde. Mittag war längst vorüber, draußen am Herd stand sorgfältig zugedeckt das fertige Essen, der Tisch im Nebenzimmer war gedeckt, nur der, den Fräulein Rehbein erwartete, kam noch immer nicht.

Sie erwog eben zum hundertsten Male alle Möglichkeiten, die ihn ferngehalten haben könnten, ohne irgend eine befriedigende zu finden, als es draußen abermals klingelte.

Diesmal waren es zwei Herren, die mit ernsten, gemessenen Mienen nach Dr. Sturm fragten.

Als sie hörten, daß er nicht daheim sei, wurden ihre Mienen noch ernster und sie wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

»Sie sind seine Tante, Fräulein Brigitte Rehbein, nicht wahr?« fragte einer der Herren.

»Jawohl, die bin ich.«

»Wann ging ihr Neffe heute aus?«

Fräulein Rehbeins bekümmertes Gesicht nahm plötzlich einen Ausdruck gespannter Unruhe an.

»Oh Gott – er ist verunglückt und Sie . . . Sie kommen, es mir zu sagen,« stammelte sie fassungslos.

»Nein – ich glaube nicht, daß ihm etwas geschehen ist. Aber bitte, beantworten Sie meine Frage!«

Fräulein Rehbein rang die Hände.

»Ach Gott, das ist's ja eben . . . er ging heute noch gar nicht aus, denn seit gestern abend ist er überhaupt nicht nach Hause gekommen! Ich weiß nicht, was ich denken soll. Er war doch niemals unpünktlich! – Und nun warte ich seit Mitternacht auf ihn . . . Sie können sich kaum vorstellen, in welcher Unruhe und Todesangst! Ist er doch meiner einzigen Schwester Kind, das ich erzogen habe, und wenn ihm etwas zugestoßen wäre – bei Gott, ich glaube – es wäre auch mein Tod!«

Große Tränen perlten aus ihren Augen.

»Fassen Sie sich, mein Fräulein, und erzählen Sie uns genau alles, was Sie wissen!«

»Ach, ich weiß ja nichts. Gestern abend, so gegen sieben Uhr, ging er fort und bis jetzt ist er nicht heimgekehrt! Das ist alles, was ich weiß.«

»Ging er zu Fuß?«

»Nein, er nahm sein Fahrrad mit.«

»Wohin er sich begab, wissen Sie nicht?«

»Er sagte nur, er wolle sich etwas Bewegung schaffen, da er den ganzen Tag über seinen Plänen saß und arbeitete.«

»Wenn Sie besorgten, daß ihm ein Unglück zugestoßen ist, warum machten Sie nicht längst die Anzeige bei der Polizei?«

»Weil ich von Minute zu Minute hoffte, daß er wiederkehren würde. Ich bin allein – wenn ich mich entfernte, konnte er inzwischen gerade kommen. Aber nun will ich keine Minute mehr säumen und gleich zur Polizei –«

Ein halb mitleidiger, halb spöttischer Blick des Herrn hielt sie zurück.

»Ich glaube, Sie können sich den Weg sparen, Fräulein Rehbein. Ihr Neffe wird nicht heimkehren, wenngleich er durchaus nicht verunglückt ist. Wahrscheinlich befindet er sich längst auf der Flucht nach irgend einem Hafenort.«

Das alte Fräulein starrte den Sprecher verständnislos an.

»Auf der . . . Flucht? Ernst? Ich verstehe nicht« – stammelte sie, von unbestimmter Angst erfaßt. »Vor wem sollte er fliehen? Und warum denn?«

Beide Herren fixierten sie scharf.

»Sie haben also wirklich gar keine Ahnung, wohin Ihr Neffe sich gestern abend begab?«

Fräulein Rehbein erbebte unwillkürlich unter den gespannt forschenden Blicken. Ihr war zumute wie einer kleinen Maus, der die große Katze jeden Augenblick irgendwie den Garaus machen kann. Ihr schmächtiger Körper begann zu zittern und preßte sich, instinktiv nach einem Halt suchend, an den Schrank, der ihr zunächst stand.

»Nein . . . wie sollte ich es wissen . . . Ernst sagte mir doch nichts darüber!«

»Besinnen Sie sich gut! Sie wissen doch, daß er sich mit Heiratsabsichten trug?«

»Er sprach nie direkt mit mir darüber, aber aus gewissen Bemerkungen und vor allem aus seinem in letzter Zeit bald zerstreuten, bald glückstrahlenden Wesen dachte ich mir wohl, daß so etwas im Werk sei. Aber was hat dies jetzt mit . . .«

»Halt – noch eine Frage,« fiel nun der andere Herr, der bis jetzt noch nicht gesprochen hatte, rasch ein. »Wollen Sie uns sagen, ob Ihr Neffe eine Waffe besaß, als er gestern abend das Haus verließ?«

»Genau kann ich dies nicht sagen, denn er sagte nichts darüber. Aber da er sich kürzlich eine kaufte, eben um bei solch abendlichen Radtouren nicht schutzlos zu sein, so wird er sie wohl auch gestern mitgenommen haben.«

»Was für eine Art Waffe dies war, können Sie uns wohl nicht sagen?«

»Doch. Eine Browningpistole. Ernst sagte, dies sei gegenwärtig die sicherste und beste Waffe.«

Abermals tauschten die beiden Herren einen bedeutungsvollen, fast triumphierenden Blick.

Fräulein Rehbeins bemächtigte sich eine ungeheure Erregung. Irgend etwas Furchtbares senkte sich gleich einer dunklen Last tiefer und tiefer auf sie herab. Sie wollte die Augen schließen, nichts hören, nichts begreifen und schrie doch plötzlich halb wahnsinnig vor Angst auf: »Warum fragen Sie mich dies alles? Oh seien Sie barmherzig, erklären Sie mir, was dies alles zu bedeuten hat!«

»Es bedeutet,« antwortete der Herr, welcher zuletzt gesprochen hatte, mit tiefem Ernst, »daß wir gekommen sind, Dr. Sturm zu verhaften, da er dringend des Mordes verdächtig ist.«

»Des . . . des Mordes?« wiederholte Fräulein Rehbein mechanisch, während ihr Blick ausdruckslos herumschweifte. Dann wich alles Blut langsam aus dem Gesicht, und sie stammelte bebend: »Oh nein . . . Sie machen sich einen bösen Scherz mit mir . . .! Ernst? Das ist ja heller Wahnsinn!«

»Leider nicht. Urteilen Sie selbst. Herr von Rittler, sein einstiger Brotherr, wurde diese Nacht durch zwei meuchlings abgegebene Schüsse getötet. Ihr Neffe, der sich vermutlich schon längere Zeit mit der Absicht trug, Fräulein Yolanthe von Rittler zu heiraten, hielt vor wenigen Tagen schriftlich um deren Hand an, wurde aber natürlich und, wie es scheint, ziemlich energisch abgewiesen. Im Besitz des Toten fand man einen Brief voll versteckter Drohungen von der Hand Ihres Neffen.

Dazu kommt noch, daß ihm wahrscheinlich eine Testamentsbestimmung bekannt war, wonach Fräulein Rittler den Besitz ihres Vermögens nur dann antreten konnte, wenn sie bei Lebzeiten ihres Vaters keine Heirat gegen dessen Willen geschlossen hatte. Nach Herrn von Rittlers Tod aber standen ihrer freien Wahl keine Hindernisse mehr entgegen. Ihr Neffe hatte also, da der Vater ihn ablehnte, nur die Aussicht – vorausgesetzt, daß er Fräulein Rittlers Gunst gewinnen konnte –? entweder ein armes Mädchen heimzuführen oder den Tod des Vaters abzuwarten, was eine aussichtslose Sache gewesen wäre. Indem er das Hindernis gewaltsam aus dem Wege schaffte, gewann er dagegen alles –«

»Halten Sie ein!« unterbrach ihn Fräulein Rehbein flammend vor Entrüstung. »Oh – nun bin ich ganz ruhig! Wenn das Ihre Argumente sind, dann sind dieselben einfach lächerlich! Ernst und ein Mitgiftjäger?! Er, der unter diesen Umständen selig gewesen wäre, ein armes Mädchen heimzuführen und für sie arbeiten zu dürfen! Dessen Ehrgeiz es gerade gewesen wäre, nicht eher zu ruhen, als bis er ihr all das aus eigener Kraft verschafft hätte, was sie aus Liebe zu ihm ausgegeben hat. Oh, Sie kennen Ernst nicht –«

»Es tut mir leid, Ihre Illusion zerstören zu müssen, Fräulein Rehbein. Wenn Ihr Neffe Herrn von Rittler nicht aus Habsucht erschoß, so tötete er ihn eben aus Rache. Verübt hat er die Tat sicher, denn er wurde wenige Minuten danach unter dem Fenster, durch welches die Schüsse abgegeben wurden, von einem Gärtnerburschen betroffen. Er floh, und der Bursche ließ ihn leider entkommen. Die Schüsse wurden aus einer Browningpistole abgegeben, und wenn dies alles Sie nicht überzeugt – wie können Sie seine Flucht erklären? Man flieht nicht, wenn man unschuldig ist!«

Unter der Wucht dieser Argumente sank Brigitte Rehbein halb ohnmächtig auf den nächsten Stuhl. Starr hing ihr Blick am Boden, und als die Herren nun höflich um die Schlüssel zu Dr. Sturms Schränken ersuchten, reichte sie ihnen dieselben mechanisch und wies stumm nach den betreffenden Möbelstücken.

War es denn möglich, daß sie, die Ernst von Kindesbeinen an kannte, dennoch nichts wußte von seinem Inneren? Daß sie ihn für sanft, ideal, friedfertig gehalten hatte, während er . . . Nein. Es war nicht möglich. So harmlos froh und zuversichtlich war er gestern fortgegangen! Sie begriff gar nichts mehr. Nur das Eine wußte sie: etwas Böses konnte Ernst nimmer getan haben.

Dann kamen wieder Zweifel: Wo war er? Warum kehrte er nicht heim?


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