Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XI.

»Baron Weltenberg?« hörte man den Major sagen. »Ich kenne den Herrn nicht. Warum wiesen Sie ihn nicht ab, Jean? Sie konnten sich wohl denken . . .«

»Der Herr bestand darauf, daß ich seine Karte der gnädigen Frau persönlich übergäbe. Er sagte, daß er ein . . .«

»Es ist ganz gleichgültig, was der Herr sagte. Die gnädige Frau denkt nicht daran, in ihrer gegenwärtigen Lage Besuche anzunehmen. Sagen Sie dies dem Herrn. Die Karte werde ich selbst der gnädigen Frau bringen.«

Es war unmöglich, herrischer zu sprechen, als der Major es tat.

Haller hatte schon bei den ersten Worten die Türe geöffnet und war hastig verschwunden. Hempel folgte ihm etwas gemächlicher. Als er an dem Major, der neben dem Diener am Treppenrand stand, vorüberkam, grüßte er stumm, aber Botstiber bemerkte es offenbar nicht, denn er sprach ruhig weiter.

Unten im Vestibül stand ein schwarzgekleideter eleganter Herr von imposanter Gestalt. Schwarzes Haar und ein schwarzer Spitzbart umrahmten das hübsche, frische, zwar gutmütige, aber nicht besonders bedeutend aussehende Gesicht.

Ein Blick in dasselbe belehrte Hempel, daß der Fremde jedes Wort der oben geführten lauten Unterredung verstanden hatte.

Er sah sehr blaß aus, ballte zornig die Hände, und einen Augenblick lang schien es, als wolle er die Treppe hinaufstürzen. Dann aber besann er sich und schritt, ohne die Rückkehr des Dieners abzuwarten, dem Ausgang zu.

Eine altväterische, von gediegenem Reichtum zeugende Equipage erwartete ihn dort. Silas erkannte das Wappen und die Livree des Grafen Saxen, dessen Reichtum und alter Adel jedermann in Wien wohlbekannt waren.

Sinnend blickte Hempel der fortrollenden Equipage nach, als plötzlich Haller an seiner Seite stand und ihm aufgeregt zuflüsterte: »Er war es, der Mann vom Weiher, den ich suche! Es ist derselbe, der sich in Frau von Rittler verliebte und der offenbar um ihretwillen vorgestern nach Wien kam, wo er bei seinem einzigen noch lebenden Verwandten, dem alten Grafen Saxen abstieg.«

»Woher wissen Sie . . .«

»Oh, ich habe meine Zeit nicht verloren und ein wenig mit dem Kutscher geplaudert. So erfuhr ich, daß Weltenberg vorgibt, eine zweite Weltreise antreten zu wollen, und auch, was noch viel wichtiger ist: daß er vorgestern abend kurz nach seiner Ankunft das Palais Saxen verließ, um erst gestern morgen zurückzukehren! So. Und nun werden Sie begreifen, daß ich Ihnen das Feld hier allein überlassen muß –«

»Was wollen Sie tun?«

»Was anders als der Fährte folgen, die eine günstige Laune des Schicksals uns sozusagen vor die Füße warf?«

Und ehe Hempel etwas erwidern konnte, war Haller verschwunden.


Joachim von Rittler war begraben. Aber das Geheimnis seines Todes konnte damit nicht zur Ruhe kommen wie der arme Leichnam, den man unter Blumenspenden, Tränen und vielen schönen Worten in die Gruft hinabgesenkt hatte.

Allerlei Gerüchte flatterten da und dort auf. Denn obwohl die meisten Leute von Dr. Ernst Sturms Schuld überzeugt waren, so gab es doch einige, welche meinten, da stecke sicherlich ganz etwas anderes dahinter.

Manche wollten in der Umgebung des Schlosses öfter einen herabgekommenen Menschen gesehen haben, den niemand kannte, und der stets ebenso spurlos verschwand, wie er aufgetaucht war.

Andere behaupteten, in der Mordnacht auf den Feldern einen elegant gekleideten Herrn herumirren gesehen zu haben. Zwei Taglöhner, die spät aus dem Wirtshaus nach Hause gingen, frugen ihn, was er da suche, er aber gab keine Antwort, sondern entfernte sich rasch in der Richtung nach dem Heiligenstädter Friedhof zu. Auch ein Weinhüter hatte ihn gesehen und scharf im Auge behalten, da er ihn für einen Traubendieb hielt, bis er sich überzeugte, daß es ein vornehmer Herr sei, der nur den Weg verfehlt hatte und nun einen passenden Uebergang über den Schreiberbach nach der Wildgrubengasse suchte.

Eine alte Magd des Schlosses endlich schwor darauf, daß nur ein Gespenst den gnädigen Herrn getötet habe. Schon lange ging der Geist des alten Kastellans in Kreuzstein um, aber man lache sie – Trine – ja immer aus, wenn sie davon spreche. Und doch wisse jedermann, daß Kastellan Kratochwill mit einem Fluch gegen den gnädigen Herrn auf den Lippen gestorben sei, weil dieser verboten habe, dem alten Säufer Schnaps zu geben.

Alle diese Schwätzereien verloren ihre Bedeutung, als der Untersuchungsrichter ihnen energisch zu Leibe ging.

Die Zeugen, welche vorgeladen waren, um über den angeblich gesehenen »herabgekommenen« Menschen auszusagen, behaupteten plötzlich, nichts zu wissen. Sie hatten es gehört und eben weiter erzählt, das war alles.

Der Taglöhner und der Weinhüter konnten keine deutliche Personsbeschreibung des »eleganten« Herrn geben. Er sah eben »vornehm« aus, und sie glaubten, daß er entweder vom Kahlenberg herabgekommen und sich während des Gewittersturmes in der Finsternis verirrt habe oder von einem Stelldichein käme.

Alle drei behaupteten, er sei groß und stattlich gewesen mit einem Spitzbart – ob blond, braun oder schwarz, wußten sie nicht anzugeben.

Dies stimmte auf Ernst Sturm, und Wasmut frohlockte schon. Als er ihnen aber eine Photographie vorlegte, wurden die Leute unsicher und meinten, der Herr habe doch ein wenig anders ausgesehen. Keinesfalls könnten sie einen Eid ablegen, daß dies das Bild des nächtlichen Wanderers sei.

Trine blieb steif und fest bei ihrer Gespensterbehauptung. Da sie aber allgemein als verschrobene alte Jungfer galt, deren Phantasie, durch jahrelanges Lesen von Schauerromanen erregt, sich meist in wunderlichen Bahnen bewegte, so entließ sie der Richter zuletzt mit einem mitleidigen Lächeln über ihre konfusen Behauptungen.

Fester denn je lebte in ihm die Ueberzeugung, daß nur Sturm der Täter sein konnte.

Frau von Rittler hatte dem Begräbnis nicht beigewohnt. Es hieß, sie leide noch immer an schweren Nervenanfällen und sei so angegriffen, daß der Hausarzt dringend auf Ortsveränderung bestände.

Wer aber die schöne, in ihrem eleganten Trauergewand doppelt jung erscheinende Frau am Tag nach dem Begräbnis in den Wagen steigen sah, der sie und Yolanthe sowie Sephine zur Bahn bringen sollte, bemerkte nichts von dieser »schweren« Erkrankung.

Die blauen Kinderaugen sahen weit eher erwartungsvoll anstatt verweint in die Welt und das wunderschöne reiche Blondhaar war so kunstvoll frisiert, daß es viel eher an eine Ballkönigin als an eine trauernde Witwe erinnerte.

Auch Yolanthes weiche Züge zeigten kaum mehr Spuren vergangener Schrecknisse. Mit einer glücklichen Mischung schwermütigen Ernstes und lieblicher Grazie verabschiedete sie sich von der den Wagen umstehenden Dienerschaft, bot Onkel Malchus die Wange zum Kuß und reichte der Beschließerin freundlich die Hand.

Sie wollte auch Mara die Hand reichen, aber diese, die in düsteres Schweigen versunken im Hintergrund stand, schien es nicht zu bemerken.

Da trat sie rasch noch einmal an die Schwester heran und flüsterte ihr zu: »Du bist sehr töricht, Mara, wenn du mir auch jetzt noch zürnst, daß ich Sturm aufgegeben habe, wo die Tatsachen selbst mich rechtfertigen!«

Mara warf ihr einen kalten Blick zu.

»Willst du mir damit einreden – was du ja selbst nicht glauben kannst – daß Dr. Sturm schuldig ist?«

»Ja. Und ich glaube es wirklich, Mara. Denn siehst du, je länger ich nachdenke, desto weniger finde ich eine Erklärung dafür, daß er nach dem Unglück noch im Park – ja sogar unter Papas Fenster war. Wir nahmen doch schon eine Viertelstunde zuvor am rückwärtigen Pförtchen Abschied, und er wollte gleich fort. Sein Rad stand ganz in der Nähe hinter der Mauer . . . Und dann war er auf einmal, viel später, an der Vorderfront des Schlosses! Was führte ihn dorthin? Ueberhaupt – wozu floh er, wenn er sich unschuldig wußte?«

»Er floh nicht . . .«

»Bah, deine fortwährende Behauptung von einem Unglücksfall ist lächerlich. Alle sagen es. Wenn unser Besitz auch isoliert liegt, so ist er doch unweit von Wien. Man hätte Sturm so oder so finden müssen!«

»Gib dir keine Mühe,« sagte Mara kalt ablehnend, »meinen Glauben an ihn wirst du nie erschüttern!«

Ein spöttisches Lächeln kräuselte Yolanthes Lippen.

»Wie du ihn liebst! Sogar einen Privatdetektiv sollst du ja beigezogen haben, um den Verlornen wiederzufinden und seine Unschuld zu beweisen!«

»Wer hat dir dies gesagt?« fuhr Mara auf, während dunkle Röte ihre Wangen überzog.

»Das ist gleichgiltig. Genug – man weiß es. Uebrigens will ich dir noch eins verraten, ehe wir uns trennen: Sturm ist durchaus nicht so uneigennützig gewesen, wie wir beide glaubten. Er hat sich zwei Tage vor Papas Ermordung durch einen Mittelsmann bei Notar Funke genauestens über meine Vermögensverhältnisse und Papas Testamentsbestimmungen erkundigen lassen. Erst darauf hin bat er mich brieflich um jene letzte, verhängnisvolle Zusammenkunft. Was sagst du nun?«

Mara starrte die Schwester tödlich erschrocken an. Jede Spur von Leben schien aus ihrem Gesicht entwichen.

Wieder lächelte Yolanthe spöttisch.

»Aha – nun gehen dir die Augen doch endlich auch auf! Du siehst, wie töricht es ist, in allzu blinder Liebe –«

»Schweig,« raunte Mara dumpf, »wenn ich erschrak, so war es, weil dieser Schritt sich für ihn nun zu einem neuen Verdacht gestaltet –«

»Und mit Recht! Kein vernünftiger Mensch wird darnach mehr an seiner Schuld zweifeln – und ich rate dir nur, deine voreiligen Schritte beizeiten rückgängig . . .«

»Geh',« murmelte Mara mit Anstrengung, indem sie sich abwandte, »Mama wartet . . . man sieht bereits nach uns . . .«

»Seid Ihr beide denn noch nicht fertig mit dem Abschiednehmen?« rief in diesem Augenblick Frau von Rittler ungeduldig aus dem Wagen, worauf Yolanthe ihre Schleppe raffte und eilig einstieg. Sephine saß bereits auf dem Bock.

»Doch, Mama, da bin ich schon. Vorwärts, Kutscher! Adieu, Onkel! Adieu, Mara . . .«

Mara starrte dem Wagen mit ausdruckslosem Blick nach. Dann folgte sie den andern müden Schrittes in das Haus.

Auch ihre Sachen standen bereits gepackt. In einer halben Stunde sollte der von der Bahnstation zurückkehrende Wagen sie nach Wien zu Tante Sessa von Arber, einer Cousine ihrer verstorbenen Mutter, bringen.

Auf der Treppe holte sie die Beschließerin, Frau Baumer, ein, und diese begann jammernd ihr Herz auszuschütten. Fünfunddreißig Jahre lang hatte sie im Schoß der Familie Rittler auf Kreuzstein ihren Dienst versehen und nun zerstreuten sich alle! Wie würde das nun werden hier? Der alten Frau bangte vor der Einsamkeit.

Mara tröstete sie, so gut sie es vermochte.

Aber sie, die sonst allen Klagen der Leute ein aufmerksames gütiges Ohr lieh, hörte jetzt nur zerstreut zu.

Es beunruhigte sie, daß Yolanthe von ihrem Schritt bei Silas Hempel wußte. Wer konnte ihr dies verraten haben? Doch nicht der sonst anscheinend so verschwiegene Detektiv selbst?

Viel tiefer beschäftigte sie indes noch das, was Yolanthe von Ernst Sturm behauptet hatte. Wenn es wahr war – und der Richter selbst sollte es ja gesagt haben – dann war dies der erste Zug an Sturm, den Mara trotz alles Grübelns sich nicht erklären konnte . . .


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