Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XXV.

»Ein Augenblick, mein kleines Fräulein . . . ich habe ein Wort mit Ihnen zu reden.«

Silas Hempel, der Poldi gleich hinter den letzten Häusern erwartet hatte, sagte es zwar freundlich, aber in einer Weise, die keinen Widerspruch aufkommen ließ.

Poldi fuhr zusammen, und blieb stocksteif stehen, mit den unruhigen Augen eines Eichkätzchens nach einer Fluchtgelegenheit ausspähend.

Aber Hempel nahm lächelnd ihre Hand.

»Nein, mein Kind, davonmachen geht nicht! Aber was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen einen kleinen Spaziergang zum nächsten Polizeikommissariat vorschlüge, damit wir die Note, die Sie mir gegeben haben, ein wenig auf ihre Echtheit prüfen lassen?«

Jeder Blutstropfen wich aus Poldis Gesicht, in dem sich nichts als nackte Todesangst spiegelte.

»Herr . . . Herr . . .« stammelte sie, und plötzlich in ausbrechendem Jammer die Hände faltend, rief sie verzweifelt: »Haben Sie doch Erbarmen! Ich konnte nicht anders . . . nein, ich konnte nicht anders, so wahr unser Herrgott mir helfe! Wenn ich nur irgend 'nen andern Ausweg gewußt hätte . . . aber ich will's Ihnen bei Heller und Pfennig ersetzen nach und nach . . . nur haben Sie jetzt Erbarmen und lassen Sie mich gehen!!«

Der Detektiv blickte während dieses leidenschaftlichen Ausbruches neugierig forschend in die flehend zu ihm aufgeschlagenen dunklen Augen.

Sie waren rein und ohne Falsch. Nichts als Angst stand darin geschrieben. Wäre Poldi das gewesen, wofür er sie bisher gehalten hatte, die verderbte, in Verbrecherumgebung aufgewachsene Dirne, so würde sie sich wohl auch nicht so besinnungslos ergeben, sondern auf die Unwissende, Ahnungslose hinausgespielt haben.

Hempel mußte sich gestehen, daß ihr Benehmen ihn überraschte. Es erschütterte das System, das er sich über die Bewohner des Winzerhauses gebildet und das Marstallers Bericht zu bestätigen schien.

»Ich will Ihnen was sagen, mein Kind. So einfach geht die Geschichte nicht,« meinte er endlich. »Wo die eine falsche Note war, müssen noch andere stecken und es ist sicher nicht das erstemal, daß Sie es . . .«

»Doch! Ich schwöre Ihnen, Herr, es ist das erstemal! Ich hatte sie schon lange . . . Männer, die zuweilen in unser Haus kommen, warfen sie weg oder verloren sie, ich weiß es nicht – kurz ich fand sie. Nie bis heute hatte ich die Absicht, sie auszugeben.«

»Sie wußten natürlich, daß sie falsch ist?«

Poldi senkte den Kopf.

»Ja,« antwortete sie leise, »ich vermutete es.«

»Warum gaben Sie die Note nicht an jene Männer zurück?«

»Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Großmutter schärfte mir immer ein, ihnen aus dem Wege zu gehen. Das sei keine Gesellschaft für uns, die wir vielleicht eines Tages vornehme Damen sein würden . . .«

»So, das sagte Ihre Großmutter?« Der Detektiv horchte hoch auf.

»Ja. Manchmal. Dann freilich weinte sie wieder und klagte, daß es für uns beide wohl kein Glück auf dieser Welt mehr geben würde. Vor jenen Männern hätte sie mich übrigens gewiß nicht zu warnen brauchen, die jagten mir Angst genug ein . . .«

»Sonderbar – Ihre Großmutter warnte Sie und bot den Leuten doch einen Unterschlupf! Was machten sie denn eigentlich im Keller unten?«

»Ich . . . weiß es nicht.«

»Oh, ich denke, Sie wissen es recht gut, Kleine, daß die Burschen eben jene falschen Banknoten fabrizierten, von welchen Sie mir heute eine anboten!«

Poldi schwieg. Dann sagte sie ängstlich: »Darf ich jetzt gehen?«

»Einen Augenblick noch. Sie haben mir ja noch nicht gesagt, was Sie veranlaßte, die falsche Note gerade heute zu wechseln?«

Poldi wurde sehr rot.

»Ich hatte kein Geld und mußte unbedingt Lebensmittel einkaufen . . . wir haben fast nichts mehr im Hause . . .«

»Ihre Großmutter ist wohl sehr arm?«

»Oh nein. Sie gab mir immer so viel Geld, als ich brauchte. Aber heute, als ich an ihre Tür klopfte, um wie gewöhnlich welches zu verlangen, bekam ich keine Antwort. Sie schlief wahrscheinlich noch. Ich wartete eine Weile, aber da sich nichts rührte, dachte ich endlich . . . ich konnte ja nicht einmal Frühstück kochen ohne Milch, Holz und Zucker . . . und doch . . . kurz da fiel mir eben die Note ein.«

Hempel war die Verlegenheit des Mädchens nicht entgangen.

»Warum warteten Sie denn nicht, bis Ihre Großmutter erwachte?«

»Ich wartete ja! Aber es dauerte zu lange . . .« und, plötzlich von Unruhe und Ungeduld übermannt, setzte sie dringend hinzu: »Ich habe einen kranken Bruder daheim. Er war sehr schwer krank . . . heute morgen zum erstenmal verlangte er zu essen . . . Darum hatte ich Eile. Und darum seien Sie jetzt barmherzig, Herr, und lassen Sie mich endlich gehen!«

Aber anstatt ihn zu rühren, zerstörten diese Worte den ganzen guten Eindruck, den Poldis Wesen aus Hempel gemacht hatte.

»Sie lügen,« sagte er hart. »Sie haben keinen Bruder daheim. Im Winzerhaus wohnt niemand als Sie und Ihre Großmutter!«

Wäre ein Blitz vor ihr niedergegangen, Poldi hätte nicht entsetzter zurückprallen können.

»Oh – Sie wissen, wo ich . . . Sie kennen mich!?« stammelte sie.

»Ein wenig, jawohl! Gestehen Sie nun, daß Sie mich belogen haben?«

Statt aller Antwort begann Poldi zu weinen. »Ich bin verloren,« murmelte sie, »sie werden erfahren, was ich getan habe . . . und . . .«

»Wer soll etwas erfahren? Und was haben Sie getan?«

»Die Leute, welche die falschen Noten machen . . . sie werden mich töten . . . sie machen keine Umstände . . .«

»Hören Sie,« sagte Hempel, dem ein Licht zu dämmern begann, entschlossen. »Sie haben nur diese Wahl: entweder Sie sagen mir nun auf der Stelle offen, was Sie getan haben, dann werde ich Sie auch gegen jene Leute zu schützen wissen, oder ich bringe Sie ohne Gnade und Barmherzigkeit zur nächsten Polizeistation, wo man schon das Nötige aus Ihnen herausbekommen wird!«

Das Mädchen zitterte am ganzen Leib vor Angst.

»Herr,« stammelte sie, »es war nichts Böses . . . gewiß – es war nichts Böses . . .«

»Dann reden Sie offen!«

Und Poldi begann hastig, verworren, halb besinnungslos vor Angst zu erzählen.

»Nein, er ist nicht mein Bruder, Sie haben recht. Wir wissen gar nicht, wer er ist. Aber als ich vor etwa vier Wochen, durch Geschrei erschreckt, heimlich aus meiner Dachkammer hinuntereilte und ihn wie tot mitten auf der Straße liegen sah . . . und doch merkte, es sei noch Leben in ihm, da jammerte er mich. Und Großmutter, die mich erst zornig fortschicken wollte, erbarmte sich seiner auch . . . so schleppten wir ihn schnell ins Haus hinein . . .«

»Und die Mörder?«

»Oh die Elenden! Sie hatten ihn ausgeplündert und für tot liegen lassen. Der eine fuhr auf dem Rad, das sie dem armen jungen Menschen gestohlen hatten, die Straße hinauf auf den Kahlenberg, die andern beiden hatten sich in einen Weingarten geschlagen. Als ich hinab kam, hörte ich eben noch, wie der Alte meiner Großmutter zuraunte: ›Daß du schweigst, wenn dir dein Leben lieb ist – der Bursche ist tot, kommt jemand, so hast du nichts gesehen und nichts gehört. Wenn du uns verratest, so verrate ich den andern – du weißt schon . . .«

»Wen meinte er damit?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht den Herrn, welcher heimlich zur Großmutter kommt?«

»Wer ist dies?«

»Ich weiß es nicht. Großmutter ist meist sehr aufgeregt, wenn er da war. Sie spricht von ihm nur immer per ›der Herr‹. Ich glaube, er bringt ihr Geld und er ist es, von dem sie hofft, er werde doch noch einmal unser Glück machen . . .«

»Sahen Sie ihn einmal?«

»Ein einzigesmal von ferne, denn meist sperrt mich Großmutter ein, wenn er kommt. Damals kam er unerwartet und in der Dämmerung. Er sieht sehr wild und bös aus mit seinen grauen Haaren und den stieren schwarzen Augen, unter denen er abscheuliche Hautsäcke hat.«

Hempel nickte befriedigt.

»Weiter. Was tatet ihr mit dem jungen Mann? Lebt er noch?«

»Gottlob ja – ich sagte es Ihnen schon – obwohl sie ihn übel zugerichtet hatten. Er hatte ein Bein gebrochen und war bewußtlos von einem furchtbaren Hieb, den sie ihm über den Kopf gegeben hatten. Großmutter sagte, einen Arzt dürfen wir nicht holen, schon wegen der Männer und auch weil ›der Herr‹ absolut nichts erfahren dürfe von der ganzen Geschichte. Aber sie war mal in ihrer Jugend bei einem Arzt bedienstet gewesen, dem sie öfter helfen mußte, denn es war auf dem Land. Sie wies mich an, was ich tun mußte, während sie den gebrochenen Fuß in die richtige Lage brachte und mit hölzernen Schienen versah. Wir hatten ihn in einem entlegenen abgeschlossenen Raum unter dem Dach untergebracht und ich pflegte ihn. Aber er wollte und wollte nicht zur Besinnung kommen! Großmutter meint, es sei wohl eine Gehirnerschütterung, und man müsse Geduld haben. Vielleicht überstehe er's doch.

Nun – gestern endlich sprach er zum erstenmal vernünftige Worte. Und heute früh sagte er, er sei hungrig, ich solle ihm rasch zu essen bringen, denn er müsse sobald als möglich zu Kraft kommen.«

»Weiß er, wie lange er sich bei Ihnen befand?«

»Nein. Großmutter meinte, wir sollen es ihm erst sagen, wenn er kräftiger geworden.«

Hempel atmete tief auf.

Sturm lebte also! Wie durch ein Wunder war er dem Leben erhalten geblieben!

Da kam ihm ein Gedanke.

»Hören Sie mal, Poldi, waren Sie es vielleicht, die Fräulein von Rittler für heute an das Winzerhaus bestellte?«

»Ich?« Poldis grenzenloses Erstaunen bezeugte, daß sie keine Ahnung von dem Brief hatte, »Warum sollte ich . . . aber warten Sie? . . . sagten Sie nicht ›Rittler‹? Den Namen sprach der arme junge Mann so oft in seinen Fieberphantasien aus . . .«

»Kann ich mir denken! Aber nun kommen Sie, Poldi. Ich muß nun unbedingt Ihre Großmutter sprechen.«

Während sie dahinschritten, bekam Poldi wieder Angst.

»Großmutter wird böse sein, daß ich Ihnen alles sagte . . . und wenn es bekannt wird – oh Gott, die elenden Mörder werden sich an ihr und mir furchtbar rächen . . .«

»Aengstigen Sie sich nicht, mein Kind. Wenn sich alles so verhält, wie Sie angaben, dann haben Sie nicht das mindeste zu fürchten –« ein grimmiges Lächeln spielte um Hempels Lippen – »weder von jenen Männern noch von dem ›Herrn‹!«

Im Winzerhaus war alles noch wie zuvor. Die Läden geschlossen, die Haustüre zu.

»Großmutter schläft also immer noch?« murmelte Poldi verwundert. »So lange hat sie noch nie geschlafen . . .«

Hempel sah sie betroffen an. Plötzlich spiegelte sich Unruhe in seinem Blick.

»Oeffnen Sie rasch die Haustür,« sagte er rauh, »wir müssen nachsehen, was mit der alten Frau los ist.«

Poldi sperrte auf. Beide wandten sich links nach dem Zimmer der Witwe Brauneis und pochten an. Alles blieb still. Da öffnete der Detektiv entschlossen die Türe, prallte aber im nächsten Augenblick erschrocken zurück.

Das Mädchen stieß einen gellenden Schrei aus und wies mit ausgestreckten Händen auf den Pfeiler, der einen grauenhaften Anblick bot.

Ein für gewöhnlich dort hängender Spiegel war herabgenommen und an die Wand gelehnt. An dem Hacken aber hing der Körper der alten Frau.

»Jesus, Maria,« stammelte Poldi, »sie hat . . . sie hat sich . . . erhängt!!!«

Hempel sagte nichts. Er trat an die Tote heran, betrachtete aufmerksam ihr Gesicht, überzeugte sich durch einen Griff, daß die Totenstarre bereits eingetreten war, und hob zuletzt den nebenstehenden Spiegel probeweise auf.

»Nein,« sagte er dann, während ein furchtbarer Ernst seinen Zügen etwas Drohendes verlieh, »sie hat sich nicht erhängt. Man hat sie erst erdrosselt und später den Schein eines Selbstmordes erwecken wollen!«

Er trat hinaus vor die Haustür und rief Marstaller durch einen Pfiff zu sich.

»Eilen Sie sofort hinab nach Heiligenstadt und machen Sie die Anzeige, daß hier ein Mord geschehen ist. Ich bleibe einstweilen hier.«


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