Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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III.

Die Sonne stand noch nicht am Himmel, als zwei Wagen in raschem Trab den Park passierten und vor dem Schloßportal hielten.

»Die Kommission ist da!« schrie der Stalljunge aufgeregt in eines der Zimmer zu ebener Erde, wo sich die Dienerschaft versammelt hatte und laut diskutierend die Ereignisse der Nacht besprach.

»Endlich! Und daß du mir nun ganz genau alles sagst, was du gesehen haben willst,« sagte der alte Gärtner Martin zu seinem Gehilfen, einem siebenzehnjährigen Burschen, der blaß und verstört zusammenfuhr, als sein Meister ihn anredete. »Wie viele sind ihrer denn?« wandte der Alte sich an den knapp vor dem Fenster stehenden Stalljungen.

»Sechs Herren. Einer davon ist der Bezirksarzt Dr. Straub, der schon vor zwei Stunden hier war. Neben den Kutschern sitzen noch zwei Polizeileute. Aha, jetzt winken sie dem langen, klapperdürren Herrn, der uns vorhin alle ausfragte . . .«

»Hab mir's gleich gedacht, daß der 'n Detektiv ist, den sie sozusagen auf Vorposten rekognoszieren geschickt haben! Na schön, Peter, du kannst jetzt hereinkommen. Es macht sich besser, wenn wir alle beisammen sind.«

Draußen sagte Untersuchungsrichter Wasmut zum Staatsanwalt und zum Polizeikommissär: »Nun wollen wir erst einmal hören, was Haller zu berichten hat. Sie kennen doch Haller, Herr Staatsanwalt?«

»Natürlich! Sehr geschickter Detektiv. War eine gute Idee, ihn sogleich herauszuschicken. Es ist immer gut, wenn man vor dem Einzelverhör einen Ueberblick gewinnt über die internen Verhältnisse des Hauses. Holla, Herr Hempel – wohin denn! Sie werden uns doch nicht ausreißen?«

Der Angesprochene, ein blonder Mensch von unbestimmbarem Alter mit ziemlich nichtssagenden Gesichtszügen, blieb lächelnd stehen.

»Herr Staatsanwalt entschuldigen, ich bin ja nicht als Amtsperson hier und möchte ein bißchen spazieren gehen.«

»Aber ich dachte, der Fall interessiere Sie? Sie wollten ja partout mit!«

»Gewiß. Eben deshalb. Ich finde den Park hier wundervoll. Sie gestatten gewiß, daß ich mir die Szenerie ein wenig ansehe?«

»Wenn Ihnen das interessanter scheint als Hallers Bericht und die Vernehmung nachher . . .«

»Oh, das kann ich später ja alles im Protokoll nachlesen!«

Der Untersuchungsrichter lachte.

»Ganz Silas Hempel! So ist er immer: er muß das Gras selber wachsen hören! Was die andern davon erzählen, interessiert ihn nicht. Na, lassen wir ihn!«

Hempel verbeugte sich lächelnd und verschwand hinter einer Baumgruppe, gefolgt von den halb spöttischen, halb ärgerlichen Blicken der andern Herren.

»Ein komischer Kauz!« brummte der Staatsanwalt. »Man könnte ihn manchmal wirklich für verrückt halten!«

Polizeikommissär Stümper lächelte fein.

»Aber meist ist Methode in seinem Wahnsinn, meine Herren, und ich wollte, ich hätte Hempels hellen Kopf! Schade, daß er sich durchaus nicht entschließen will, bei uns einzutreten, sondern am liebsten für sich arbeitet . . .«

»Und zwar nicht aus Eigennutz, sondern aus einfacher Liebhaberei,« ergänzte Dr. Wasmut, »dies ist auch der Grund, weshalb ich ihm seine Bitte mitzukommen nicht abschlagen konnte. Idealisten sind in unserer Zeit fast etwas Rührendes! Aber nun an die Arbeit!«

Er wandte sich an den bescheiden wartenden Detektiv Haller.

»Nun, Haller – kurz und bündig: was haben Sie inzwischen hier herausgebracht?«

»Daß Herr von Rittler durch zwei Schüsse, wahrscheinlich von außen, getötet wurde, während er arbeitend an seinem Schreibtisch saß. Zu seiner Linken befindet sich ein Fenster, das in den Park geht. Die eine Scheibe ist total zertrümmert. Der erste Schuß war offenbar nicht tödlich, denn das Opfer sprang auf, um zu flüchten, wobei es den Revolver mitnahm, der nach Aussage des Kammerdieners stets geladen in seinem Schreibtisch lag. Eine Blutspur bezeichnet deutlich den Weg, den Herr von Rittler genommen. Ungefähr in der Mitte des Zimmers scheint ihn der zweite Schuß und zwar in die Schläfe getroffen zu haben. Dieser war sofort tödlich. Der Verwundete machte noch ein paar Schritte und stürzte dann vornüber in einen Winkel, wo ihn wenige Minuten später seine beiden Töchter bereits als Leiche fanden.«

»War sein eigener Revolver abgeschossen?«

»Nein. Er lag noch in allen Läufen geladen neben der Leiche.«

»Wo befindet sich das Zimmer, in dem die Tat geschah? Zu ebener Erde?«

»Nein, im ersten Stockwerk.«

»Aber wie konnte dann der Mörder durchs Fenster schießen?«

»Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Ein Rosenspalier ziemlich fester Konstruktion, das sich an der Schloßmauer bis an die Fenster des ersten Stockwerkes zieht. Dann eine Hainbuchengruppe, die genau dem fraglichen Fenster gegenübersteht und von jedem Kind mit Leichtigkeit erklettert werden kann. Man übersieht von ihr aus das Arbeitszimmer in seiner ganzen Ausdehnung.«

»Dann müssen sich ja Fußspuren unten vorfinden!«

»Leider nicht. Ich habe alles mit großer Genauigkeit abgesucht, aber nirgends auch nur die kleinste Spur gefunden. Der Kies konnte ja wohl kaum deutliche Spuren ergeben, aber dicht vor dem Rosenspalier und rings um die Hainbuchen befindet sich lockere schwarze Gartenerde, die jeden leisesten Eindruck bewahren müßte.«

»Vielleicht hat es nachts hier geregnet? Es hat gegen Mitternacht ja auch bei uns in der Stadt gedonnert und geblitzt!«

»Nein, es fiel kein Tropfen. Ein heftiger Sturm, der plötzlich ausbrach, trieb das Gewitter wahrscheinlich weiter, ehe es sich entladen konnte.«

»Wie steht es um die Familienverhältnisse des Ermordeten? Wer wohnt im Schloß?«

»Die beiden erwachsenen Töchter aus erster Ehe, die zweite Frau, eine geborne von Eckmann, Offizierswaise, und ihr ehemaliger Vormund, Major Botstiber, der, zugleich ein Freund des Verstorbenen und Taufpate von dessen einzigem Sohn aus zweiter Ehe, hier seine Pension verzehrt.«

»Wo und was ist der Sohn?«

»Ein elfjähriger Knabe, der sich zu Wiener-Neustadt in der Militär-Akademie befindet.«

»Was ist der Major für ein Mensch?«

»Tadelloser Kavalier, der, im übrigen gutmütig, etwas pedantisch und sehr glücklich darüber scheint, auf Kreuzstein nicht nur seine Heimat, sondern auch einen Wirkungskreis gefunden zu haben.«

»Wieso? Bekleidet er eine bestimmte Stellung im Hause?«

»Nein, aber da er Freude zur Landwirtschaft hat, nahm er dem Verstorbenen, der sich lieber mit Wissenschaft beschäftigte, einen großen Teil Arbeit ab. Er führt alle Rechnungen, beaufsichtigt die Leute, liest Frau von Rittler täglich zwei Stunden vor, musiziert mit den jungen Damen, die ihn ›Onkel‹ nennen, und begleitet sie nach der Stadt, wenn sie Einkäufe besorgen. So hat er seine Zeit nützlich angewandt und ist allen fast unentbehrlich geworden. Die weibliche Dienerschaft schwört auf ihn, die männliche ist ihm nicht sehr grün, weil er gelegentlich ein recht strenger Herr sein soll. Jedenfalls aber ist er derjenige, der überall am besten Bescheid weiß und die genaueste Auskunft geben kann.«

Eine kleine Pause trat ein.

»Hm,« meinte dann der Staatsanwalt, »dies klingt ja ganz harmlos, aber man muß doch alle Eventualitäten erwägen . . . wer weiß, ob die Gefälligkeiten dieses Herrn nicht einen ganz andern Hintergrund haben? Er könnte z. B. in die Frau des Hauses verliebt sein und sich einen verhaßten Nebenbuhler . . .«

Haller lächelte.

»Genau dasselbe sagte ich mir auch, Herr Staatsanwalt, und forschte deshalb die Dienerschaft gerade über diesen Punkt sehr eingehend aus. Ich beobachtete auch den Major und erwog alle Möglichkeiten – aber gerade dadurch kam ich zu der Ueberzeugung, daß Major Botstiber in bezug auf den Mord völlig außer Betracht kommt. Erstens ist Frau von Rittlers Ruf tadellos und der Major ein alter, etwas pedantischer Herr, dem jede Fuhre Dünger in der Wirtschaft mehr am Herzen liegt, als alle Frauen der Welt, darüber ist alles im Hause einig. Zweitens schuf ihm das Vertrauen und die Freundschaft des Toten eine ebenso angenehme als selbständige Stellung im Hause, die durch dessen Ableben nicht verbessert, wohl aber verschlechtert werden konnte. Zum Beispiel, wenn es Frau von Rittler einfallen sollte, wieder zu heiraten –. Endlich besteht für Botstiber die physische Unmöglichkeit der Täterschaft.«

»Wieso?«

»Einfach weil er unter keinen Umständen Zeit gehabt hätte, ungesehen in seine Wohnung – diese liegt im zweiten Stockwerk – zurückzukehren. Zwischen dem zweiten Schuß und dem Eintritt der jungen Damen in das Sterbezimmer verstrichen höchstens 2–3 Minuten. Wäre der Täter im Zimmer gewesen, hätten die beiden Damen mit ihm zusammentreffen oder wenigstens noch seine sich entfernenden Schritte hören müssen, denn die Haupttreppe lag auf ihrem Weg. Eben deshalb bleibt keine andere Annahme übrig, als daß die Schüsse von außen durchs Fenster abgegeben wurden, obwohl mir diesbezüglich noch manches unklar ist. War der Mörder aber außerhalb des Hauses, wie hätte z. B. der Major in sein Zimmer gelangen können? Das Haustor war von innen geschlossen, über die Treppe eilte die durch den Schrei der Tochter alarmierte Dienerschaft! Ganz abgesehen davon, daß durch zwei einwandfreie Zeugen festgestellt wurde, wie der Major erst geweckt werden und sich ankleiden mußte, als man ihn holte. Somit besteht die physische Unmöglichkeit, daß er das Verbrechen beging.«

»Sie haben recht,« nickte der Staatsanwalt, »er kann es nicht gewesen sein. Wie steht es nun um die Ehe des Toten? War sie glücklich?«

»Hm – darüber scheinen die Ansichten in der Dienerschaft geteilt. Fest steht nur, daß der Ermordete seine Frau abgöttisch liebte. Sie aber scheint eine passive Natur zu sein, dabei etwas launenhaft und jedenfalls von Grund aus verwöhnt. Was sie will, geschah stets unbedingt. Nur in bezug auf ihre Bewegungsfreiheit scheint ihres Gatten Eifersucht sie beschränkt zu haben, weshalb es öfter Verstimmungen und kleine Szenen gab.«

»Wie steht es mit dem Nachlaß?«

»Frau von Rittler ist Universalerbin, d. h. sie hat den vollen Nutzgenuß, so lange sie lebt. Später fällt alles ihrem Sohne Leo zu. Die Töchter erster Ehe haben jede ihr eigenes Vermögen, das am Tage der zweiten Heirat ihres Vaters für sie deponiert wurde. Die Zinsen werden zugeschlagen, so lange sie im Elternhause leben, und das Kapital darf ihnen erst mit vollendetem 24. Lebensjahr ausgefolgt werden, und zwar nur dann, wenn sie vorher keine Heirat gegen den Willen ihres Vaters schlossen – andernfalls fällt das Geld an ihren Bruder Leo. Alle diese Bestimmungen erfuhr ich von einem Schreiber des Notars Dr. Funke, der das Testament in Händen hat, mit dem ich zufällig auf der Herfahrt das Coupé teilte.«

»Ist jemand unter der Dienerschaft, auf den ein Verdacht fallen könnte, die Tat begangen zu haben?«

»Kaum, so weit ich urteilen kann. Die Leute sind alle lange im Dienst auf Kreuzstein und offenbar sehr zufrieden. Sie liebten ihren Herrn und betrauern ihn anscheinend aufrichtig.«

»Aber irgend jemand muß die Tat doch begangen haben! Wenn Habsucht und Liebe wegfallen, bliebe als Motiv nur noch ein persönlicher Racheakt!?«

»Vielleicht lassen sich wirklich in dieser Richtung Spuren finden durch ein Dokument, welches ich in der Rocktasche des Toten fand,« erwiderte Detektiv Haller, plötzlich sehr ernst werdend, indem er einen Brief entfaltete und dem Untersuchungsrichter übergab.

Halblaut las Dr. Wasmut den Inhalt vor.

Geehrter Herr von Rittler!

Im Besitze Ihres ebenso rücksichtslosen wie tief verletzenden Schreibens, worin Sie meine Werbung um die Hand Ihrer Tochter als »empörende Frechheit« bezeichnen, habe ich nur zu erwidern, daß es nicht das Geringste an meinen Entschlüssen ändert. Es wird sich ja zeigen, wer in dieser Angelegenheit mehr Ausdauer und Energie besitzt. Jedenfalls sehe ich nur darum von einer gerichtlichen Austragung der Sache ab, weil Sie Yolanthes Vater sind, behalte mir aber eine persönliche Abrechnung – früher oder später – umso bestimmter vor. Denn Sie haben kein Recht, die Ehre eines Mannes anzugreifen, der kein anderes Verbrechen beging als das – Ihr Kind zu lieben. Möge der Versuch, in das Lebensglück zweier Menschen so hart einzugreifen, Sie niemals reuen.

Dr. Ernst Sturm.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Die Herren sahen einander betroffen an. Dann sagte Dr. Wasmut, den Brief einsteckend: »Dies ist jedenfalls ein sehr merkwürdiges Dokument! Immerhin wollen wir uns hüten, voreilig Schlüsse daraus zu ziehen, ehe wir wissen, wer dieser Dr. Sturm ist und wo er die Nacht vom 20. zum 21. verbracht hat.«

»Ganz meine Ansicht,« nickte der Polizeikommissär, »und da wir nun einen Ueberblick über die Verhältnisse hier haben, bin ich dafür, mit der Aufnahme des Tatbestandes zu beginnen.«

»Einen Augenblick noch,« sagte Detektiv Haller, »ich habe mich unauffällig bereits nach Dr. Sturm erkundigt. Er war ein Jahr lang Erzieher des kleinen Leo und verließ Kreuzstein im vorigen Herbst, als der Knabe in die Militär-Akademie kam. Gleich nachher errang er den Doktortitel an der technischen Hochschule, gewann den ersten Preis bei einer Schulbaukonkurrenz und trat vor zwei Monaten als Ingenieur in den Staatsdienst. Seine Eltern sind tot, er lebt mit einem alten Fräulein Rehbein, seiner Tante, zusammen und soll keinerlei Beziehungen mehr mit Kreuzstein unterhalten haben . . . so behauptet wenigstens die Dienerschaft.«


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