Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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II.

Die Wohnung Major Botstibers lag im zweiten Stockwerk, gerade über derjenigen des Hausherrn. Alles war dunkel und still ringsum, und Johann mußte eine gute Weile klopfen, ehe jemand verschlafen antwortete.

»Zum Kuckuck – brennt's etwa, daß man mich mitten in der Nacht aufstöbert?«

»Nein. Aber ein Unglück ist geschehen, Herr Major, und die Leute wissen sich keinen Rat. Sie möchten schnell hinunterkommen.«

»So? Ein Unglück? Na, wird wohl nicht so arg sein . . .«

Man hörte Stiefel kollern, ein Zündholz anstreichen, ärgerliches Gebrumm und endlich Tritte sich der Tür nähern. Diese wurde aufgerissen und des Majors breitschulterige Gestalt erschien, in einen Schlafrock gehüllt.

Kein Mensch hätte ihm den Sechziger angesehen, so stramm war seine Haltung, so tiefschwarz Haar und Schnurrbart, so lebhaft, fast jugendlich der Blick seiner dunklen Augen. Jeder Zug seines bräunlichen Gesichtes sprach von Energie und männlicher Entschlossenheit, verbunden mit militärischer Strenge. So schnauzte er denn auch jetzt die beiden Diener nicht sehr freundlich an: »Also was ist denn los? Heraus mit der Sprache! Hat eines der Pferde Kolik oder was ist sonst geschehen?«

»Der gnädige Herr ist tot. Man hat ihn erschossen!« antwortete der Kutscher knapp und ernst.

Mit einem Satz fuhr der Major zurück. Sein eben noch gleichgültiges Gesicht nahm den Ausdruck tiefsten Schreckens an und entfärbte sich.

»Tot? Joachim von Rittler – tot? Oh Gott!« er packte den Kutscher an der Schulter und rüttelte ihn ungeduldig. »Wer hat es getan . . . so rede er doch! Erschossen sagt ihr? Wie konnte das geschehen?«

»Wir wissen es nicht. Das Fenster neben dem Schreibtisch ist zertrümmert und der gnädige Herr lag schon tot am Boden, als die jungen Damen das Zimmer betraten.«

»Die jungen Damen?«

»Ja, sie waren noch auf und haben vermutlich den Schuß gehört. Jetzt weiß niemand, was eigentlich geschehen soll, darum . . .«

»Jawohl. Natürlich! Ich komme schon . . .« Der Major, immer noch leichenblaß und ganz verstört, machte hastig ein paar Schritte vorwärts, blieb aber plötzlich noch einmal stehen.

»Die gnädige Frau – wie trägt sie das Furchtbare?« fragte er hastig.

»Sie weiß noch nichts. Bis jetzt hatte niemand den Mut, sie zu wecken und es ihr zu sagen.«

Der Major atmete erleichtert auf.

»Ah, das ist gut! Sie schläft . . . man muß sie vorsichtig und nur allmählich vorbereiten, sonst ertrüge sie diesen furchtbaren Schlag kaum . . .«

Dann ging er mit festen Schritten hinab nach dem Sterbezimmer. Noch ehe er dasselbe betrat, hatte der Kutscher den Befehl, einzuspannen und in die Stadt zu fahren, um die Behörde von dem Vorgefallenen zu verständigen.

Der Diener wurde um den Bezirksarzt, der nur eine Viertelstunde von Schloß Kreuzstein wohnte, gesandt, ein anderer beauftragt, alles Nötige für das Begräbnis einzuleiten.

Zuletzt verbot der Major mit strenger Miene, daß irgend jemand sich im Park zu schaffen mache, damit alle etwaigen Spuren des Mörders unversehrt erhalten blieben.

Es war ein Glück, daß das Gewitter inzwischen vorübergezogen war, ohne sich zu entladen, sonst wäre diese Vorsicht wohl umsonst gewesen.

Erst nachdem all diese Befehle erteilt waren, betrat Major Botstiber leise das Zimmer, in dem der Tote lag.

Yolanthe warf sich laut weinend an seine Brust.

»Onkel Malchus . . . oh Onkel Malchus, man hat Papa getötet!!«

Der Major streichelte beruhigend das vom Weinen entstellte Gesichtchen und murmelte leise Trostworte, während er zugleich einen scheuen Blick mit Mara wechselte.

»Wollen Sie es nicht übernehmen, Ihre Mutter auf das Schreckliche vorzubereiten? Sie wissen, sie ist nicht an Leiden gewöhnt, und ich fürchte . . .«

»Nein – sie ist nicht an Leiden gewöhnt,« wiederholte Mara mechanisch, »aber ich will, wenn Sie es wünschen, versuchen . . .«

Yolanthe stieß plötzlich einen Schreckensruf aus und eilte mit ausgebreiteten Armen gegen die Tür, in deren Rahmen zwischen den scheu zurückweichenden Leuten eine Dame stand, die halb ängstlich, halb neugierig hereinspähte.

Mara atmete tief auf und warf dem Major einen Blick zu.

»Zu spät – da ist Mama bereits!«

Frau Isabel von Rittler, eine auffallend schöne, gut erhaltene Erscheinung mit großen blauen Kinderaugen und tizianblondem Haar sah indessen erstaunt von einem zum andern.

»Was habt ihr denn alle, daß ihr so todernste Gesichter macht? Und was macht ihr hier in Papas Zimmer? Ich fürchte mich so sehr! Alles im Schloß ist auf den Beinen und niemand will mir sagen warum . . . sie laufen beinahe vor mir davon, just als sei ich ein Gespenst!«

Sie wollte lachen, aber das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als der Major statt aller Antwort ihren Arm in den seinen zog und sie fortführen wollte.

»Kommen Sie, Isabel. Achim ist nicht ganz wohl. Ich werde Ihnen dies später alles erklären . . . hier ist kein Ort für Sie.«

»Achim? Was ist mit ihm?« Frau von Rittlers Blick irrte durchs Zimmer und erblickte plötzlich das Ruhebett in der Ecke mit dem leblosen Körper darauf.

Im selben Augenblick sagte Maras tiefe klare Stimme neben ihr: »Du hast ein Recht auf Wahrheit, Mama, und kein Ort auf Erden wäre in dieser Stunde geeigneter für dich als dieser, der alles umschließt, was uns von Papa geblieben ist.«

Sie schlang den Arm um ihrer Stiefmutter Schulter und murmelte: »Laß uns beide zusammen weinen um den besten aller Menschen, liebe Mama, den ruchlose Mörderhände uns für immer entrissen haben!«

Einen Augenblick starrte Frau von Rittler fassungslos in das bleiche Gesicht des jungen Mädchens, dann schrie sie laut auf und schlug beide Hände vors Gesicht. Sie wäre zu Boden gefallen, wenn der Major sie nicht rasch gestützt hätte.

Dabei warf er Mara einen vorwurfsvollen Blick zu und stieß rauh heraus: »Wie konnten Sie nur so unvorbereitet . . .«

»Sie ist doch meines Vaters Frau!« erwiderte Mara heftig. »Und mußten nicht auch wir das Schreckliche unvorbereitet tragen? Komm, liebe Mama,« fuhr sie sanfter fort, »nimm Abschied von ihm, ehe Fremde dieses Gemach betreten. In dieser Stunde wenigstens gehört er noch uns allein!«

Aber Frau von Rittler wandte sich schaudernd ab, indem sie des Majors Arm umklammerte.

»Fort,« kreischte sie, »führen Sie mich fort . . . mir graut vor Leichen! Oh Gott, nie wieder werde ich nachts ein Auge schließen können . . . wie gräßlich all dies ist! Yolanthe, bleibe bei mir, ich bitte dich, sonst werde ich noch wahnsinnig!«

Und mit einer Hast, die fast etwas Lächerliches an sich hatte, zog sie Botstiber und Yolanthe mit sich auf den Korridor hinaus, von wo ihre vor Erregung kreischende Stimme noch eine Weile hörbar war.

Mara stand allein.

Ein unsäglich bitterer Zug grub sich um ihren Mund ein. Dann trat sie still zu dem Toten, sah lange in sein bleiches, verzerrtes Gesicht und breitete endlich ein Tuch über ihn aus.

»Armer Papa,« murmelte sie, »wohl dir, daß Tote nicht mehr sehen noch hören können! Du hast sie so sehr geliebt, und sie ist nur ein Kind, das den Anblick deiner Leiche fürchtet . . .«

* * *

Wer konnte Herrn von Rittlers Mörder sein? Darüber zerbrach sich jeder einzelne im Haus den Kopf und mehr noch darüber, aus welchen Ursachen man dem allseits beliebten, gütigen Mann nach dem Leben getrachtet haben konnte.

Frau Isabel hatte sich, von Yolanthe begleitet, in ihr Boudoir begeben. Sephine, die alle Augenblicke in der Küche erschien, um heißen Tee, kalte Limonade, Baldriantropfen, Kognak oder sonst ein Stärkungsmittel für ihre Herrin zu holen, erzählte, beide Damen hätten sämtliche Lichter anzünden lassen, säßen eng aneinander geschmiegt und führen beim leisesten Laut zu Tode erschrocken zusammen.

»Ich bin fest überzeugt, die Gnädige fürchtet, der arme Herr könnte ihr als Gespenst erscheinen,« schloß Sephine ihren Bericht,

»Jesus, Maria,« schrie die Hausmagd Trine auf, »rede doch keiner von Gespenstern in diesem Haus . . . als wenn's nicht schon an einem Opfer genug wäre! Die Gnädige hat ganz recht –«

»Sei sie still, Sie alberne Person,« herrschte Frau Baumer das spindeldürre grauhaarige, wie Espenlaub zitternde Figürchen an, »Geister spazieren doch ihr Lebtag nicht mit Pistolen herum! Die Gnädige fürchtet sich auch sicher nicht vor Gespenstern, sondern . . .«

»Doch, doch,« unterbrach sie Sephine, »sie jammert ja alle zwei Minuten: ›Wenn er mir nur nicht nachts erscheint! Er hat mich so schrecklich lieb gehabt . . . wer weiß denn, ob es den Geistern Verstorbener nicht möglich ist, wiederzukommen? Ich hatte mal eine Freundin, die war Spiritistin und sagte mir . . . ach Gott; Yolanthe, und überhaupt: stell' dir nur vor, daß wir in einem Haus mit einer Leiche sind! Das ist gräßlich‹ . . . Na, überhaupt, ich sag's euch, die Gnädige ist ganz außer Rand und Band. Wie wahnsinnig erscheint sie mir vor Angst und Aufregung!«

»Sie müssen bedenken, Sephine,« sagte Frau Baumer würdevoll, »daß es keine Kleinigkeit ist, einen kerngesunden Mann in den besten Jahren jäh durch Mörderhand zu verlieren!«

»Gewiß nicht! Aber fast komisch kommt's mir doch vor, daß die Gnädige vor lauter Graulen gar nicht dazu kommt, an den Verlust zu denken, den sie erlitten hat! Mir scheint, der gute, arme Mann hätte doch verdient, daß sie auch um ihn ein paar Tränen weint und nicht nur um sich selber. Freilich – so recht tief ist ihr wohl nie 'was gehangen außer die Sorge um die Erhaltung der Schönheit!«

Sephine nahm den inzwischen von der Köchin aufgegossenen Tee und verschwand.

Oben im Sterbezimmer weilte der Major mit dem Bezirksarzt. Letzterer hatte, da sein Gutachten der Behörde vorgelegt werden mußte, eine ziemlich sorgfältige Untersuchung der Wunden vorgenommen und blickte sich nun forschend in dem Gemach um.

»Der erste Schuß war nicht lebensgefährlich, aber der zweite mußte den Tod sofort herbeiführen,« sagte er, »beide scheinen aus einer Browningpistole abgegeben worden zu sein, wofür die eine Kugel, die deutlich sichtbar ist, spricht. Haben Sie irgend eine Vermutung, wer die Tat begangen haben könnte, Herr Major?«

Major Botstiber antwortete nicht gleich. Erst nach einer Weile sagte er zögernd: »Nein. Wenigstens möchte ich um keinen Preis der Welt einen Verdacht aussprechen, solange er sich auf nichts anderes stützt, als auf vage Möglichkeiten.«

»Hm – da die Töchter die Schüsse hörten und gleich hieher eilten, hätten sie den Mörder, wenn er im Zimmer gewesen wäre, beinahe noch auf der Tat ertappen müssen? Aber Sie nehmen wohl auch an, daß die Schüsse von außen durch das Fenster kamen?«

»Wahrscheinlich. Wenigstens könnte ich mir sonst nicht erklären, wie er entkommen wäre. Ich ließ sofort alle drei Ausgänge des Schlosses durch den alten Paul untersuchen, der feststellte, daß sie von innen verschlossen und durch die Sperrketten gesichert waren.«

Er warf einen langen, traurigen Blick auf den Toten und wandte sich dann seufzend zum Gehen.

»Armer, armer Freund, wer hätte geahnt, daß wir uns so wiedersehen mußten, nachdem wir zwei Stunden zuvor uns im besten Wohlsein eine gute Nacht wünschten!«


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