Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XII.

Eine Weile später klopfte es an Maras Tür, und der Kammerdiener ihres Vaters trat verlegen herein.

Das gutmütige, alte Gesicht unter dem schneeweißen Haarkranz sah bekümmert aus und hatte seine alte Frische in den letzten Tagen ganz verloren.

Mara nickte ihm freundlich zu.

»Nun Paul, was möchten Sie denn?«

»Gnädiges Fräulein werden gehört haben, daß ich Kreuzstein nun verlasse . . .«

»Oh wirklich? Nein, ich wußte nichts davon,« antwortete Mara überrascht, »aber wie denn, Paul, – bestimmte Papa nicht in seinem Testament, daß Sie hier das Ableben haben sollten? Mir ist doch, als hätte der Herr Notar . . .«

»Jawohl. Der gnädige Herr war so gütig, das zu bestimmen. Aber . . . es ist nämlich . . . wenn die Familie zusammengeblieben wäre, so läge die Sache natürlich anders. Während so . . .«

»Aber unsere Abwesenheit von Kreuzstein ist ja nur vorübergehend, lieber Paul!«

»Wer weiß!?«

»Wie – ich begreife nicht . . .

Der alte Kammerdiener raffte sich zusammen und sagte hastig: »Ich meine nur so, gnädiges Fräulein. Man kann nie wissen, was später geschieht . . . Sie und Fräulein Yolanthe sind jung und die gnädige Frau . . . je nun, sie ist auch noch jung und kann wieder heiraten . . .«

»Aber Paul – was fällt Ihnen ein!«

»Man kann's nicht wissen, sage ich, gnädiges Fräulein. Und kurz und gut, hier ist nun der Herr Major Herr, und ich alter Narr kann mich nicht mehr an einen neuen Herrn gewöhnen. Darum gehe ich. Leicht wird mir's ja nicht . . . das können Sie mir glauben, gnädiges Fräulein . . .« Seine Stimme zitterte plötzlich. Dann setzte er, sich bezwingend, kurz hinzu: »Besser ist besser. Um was ich bitten wollte, ist: daß mir das gnädige Fräulein erlaubt, sie einmal zu besuchen. Man kann nicht wissen . . . es könnte sein, daß ich mal ein Anliegen hätte . . . oder auch nur so . . . daß man wieder von den alten schönen Zeiten mit jemand reden kann . . .« Wieder zitterte die Stimme des Dieners.

Mara schossen heiße Tränen jäh ins Auge. Krampfhaft drückte sie Paul die Hand. »Ja,« murmelte sie mit erstickter Stimme, »kommen Sie! Kommen Sie oft, lieber Paul . . . auch mir wird es süß sein . . .«

Und plötzlich brach all die Fassung, die sie tagelang mühsam aufrecht erhalten hatte, zusammen unter der Wucht eines sie völlig überwältigenden Einsamkeitsgefühles.

Sie sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor das zuckende Gesicht.

»Oh wie arm bin ich geworden! Wie arm! . . .«

Eine scharfe, erregte männliche Stimme draußen auf dem Korridor, unterbrochen von einer weiblichen, angstvoll beteuernden, schreckte Mara auf.

»Der neue Herr!« sagte Paul als Antwort auf ihren fragenden Blick mit seltsam gereizter verbitterter Stimme, ohne sich vom Platz zu rühren.

Mara sprang auf und öffnete die Tür.

An der Biegung des Korridors stand Major Botstiber mit zornrotem Gesicht vor Trine, während Silas Hempel gleichmütig an einem der breiten Bogenfenster lehnte und auf den Wirtschaftshof hinabsah.

»Kein Wort weiter, Trine,« hörte Mara den Major sagen. »Sie kennen nun meinen Willen. Ein unnützes Wort noch zu wem immer, und Sie sind entlassen! Diese närrischen Schwatzereien müssen endlich einmal aufhören. Wer etwas Positives weiß, hat die Pflicht, damit vor den Richter zu gehen, aber jedem beliebigen Fremden Geistergeschichten zu erzählen, dazu hat die Dienerschaft von Kreuzstein keine Zeit!«

Mara machte unwillkürlich ein paar Schritte vorwärts, vielleicht in der Absicht, Onkel Malchus, den sie nie so heftig gesehen hatte, zu beruhigen.

Aber obwohl der Major das Oeffnen der Türe und die Schritte hinter sich hören mußte, wandte er sich doch nicht um, sondern an Silas Hempel, der dastand, als ginge ihn der Auftritt nicht das mindeste an.

»Und Sie, Herr, wollen Sie mir nun die amtliche Legitimation zeigen, welche Sie berechtigt, schon seit Tagen hier aus- und einzugehen, als wären Sie auf Kreuzstein zu Hause?«

Mara erschrak. Wieder machte sie ein paar Schritte vorwärts, diesmal mit dem bestimmten Vorsatz, lieber sich selbst preiszugeben, als einen Mann, der nur auf ihre Veranlassung hin in diese peinliche Lage gekommen war.

Aber ein rascher, zugleich warnender und gebieterischer Blick aus Hempels Augen zwang sie, untätig stehenzubleiben, während der Detektiv in oberflächlichem Ton antwortete:

»Ich bedaure, Ihnen anstatt einer amtlichen Legitimation nur meine Konzession als behördlich autorisierter Privatdetektiv anbieten zu können, Herr Major . . . und diese habe ich leider nicht einmal bei mir! Vielleicht sind Sie geneigt, mich zu entschuldigen, wenn ich offen gestehe, daß mich lediglich Fachinteresse schon am ersten Tage hieher führte und ich dann, angezogen durch das Geheimnisvolle des Falles, wiederkam. Die Magd hier traf ich zufällig und amüsierte mich über ihren Aberglauben.«

»Unerhört! Sie handelten also ganz ohne amtlichen Auftrag?«

»Zu dienen. Rein zu meinem Privatvergnügen! Aber ich glaube nicht, daß ich dadurch jemand Schaden zufügte, denn die Ermittlung der Wahrheit ist eine Sache, die aller rechtlichen Menschen Gemeingut ist.«

Je harmloser und sanfter Hempel sprach, desto ärgerlicher wurde Major Botstiber.

»Schön. Aber dies ist ein Privathaus, und ich habe es satt, hier alle möglichen Leute herumschnüffeln zu sehen, verstanden, Herr? Von jetzt an steht Kreuzstein nur behördlichen Organen offen, und ich verbiete Ihnen, sich hier noch einmal blicken zu lassen – gleichviel wer Ihr Auftraggeber ist. Guten Tag.«

Er hatte die letzten Worte mit so auffallender Prägnanz gesprochen, daß kein Zweifel darüber herrschen konnte, an wen außer dem Detektiv sie noch gerichtet waren.

Gleich darauf schritt Major Botstiber an Hempel vorüber, bog um die Korridorecke, ohne sich ein einzigesmal umzusehen, und stapfte die Treppe hinab.

Mara stand wie erstarrt. Sie begriff nun, woher Yolanthe um ihre Schritte wußte, und daß Onkel Malchus ihr soeben mit voller Absicht eine Lektion hatte erteilen wollen.

Ungestüm schoß ihr das Blut in die Wangen. Mit welchem Rechte spionierte er ihr nach? Und wie durfte er es wagen, ihr im Hause ihres kaum begrabenen Vaters so zu begegnen? War er denn wirklich der Herr – auch ihr gegenüber, und nicht vielmehr ein Fremder, dem nur Pietät und Dankbarkeit der Stiefmutter eine Ausnahmsstellung eingeräumt hatten?

Irgend etwas in ihr bäumte sich zornig auf. Sie wollte Onkel Malchus nacheilen und ihm sagen . . .

Aber da griff schon eine sanfte Hand nach der ihren und Hempels Stimme sagte beruhigend: »Verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit, es soll nicht wieder passieren. Sie können sehr zufrieden sein, die wirtschaftlichen Angelegenheiten Ihres Hauses in so schneidigen Händen zu wissen. Zwanzig geprüfte Verwalter würden keine so stramme Ordnung auf Kreuzstein halten wie er.«

»Aber –«

»Ich weiß, Sie nehmen ihm den Hieb übel, den er Ihnen gab. Aber begreifen Sie nicht, daß er, der ganz Vaterstelle an Ihnen vertreten will, Sie nur vor kompromittierenden Schritten zugunsten Dr. Sturms, den er für schuldig hält, warnen wollte?«

Mara blickte verwirrt um sich.

»Was werden Sie nun tun, da er Ihnen die Nachforschungen an Ort und Stelle unmöglich gemacht hat?« murmelte sie.

Hempel lächelte.

»Oh – vor allem muß ich bemerken, daß das Wort ›unmöglich‹ für unsereinen nicht existiert. Verrammelt mir einer den Weg, gut, so suche ich mir eben einen andern. Uebrigens die Trine ist nicht ohne. Eine sehr interessante, unterhaltende Person. Haben Sie sie schon lange hier?«

»Ich glaube vier Jahre. Sie ist sehr tüchtig in der Arbeit und gar nicht dumm, nur ein wenig überspannt nach Art vieler alter Jungfern.«

»Schön. Und nun leben Sie wohl. Ich will mich vorderhand doch lieber fortmachen, um den Zorn des Herrn Majors nicht noch einmal zu erregen. Wenn ich Ihnen raten darf, so söhnen Sie sich mit ihm aus. Er hat sich in diesen Tagen so korrekt benommen, daß er wohl einige Rücksicht verdient.«

Mara antwortete nicht. Plötzlich sagte sie, während tiefe Röte ihre Wangen bedeckte: »Ist Ihnen etwas über einen angeblichen Schritt Dr. Sturms bei Notar Funke bekannt?«

»Ja. Er erkundigte sich dort nach den Vermögensverhältnissen Ihrer Schwester.«

»Also wirklich!« rief Mara schmerzlich aus, »Ich hielt es nicht für möglich . . .« nach einer Pause setzte sie ruhiger hinzu: »Was denken Sie darüber?«

»Ich habe bis jetzt nicht den Schatten einer Erklärung dafür. Dieser Schritt wirft zweifellos ein böses Licht auf ihn und nur er selbst könnte ihn erklären.«

»Er! Oh, wo ist er . . .? Wer weiß, ob wir ihn je wiedersehen, ob er nicht schon längst . . .«

»Geduld, mein liebes Fräulein,« beruhigte Silas die Erregte, »ehe wir seine Leiche nicht vor uns sehen, dürfen wir die Hoffnung nicht sinken lassen und auch . . . nicht verdammen!«

Es kostete Mara keine kleine Ueberwindung, Hempels Rat in bezug auf den Major zu befolgen.

So oft sie an ihn dachte, lehnte sich etwas in ihr auf gegen den Mann, den sie bisher nur gewöhnt war mit dankbarer Liebe und Respekt zu betrachten. War er nicht immer zärtlich, rücksichtsvoll und besorgt um ihrer aller Wohl gewesen? Mit seinem Takt hatte er stets selbst die Grenzen seiner Stellung gezogen, es streng vermeidend, sich in Familienangelegenheiten zu mengen oder die Autorität des Hausherrn in den Hintergrund zu schieben.

Auch jetzt in diesen schweren Tagen stand er ihnen allen treu zur Seite. Mara dachte mit Schaudern daran, wie es ohne seine besonnene Leitung in Kreuzstein nun ausgesehen hätte bei Mamas haltlosem Wesen und Leos maßlosem Schmerz.

Und ihr Gerechtigkeitssinn flüsterte ihr zu: ›Nichts bringt dich gegen ihn auf, als daß er gleich den andern so rasch und willig an Ernst Sturms Schuld glaubte! Das allein kannst du ihm nicht verzeihen.‹

In dieser Erkenntnis entschloß sie sich endlich, knapp vor der Abfahrt zu Major Botstiber zu gehen und ihm einige freundliche Abschiedsworte zu sagen.

Er empfing Mara sichtlich erfreut. Und gleich nach den ersten Worten ergriff er ihre Hand und sagte warm: »Es freut mich mehr, als ich sagen kann, daß Sie nun doch noch zu mir kommen, liebe Mara, obwohl ich Ihnen heute vielleicht wehgetan habe . . . aber alles, was in diesen schrecklichen Tagen auf meinen Schultern lag, hat meine Nerven ein wenig überreizt. Ich bin kein junger Mann mehr . . . mit Ihrem Vater habe ich den einzigen Freund verloren, den ich noch besaß . . . verzeihen Sie mir also, mein Kind!«

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Onkel Malchus. Ich bin es ja, die Ihr Mißfallen erregte . . . aber glauben Sie mir: ich konnte nicht anders! Tag und Nacht hätte es mir keine Ruhe gelassen, wenn ich tatenlos zugesehen hätte, wie ein Unschuldiger, der sich nicht verteidigen kann, dem schmachvollen Verdacht preisgegeben blieb, ohne daß jemand auch nur den Versuch machte, ihm zu Hilfe zu kommen!«

Der Major betrachtete sie teilnahmsvoll.

»Es ist in der Tat sehr traurig,« seufzte er, »und ich wollte, ich könnte Ihren Glauben an Sturm teilen! Leider ist dies, wie die Dinge liegen, unmöglich, und ich kann deshalb Ihre Schritte nur mit Besorgnis ansehen. Gebe Gott, daß Sie sich damit nicht schwer kompromittieren!«

»Ich wollte nur Abschied nehmen,« sagte Mara, ihm die Hand reichend, traurig, »und die Gewißheit mitnehmen, daß Sie mir trotz der Verschiedenheit unseres Standpunktes nicht zürnen.«

»Ich Ihnen zürnen! Da sei Gott vor, mein teures Kind! Gehören wir jetzt nicht alle doppelt zusammen, geeint durch die gemeinsame Liebe zu einem lieben Toten? Möchte es mir doch mit der Zeit gelingen, Ihnen denselben wenigstens einigermaßen zu ersetzen.«

Er küßte die blassen Wangen Maras und geleitete sie dann hinab an den Wagen, in dem sie mit gesenktem Blick stumm Platz nahm.

Es wäre ihr unmöglich gewesen, auch nur einen Blick auf das liebe alte Haus zu werfen, ohne den letzten Rest von Fassung zu verlieren.


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