Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XXVI.

»Sie aber, mein Kind,« wandte sich Hempel sanft an die weinende Poldi, »gehen nun hinauf und versorgen Ihren Kranken. Sagen Sie ihm nichts von dem, was hier geschehen ist, es würde ihn zu sehr erschüttern.«

Poldi stand im Begriff, sich stumm zu entfernen, als er sie noch einmal zurückrief und ihr ein Bild vorhielt.

»Kennen Sie diese Photographie, Poldi?«

Sie brach von neuem in krankhaftes Schluchzen aus.

»Großmutter! Es ist doch Großmutters Bild, Sie müssen es selbst erkennen! Wie kommen Sie dazu? Es stammt erst aus dem vorigen Jahre . . .«

»Wo Sie noch im ›Goldenen Schwan‹ zu Neuberg bei Ihrer Großtante waren, nicht wahr?«

»Ja – oh Gott, woher wissen Sie denn nur dies alles?«

»Sagte Ihnen Ihre Großmutter nie, warum sie heimlich von dort fortzog und nicht einmal mehr ihrer Schwester Nachricht gab?«

»Nein. Sie sagte, es müsse sein. Sie war kurz zuvor einer kleinen Operation wegen in Wien gewesen und als sie zurückkehrte, war sie ganz und gar verändert . . .«

»Ich weiß, ich weiß . . . nun, gehen Sie jetzt nur zu Ihrem Patienten. Und machen Sie sich keine Sorge wegen der Zukunft. Ihre Großtante sucht Sie schon lange und wird glücklich sein, Sie endlich wieder zu haben. Auch sonst ist noch jemand im ›Goldenen Schwan‹, der Sie sehnlichst erwartet! . . .«

Poldi wurde feuerrot und verschwand rasch.

Silas Hempel aber setzte sich in den hintersten Winkel der Stube neben einen Kleiderständer, stützte den Kopf in die Hand und dachte nach.

Ja, es stimmte alles. Die Spur, die er instinktiv von allem Anfang an verfolgt hatte, obwohl er so gut wie keinen Anhaltspunkt dafür hatte, war die richtige gewesen. Blieben nur mehr die Beziehungen zu ermitteln, welche die arme Tote hier mit . . .

Ein leises Klirren am Fenster ließ Hempel aus seinen Gedanken auffahren. Jemand hatte von außen an das Fenster geklopft. Jetzt wurde auch ein kurzgeschorener grauer Kopf sichtbar, der vorsichtig durch die Scheiben herein spähte.

Da Hempels Platz ganz im Hintergrund war, außerdem durch den Kleiderständer halb verborgen wurde, die Leiche aber noch am Pfeiler hing, mußte der Mann draußen das Zimmer für leer halten.

»Gottlob, daß ich die Haustür hinter Marstaller nicht abschloß,« dachte Hempel und verbarg sich geräuschlos zwischen den Kleidern des Ständers, »so wird mir der Vogel wohl von selbst in die Arme fliegen! Welches Wiedersehen für den alten Gauner!«

Er hatte sich nicht getäuscht. Im nächsten Augenblick wurde die Zimmertür geöffnet und ein etwa sechzigjähriger Mann mit kleinen listigen Augen und scharfen Zügen schlüpfte herein.

Aber bei dem schrecklichen Anblick, der sich ihm bot, blieb er wie angewurzelt stehen. Leichenblässe deckte sein Antlitz. Mit stierem Blick starrte er auf den Leichnam, als könne sein Verstand nicht fassen, was er sah.

Diesen Augenblick der Verwirrung benützte Hempel, um sich mit einem Sprung von rückwärts auf den Mann zu werfen. Wie mit Eisenklammern umfaßten ihn seine Arme, er warf ihn zu Boden und legte ihm Handschellen an.

Der Alte war so überrascht, daß er kaum Widerstand leistete. Erst als Hempel ihn wieder aufrichtete und auf einen Stuhl setzte, sagte er mit einem giftigen Blick: »Ah – Sie sind's wieder?«

»Jawohl, Halwanger! Derselbe Silas Hempel, der dich schon einmal ins Graue Haus geliefert hat. Aber diesmal, mein Bursche, werden sie dich wohl nicht so bald wieder frei geben. Diesmal wird's um Jahre gehen!«

»Bah – was soll ich denn getan haben?«

»Das solltest du wirklich nicht wissen, alter Sünder?«

Halwanger machte das harmloseste Gesicht der Welt.

»Keine Idee habe ich . . .«

»Nun warte nur. Man wird dir zuerst Papierchen vorlegen, die du wahrlich nicht zum bloßen Vergnügen angefertigt hast im Keller dieses Hauses! Dann wird man dich um einen jungen Mann fragen, dem du da draußen wenige Schritte vom Hause den Garaus machen wolltest . . .«

»Ich nicht, bei Gott, das war nicht ich! Ich war sogar dagegen. Aber die andern hörten nicht auf mich. Sie fürchteten, weil uns der junge Mensch aus dem Kellerfenster steigen sah, er würde uns verraten. Da schlugen sie ihn gegen meinen Rat nieder.«

»Na – mindestens warst du doch dabei und hast stillgeschwiegen! Uebrigens wird man dich auch ein wenig fragen, was du mit der armen alten Frau hier gemacht hast?«

Hempels Blick hing bei diesen Worten gespannt an den Zügen des alten Gauners. Dieser fuhr entrüstet auf.

»Ich? Was kann denn ich dafür, wenn sie sich erhängte? Ich wollte, sie hätte so viel Verstand gehabt, es nicht zu tun . . . zwei Finger gäbe ich drum, wenn sie noch am Leben wäre, die arme Haut.«

»Na . . .«

»Machen Sie sich nicht lächerlich,« fuhr ihm Halwanger grob in die Rede, »daß ich kein Tugendengel war, will ich Ihnen gelten lassen, aber so schlecht bin ich nicht, daß ich die eigene Schwester in den Tod getrieben hätte!«

Jetzt war es Hempels Gesicht, das die größte Ueberraschung zeigte.

»Bah,« sagte er dann ungläubig, »die Witwe Brauneis wäre deine Schwester?«

»Jawohl! Nur daß sie so wenig Brauneis heißt und Witwe ist, wie ich z. B. Halwanger heiße, obwohl ich seit zwanzig Jahre diesen Namen führe . . .« er versuchte zu lachen, »seit ich den andern – wahren – nicht mehr in Ehren tragen kann. In Wirklichkeit heißen wir beide Schartner.«

Er schwieg und blickte seufzend zu Boden. In diesem Augenblick, wo tausend Erinnerungen ihn bestürmten, war nichts als Gram und Bitterkeit über ein verfehltes Leben in seinen Zügen zu lesen.

Hempel betrachtete ihn nachdenklich. Endlich sagte er kurz: »Deine Schwester hat sich nicht selbst erhängt. Sie wurde ermordet.«

Halwanger fuhr zusammen und starrte den Detektiv fassungslos an.

»Oh,« murmelte er, »oh . . .«

Dann schwieg er verstört. Aber in seinen Zügen arbeitete es, und wilde, zornige Gedanken ließen ihre Spuren darin zurück.

Plötzlich ballten sich seine gefesselten Hände, er hob den Kopf und stieß aufgeregt heraus:

»Aber dies ist sein letztes Stück, ich schwöre es! Er bildet sich ein, mit der armen Kathi habe er die Sache aus der Welt geschafft . . . er weiß nicht, daß sie ein Zufall wieder mit mir zusammenführte, und daß ich alles weiß! . . . oh Kathi, Kathi, warum hast du nicht auf mich gehört! Ich warnte dich immer . . .«

Er warf einen halb traurigen, halb vorwurfsvollen Blick auf die Leiche und wandte sich dann langsam gegen den Detektiv um, dessen Augen in atemloser Spannung an ihm hingen.

»Ich weiß, wer ihr Mörder ist,« sagte er dumpf, »er heißt . . .«

»Major Botstiber!« ergänzte Hempel rasch.

Einen Augenblick malte sich grenzenlose Verblüffung in des Alten Gesicht. Dann aber lachte er trocken auf.

»Ach was – so nennt er sich! Aber er ist so wenig Major, wie Sie oder ich. Ein ganz gemeiner Bursche ist er, namens Lämmermaier, der die arme Kathi unglücklich machte und dann mit ihrem Kinde sitzen ließ. Ehe er zum Militär ging, versprach er ihr freilich die Heirat, aber dann, als er sich durch ein Verbrechen zum vornehmen Herrn zu machen wußte, dachte er nicht mehr daran . . .«

»Wissen Sie etwas Näheres über jenes Verbrechen?« fragte Hempel fast atemlos vor Erregung, denn gerade dieser Punkt beschäftigte ihn seit Wochen, ohne daß es ihm gelungen war, die verbindenden Linien zwischen Ursachen und Wirkungen klarzustellen.

»Natürlich! Alles weiß ich! Der Kathi gegenüber konnte er's doch nicht ableugnen, als sie ihm eines Tages auf der Eisenbahn gegenübersaß und ihn wiedererkannte. Da half nichts, als Farbe bekennen, wenn er nicht fürchten wollte, daß sie ihn verrate. So hat er ihr's denn nach und nach eingestanden. Daß sein Herr – der wirkliche Major Botstiber – bei Königgrätz schwer verwundet hinter eine Scheune kroch, in der Lämmermaier sich gleich zu Anfang der Schlacht feige verkrochen hatte. Später schleppte sich noch ein anderer Offizier vom selben Regiment hin und beschwor Botstiber, falls er selber sterben sollte, sich um sein Kind anzunehmen. Er sagte ihm alles, wo er sein Vermögen deponiert hatte, wo das Kind in Kost sei usw. Zuletzt schrieb er mühsam ein paar Worte an seinen Rechtsanwalt auf, damit dieser Botstiber volles Vertrauen schenke. Lämmermaier hörte alles im Innern der Scheune. Als der Tag graute, kroch er heraus und wollte sich davonmachen. Da stößt er auf die beiden Offiziere und sieht, daß sie tot sind. Jetzt kommt ihm ein teuflischer Gedanke. Seine Kameraden in der Kaserne hatten ihn oft damit geneckt, er kopiere seinen Herrn so getreulich, daß er ihm völlig ähnlich sehe, was umso leichter war, als beide fast gleiche Augen und Haare hatten.

Sie waren von gleicher Statur. Lämmermaier, der drei Jahre Botstibers Diener war, kannte alle Gewohnheiten, alle Beziehungen seines Herrn. Und schließlich – wer würde je auf die Idee einer Täuschung kommen? Er wechselt also rasch Kleider und Wäsche mit dem Toten, steckt seine eigenen Habseligkeiten in dessen Taschen und macht durch ein paar Bajonettstiche dessen ohnehin bereits entstelltes Gesicht völlig unkenntlich.

Zuletzt bringt er sich selbst mit demselben Bajonett ein paar Wunden bei und läßt sich eine Stunde später von Sanitätssoldaten anscheinend bewußtlos in ein Feldspital schaffen.«

Halwanger schwieg und starrte einen Augenblick grimmig vor sich hin. Dann fuhr er fort:

»Und so frech das Ganze war – es gelang ihm alles! Niemals hat jemand an seiner Identität gezweifelt! Schlau, wie er war, nahm er sich jenes Kindes sehr an, um alle Welt durch diese ›gute edle Tat‹ für sich zu gewinnen. Von dem Vermögen sprach er natürlich nicht . . . Später verschaffte er seinem Mündel eine glänzende Partie, setzte sich mit ihr ins warme Nest und wußte sich so beliebt zu machen, daß in Wahrheit bald er allein Herr im Hause war.

Da mußte ihm das Unglück passieren, Kathi zu begegnen! Sie hat den schlechten Kerl unglaublich gern gehabt. Als man ihr sagte, er sei gefallen, wollte sie sich ertränken und nur unserer ältesten Schwester, einer braven rechtlichen Frau, gelang es allmählich, sie wieder zur Besinnung zu bringen. Aber schweigsam und unglücklich blieb sie immer, auch als ihre Tochter sich gut verheiratete und nach deren frühen Tod eine Enkelin neben ihr heranwuchs. Und sie, die Lämmermaier nie vergessen hatte, erkannte ihn trotz seines Leugnens. Als er sah, daß sie sich nichts ausreden ließ, gestand er ihr endlich alles ein und beredete sie, ganz mit ihren Leuten zu brechen und hieherzuziehen unter dem Namen einer Witwe Brauneis. Er gab ihr die nötigen Papiere, schickte sie zu dem Besitzer des Hauses und sorgte dafür, daß sie hier Wohnung bekam.

Er wollte sie wahrscheinlich nur unter Aufsicht haben. Ihr selbst versprach er, daß sie bald unter irgend einem Vorwand zu ihm ins Schloß ziehen sollte, wo er ihr sodann eine gute Stelle verschaffen werde.

Ich glaube aber nicht, daß er dies wirklich wollte. Er versorgte sie mit Geld, kam zuweilen als gemeiner Mensch verkleidet hieher, wurde jedoch immer unfreundlicher und zog sie mit leeren Versprechungen hin. Die ganze Sache wurde ihm offenbar lästig, vielleicht auch zu gefährlich . . . Denn eines Tages wurde er – warum weiß ich nicht – von Herrn von Rittler bis nahe an das Haus hier verfolgt. Kathi erzählte mir, er sei außer sich vor Angst und Aufregung gewesen und habe sie – als die Ursache – hart angelassen. Noch in derselben Nacht wurde Rittler erschossen. Ich werde mich nicht irren, wenn ich sage: Lämmermaier tat es, um weitere Nachforschungen Rittlers zu verhindern!«

»So war es auch. Aber was sagte deine Schwester zu der Sache? Gingen ihr nicht die Augen auf?«

»Gott bewahre! Haben Sie schon je gesehen, daß ein Frauenzimmer, wenn es einen richtig gern hat, vernünftig urteilt?«

»Die Kathi war doch eine alte Frau!«

»Ja. Aber sie hat ihr Lebtag nichts anderes im Kopf gehabt als diesen Menschen! Und er war immer ein Komödiant. Außerdem hoffte sie von ihm ein unerhörtes Glück. Trotzdem gelang es mir, sie stutzig zu machen. Er aber brachte sie in fünf Minuten zum Schweigen. Der Mörder sei längst gefunden. Und nun komme auch die glückliche Zeit. Die Familie sei fort und werde kaum so bald wieder kommen. In einigen Monaten könne Kathi als Wirtschafterin in Kreuzstein einziehen und in ein oder zwei Jahren – wer weiß – würde er sie vielleicht sogar heiraten, wenn sie brav und fügsam sei . . .

Kathi glaubte alles. Ich aber hatte unter der Hand so manches erfahren. Vor allem, daß Lämmermaier höchst wahrscheinlich mit der Idee umgehe, nach Ablauf des Trauerjahres Frau von Rittler seine Hand anzutragen. Dann, daß der Mörder noch nicht gefunden sei, wie er behauptet hatte. Ich teilte es Kathi mit, und sie stellte ihn scharf zur Rede, so scharf, daß er alle Besinnung verlor und ihr Dinge gesagt haben muß, die ihr wohl, seinen wahren Charakter endlich verrieten. Das war vor ein paar Tagen. In der Nacht darauf war ich hier, und sie sagte mir folgendes: ›Ignaz – es ist alles aus! Er ist ein Schurke, und ich fürchte mich vor ihm . . . ich weiß jetzt auch . . .

Da brach sie ab, schauderte zusammen und murmelte kaum hörbar: ›Aber er kennt auch mich nicht ganz! So schlecht bin ich nicht, daß . . .

Mehr sagte sie nicht. Was sie meinte oder vorhatte, weiß ich nicht, aber es wird wohl, fürchte ich, die Ursache ihres Todes geworden sein . . .«

Hempel nickte ernst.

»Ja. Sie schrieb einen Brief, in dem sie der Tochter des Ermordeten Aufschlüsse versprach. Die Zusammenkunft sollte heute nachmittag hier am Winzerhaus stattfinden. Gestern abend bekam der Major Kenntnis von dem Brief und – er hat seine Zeit nicht verloren . . .«

Draußen fuhren Wagen vor. Hempel eilte in den Flur. Es war die Polizeikommission unter Führung des Kommissärs Stumper.

»Ich habe Dr. Wasmut und die Staatsanwaltschaft telephonisch benachrichtigt,« sagte letzterer, »und hoffe, die Herren werden nicht allzulange auf sich warten lassen.«


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