Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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X.

Mara von Rittlers Mitteilungen beschäftigten Hempel den ganzen Tag. Da waren anscheinend zwei, wenn auch schwache Spuren, die sich daraus ergaben: die eine führte über Frau Isabel hinauf zu den Sphären der besten Gesellschaft, die andere tief hinab in die Hefe der Verbrecherwelt.

War eine davon die richtige, und welche?

Das erste, was Silas tat, nachdem ihn Mara verlassen hatte, war, daß er nach Prag telegraphierte um Auskunft über Baron Weltenberg.

Aus dem Gothaer Kalender ergab sich nur, daß Zdenko Weltenberg der Majoratsherr von Rosenbühl und der letzte Sproß seines Geschlechtes war. Er stand im 40. Lebensjahre.

Dann beauftragte Silas einen Kollegen, in sämtlichen Hospitälern nach einem jungen blondhaarigen Mann Umschau zu halten, der in der Nacht des 20. September oder am folgenden Morgen, wahrscheinlich in bewußtlosem Zustand, abgegeben worden sei. Auch in den Stationen der Rettungsgesellschaft sollte angefragt werden. Anstatt jeder andern Personsbeschreibung händigte Hempel seinem Kollegen einfach den von der Polizei ausgegebenen Steckbrief Sturms ein.

Zuletzt ersuchte er in einem Billett Polizeikommissär Stumper um Auskunft, welche Wachorgane während der Nacht des 20. September in Heiligenstadt den Dienst versehen hatten.

Erst nachdem er auch dies erledigt hatte, fuhr er nach Kreuzstein.

Schweigend lag das gelbliche, im Theresianischen Stil erbaute Gebäude inmitten des Parkes, den eine hohe Mauer nach allen Seiten vornehm abschloß. Niemand war zu sehen. Alles machte den Eindruck trauriger Einsamkeit.

Es herbstelte schon stark. Gelbe Blätter bedeckten Rasen und Wege, der Himmel war mit düstern Nebeln überzogen, was im Verein mit der langen Reihe verschlossener Fenster an der Vorderfront des Schlosses doppelt melancholisch aussah.

Hempel entließ den Wagen am Gittertor und schritt nachdenklich die Allee bis zum Portal entlang. Zu beiden Seiten zweigten von verschnittenen Hainbuchenhecken begrenzte Wege ab, da und dort sich zu Rondellen erweiternd. Verwitterte Steinfiguren und steife Blumen-Rabatten unterbrachen zuweilen die Eintönigkeit des Parkes, der eine Nachbildung im Kleinen des berühmten Schönbrunnerparkes darstellte.

Als Silas Hempel sich dem Eingange näherte, bemerkte er einen Mann, der soeben von dem Rosenspalier unter Herrn von Rittlers Fenster auf den breiten Kiesplatz, der Rampe und Portal umgab, herüberzuspringen versuchte.

Er lächelte. »Aha, Haller, der mir hier eine Arbeit erspart,« murmelte er und rief dann laut: »Nun – geht es?«

Haller, der soeben mitten zwischen den zausigen Monatsrosen gelandet war, die am Fuße des Spaliers ein breites Beet ausfüllten, blieb ärgerlich stehen und zuckte die Achseln.

»Unmöglich! Ich bin, weiß Gott, kein schlechter Turner und habe den Sprung viermal versucht, aber er gelingt so wenig wie der drüben an den Hainbuchen. Ich möchte einen Eid ablegen, daß der Täter sich anderswohin verzog!«

»Dachte ich mir. Waren Sie schon oben?«

»Nein, heute noch nicht. Ich plauderte ein wenig mit der hübschen Sephine . . .«

»Wer ist das?«

»Die Zofe der Gnädigen. Ein bildhübsches kluges Ding . . . Dann sah ich mir mal den rückwärtigen Teil des Parkes an, der gar nicht so uninteressant ist, als ich erst dachte. Es steht eine Schrift dort . . .«

»Sie meinen die Spuren des vor Valentin flüchtenden Sturm, die, ein wenig verworren, schließlich an dem Pförtchen endigen, das nach der Heiligenstädter Landstraße mündet?« fragte Hempel.

»Nein, das Pförtchen liegt links. Ich war im rechten Teile. Dort, wo der alte Weiher liegt –«

»Aha, nun weiß ich, welche Schrift Sie meinen: die Spuren eines schmalen spitzen Männerfußes, die sich um den Weiher herum finden. Ich habe sie auch bemerkt.«

»Auch die Stelle an der dort schadhaften Parkmauer, wo der Träger dieses Fußes in den Park eindrang?«

Hempel blickte überrascht auf.

»Oh – er kletterte über die Mauer? Nein, die Stelle kenne ich nicht. Ich beschränkte mich auf eine ganz flüchtige Besichtigung jenes Parkteiles, der mir gestern trotz jener Spuren nicht von Bedeutung schien.«

»Und heute? Sind Sie noch derselben Ansicht?«

Haller sah seinen berühmten Kollegen, dem nachzustreben seit Jahren sein Ehrgeiz war, gespannt an.

Silas aber machte sein gewöhnliches ausdrucksloses Gesicht.

»Warum sollte ich heute anderer Meinung sein, da jene Spuren sich auf die Umgebung des Weihers beschränken und hier an der Vorderfront des Schlosses nirgends wiederzufinden sind? Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir lieber hinauf in das Sterbezimmer. Es gibt dort etwas, das ich gerne feststellen möchte.«

»Gut, gehen wir hinauf.«

Ein heimliches Lächeln auf den Lippen schritt Haller hinter Silas die breite Freitreppe hinauf.

Auch hier schien alles öde und verlassen.

»Komisch, daß in solch einem vornehmen Haus nicht mal ein Portier im Vestibül ist,« brummte Hempel, »da kann ja jeder Strolch nur so herauf laufen!«

»Oh, das ist wohl nur heute so, wo ein Teil der Dienerschaft mit der Aufbahrung des Ermordeten beschäftigt ist und die andern alle Hände voll zu tun haben mit den Reisevorbereitungen der Damen.«

»So? Wer reist denn ab?«

»Frau von Rittler und ihre Stieftochter Yolanthe. Drüben im rechten Flügel, wo die Gnädige wohnt, geht es zu wie in einem Bienenstock. Morgen gleich nach der Beerdigung wollen sie fort. Uebrigens einen eigentlichen Portier gibt es auf Kreuzstein tatsächlich nicht. Der Major hat den Posten als überflüssig gestrichen, nachdem der alte Kastellan, der unter Herrn von Rittlers Vater Portierdienste versah, vor zwei Jahren an Säuferwahnsinn starb. Seitdem fielen seine Obliegenheiten den andern Dienern zu, die sie wechselseitig versahen.«

Sie waren inzwischen in dem Arbeitszimmer des toten Hausherrn angelangt.

Es war ein mittelgroßes zweifenstriges Gemach, das rechts an die Bibliothek stieß, von der es eine Wand ohne Türe trennte, und links durch eine Türe mit dem Schlafgemach verbunden war.

Das Schlafgemach bildete die Ecke zum rechten Schloßflügel, besaß vier Fenster und einen Ausgang nach einem kleinen Ankleidekabinett, von dem aus man direkt auf den Korridor des rechten Flügels gelangte.

Wenn man das Arbeitszimmer vom Korridor aus betrat, wurde die linke Ecke von einem mächtigen Kamin ausgefüllt, an den sich die Wand der anstoßenden Bibliothek mit Waffengruppen, Bildern, einer Stehuhr und Klubgarnitur schloß. Rechts befand sich ein kunstvoll geschnitzter Bücherschrank und gegen das Fenster zu neben einem Rauchtisch die Ottomane, auf welcher man Herrn von Rittlers Leiche zuerst gebettet hatte.

Ein grüner Plüschteppich, auf dem noch deutlich die Blutspuren des Flüchtenden sichtbar waren, bedeckte die Mitte des Fußbodens.

Etwa zwei Meter vom linken Fenster entfernt, schräg gegen die Mitte des Raumes gekehrt, stand der Schreibtisch. Von ihm aus übersah man beide Eingänge.

Hempel überflog alles mit einem Blick. Dann trat er vorsichtig an das zerbrochene Fenster heran, betrachtete es eingehend, maß die Entfernung nach den Hainbuchen in Gedanken ab und kniete endlich auf den Fußboden nieder, den er Zoll für Zoll untersuchte.

Immer nachdenklicher wurde der Ausdruck seines Gesichtes. Zuweilen nickte er befriedigt, dann wieder schüttelte er ratlos den Kopf.

Haller störte ihn nicht, sondern wartete geduldig das Resultat der Untersuchung ab. Als aber Silas Hempel jetzt sich erhebend sagte: »Es ist, wie ich dachte – die Schüsse wurden gar nicht von außen abgegeben, sondern der Mörder befand sich hier im Zimmer,« da blitzte es in seinen Augen hell auf und er rief lebhaft: »Wenn dies wahr ist, dann trog mich also mein Verdacht nicht!«

Hempel betrachtete ihn halb verwundert, halb mißtrauisch.

»So? Und welchen Verdacht hegen Sie denn?«

»Davon später. Sagen Sie mir lieber erst, was Sie zu der Ueberzeugung brachte, daß der Täter hier im Zimmer war?«

»Einmal der Umstand, daß diese Fensterscheibe nicht durch einen Schuß, sondern durch einen Stoß zertrümmert wurde. Ich habe mich einmal in ähnlichem Fall mit dem Durchschießen zahlloser Glasscheiben befaßt, um die Wirkung aller erdenklichen Projektile auf sie festzustellen. Auf Grund dieser Erfahrung kann ich positiv behaupten, daß wir einen Durchschlag mit muschelförmigem Bruch haben müßten. Das Glas hier aber ist zersplittert. Zweitens weist das darunter befindliche, hier sehr glatte Parkett einen breiten Streifen auf. Wodurch kann er entstanden sein?«

»Dadurch, daß jemand darauf ausglitt . . .«

»Jawohl. Und dabei unversehens an das Fenster stieß. Der Streifen zeigt weder Risse noch Kratzer, die Sohle jenes ausgleitenden Fußes muß also sehr weich, bestimmt ohne Absatz gewesen sein. Herr von Rittler trug Stiefel – daher kann es nur der Mörder gewesen sein.«

Er bückte sich und hob vorsichtig einen Glassplitter auf, den er Haller unter die Augen hielt.

»Wofür halten Sie die winzigen Härchen, die sich an der Schnittfläche befinden?«

»Unzweifelhaft für Fasern von braunem Filz!«

»Sagen wir getrost: für Teile der Filzschuhe, die der Mörder anhatte, als er achtlos auf den Glassplitter trat! Dies ist nicht viel, aber es ist etwas. Endlich betrachten Sie die Entfernung von den Hainbuchen bis hieher. Es ist lächerlich anzunehmen, daß ein Mensch von dort zwei so gut gezielte Schüsse abgegeben haben soll. Nein, der Mörder hielt sich wahrscheinlich bereits im Zimmer versteckt, als Rittler es betrat. Ich vermute hier zwischen Stehuhr und Klubfauteuil. Als er sich aufrichtete, mag es ein kleines Geräusch gegeben haben. Rittler wandte den Kopf, um zu sehen, was hinter ihm vorging – dabei traf ihn der erste Schuß. Sie werden sich erinnern, daß dieser etwas schräg von der Schläfe nach der Stirne zu verlief . . .«

»Jawohl!«

»Nun wollte er sich wohl mit einem Sprung auf sein Opfer stürzen, glitt aber aus und wurde nur durch das Fenster vor einem Fall bewahrt. Rittler benützte den Moment, um aufzuspringen, nach seinem Revolver zu greifen und zu flüchten, um irgend eine gedeckte Position zu erreichen. Auf dieser Flucht erreichte ihn der zweite – diesmal tödliche Schuß.«

Haller hatte gespannt zugehört. Ein unruhiges Feuer brannte in seinen lebhaften Augen.

»Und der Mörder – wohin kam er?« fragte er hastig. »Vom linken Flügel herüber kamen die jungen Damen, auf der Treppe mußte er der Dienerschaft in den Arm laufen. Außerdem schwört der alte Paul, daß alle Ausgänge versperrt und mit den von innen vorgelegten Sicherheitsketten versehen waren!«

Silas fuhr sich nachdenklich über die hohe wie Elfenbein glänzende Stirn.

»Ich weiß es nicht,« murmelte er langsam, »und ich möchte darüber noch keine Meinung aussprechen, ehe ich nicht . . .«

»Aber ich weiß es! Und ich will es Ihnen sagen,« stieß Haller, der sich in großer Erregung befand, jetzt hastig heraus. »Er floh nach der kleinen Treppe am Ende des rechten Flügels, wo man ihn hinaus ließ, wie man ihn vor der Tat eingelassen hatte. Der Mann vom Weiher ist es mit den schmalen, spitzen Füßen, über die er beim Eintritt ins Schloß Filzschuhe zog!«

»Sie meinen, daß ein Liebhaber der Zofe . . .«

»Nein, der Herrin selbst! Sephine weiß von nichts, sonst hätte sie wahrscheinlich geschwiegen.«

»Frau von Rittlers Ruf ist tadellos –«

»Bah – was beweist das? Daß sie eine raffiniert geschickte Frau ist, weiter nichts. Sie würden anders urteilen, wenn Sie wüßten, was ich weiß!«

»Was wissen Sie denn?«

»Daß Frau von Rittler, die bis dahin mit ihrem Manne im besten Einvernehmen lebte und gemeinsame Räume bewohnte, vor einem Jahr die Bekanntschaft eines Aristokraten machte, der sich rasend in sie verliebte. Damals gab es zwischen ihr und ihrem Manne – es war in Franzensbad – die ersten Szenen. Rittler traute ihr offenbar nicht, denn er bewachte sie förmlich und gestattete ihr nicht einmal mehr, allein für einen Tag nach Wien zu fahren. Immer mußte der Major oder eine der Töchter mit, wenn er selbst sie nicht begleiten konnte. Im übrigen schienen sie äußerlich ausgesöhnt, und niemand hier im Schloß vermutete einen tieferen Zwiespalt.«

»Der wohl auch kaum vorhanden war!«

»Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, daß er vorhanden war, denn Frau von Rittler verlegte kurz nachher unter einem nichtigen Vorwand ihre Zimmer an das äußerste Ende des rechten Flügels, wo sie durch eine Reihe unbewohnter Gemächer von ihrem Gatten getrennt war.«

»Hm – dies alles erzählte Ihnen die Zofe. Und die ist ihrer Herrin wahrscheinlich nicht sehr zugetan.«

»Im Gegenteil – sie ginge für sie durchs Feuer, und es kostete mich kein kleines Stück Arbeit, die Tatsachen aus ihr herauszulocken, ohne ihren Verdacht zu wecken. Sephina ist überzeugt, daß ihre Herrin ein Tugendengel ist und sich mit der Liebe jenes Aristokraten nur einen Spaß machte. Nun beachten Sie aber die eben angeführten Tatsachen neben Frau von Rittlers Verhalten nach dem Mord an ihrem Gatten. Es hieß, sie schliefe längst, und niemand wagte, sie von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen. Trotzdem erscheint sie plötzlich völlig angekleidet, obwohl sie bei der Lage ihrer Zimmer tatsächlich von der Unruhe nichts gehört haben konnte. Warum kam sie?«

»Sie vergessen den Gewittersturm!«

»Zugegeben. Aber was tut sie dann? Sie weigert sich, auch nur einen Blick auf die Leiche ihres Gatten zu werfen, flieht schreiend, bekommt hysterische Anfälle, die es unmöglich machen, Fragen an sie zu stellen, und läßt sogleich mit fieberhafter Eile für die Abreise rüsten. Wenn das nicht sonderbar verdächtig ist, will ich mich hängen lassen! Und nun denken Sie an die Spuren am Weiher, diese Spuren eines unzweifelhaft höchst eleganten Männerfußes, und an das völlig rätselhafte Verschwinden des Mörders. Da Sie die Oertlichkeiten kennen, brauche ich Sie wohl nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß der Weiher den Fenstern der Hausfrau schnurgerade gegenüberliegt!«

Hempel wollte etwas sagen, als draußen auf dem Korridor Major Botstibers laute Stimme ärgerlich erklang und beide aufhorchen machte.


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