Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XXII.

Später als sonst war Herr Rosenzweig heute bei seinen beiden alten Freundinnen erschienen.

Und da sie ihn doppelt ungeduldig erwartet – ja die Hoffnung auf sein Kommen schon beinahe aufgegeben hatten – so war der Empfang dann auch doppelt warm und freudig geworden.

Ueberhaupt – Frau Baumer schwor darauf, die Stunde Mittwoch-Nachmittag, wenn Herr Rosenzweig käme, sei die schönste der ganzen Woche.

Wie wußte er so spannend und geheimnisvoll von seinen vielen Reiseerlebnissen zu erzählen! Wie nahm er Anteil an den kleinsten Ereignissen ihres eigenen Lebens und wie gefällig war er, wenn es galt, den beiden »Damen« – er nannte Frau Baumer und Trine nie anders – irgend einen kleinen Handgriff, eine Besorgung in der Stadt, eine Mühe abzunehmen!

»Mein Lebtag hätt' ich's nicht gedacht, daß ein Jude so nett sein könnte,« sagte die Beschließerin immer öfter zu Trine, die dazu nur still lächelte und sich ihr Teil dachte. Als ob sie, Trine, nicht längst gemerkt hätte, wie es um Frau Baumers Herz stand . . . aber die würde eines Tages schön enttäuscht sein. Es war ja klar, daß Rosenzweig nur um Trines willen die Plauderstündchen immer mehr ausdehnte . . .

Inzwischen wetteiferten beide Frauen in Aufmerksamkeiten für ihn.

Heute hatte er sogar neben dem Kaffee ein großes Stück Kuchen und ein noch größeres Butterbrot gefunden: der Kuchen war von Frau Baumer, das Butterbrot von Trine.

Und nun saßen sie schon fast eine Stunde gemütlich plaudernd beisammen. Draußen herrschte das richtige Allerseelenwetter: Nordsturm und mit Schnee vermischter Regen.

Im Schloß war es still. Das Gesinde hielt sich zumeist in der Küche auf, da es dort warm war, und der Major war oben in seinem Zimmer, wo er mit dem heute angekommenen Inspektor eines zu Kreuzstein gehörigen Landgutes Rechnungen prüfte.

In diese idyllische Stille fiel plötzlich das knirschende Geräusch von über Kies rollenden Rädern. Gleich darauf hielt vorne an der Rampe ein Wagen.

Frau Baumer und Trine horchten hoch auf und liefen dann eilig hinaus, um das Haustor zu öffnen, das man der Kälte und Dunkelheit wegen schon um sechs Uhr geschlossen hatte.

Jetzt ging es auf sieben. Die Tür aus Frau Baumers Stübchen in das Vestibül war etwas offen stehen geblieben.

Leb Rosenzweig trat an den Spalt und spähte hinaus. Das Vestibül – im Sommer frei und luftig – wurde im Winter stets durch eine Glaswand gegen das Haustor abgegrenzt und in eine Art »Hall« umgewandelt. Gewächsgruppen, Korbmöbel und ein um die Luftheizung montierter Kamin, vor dem ein paar bequeme Fauteuils standen, ermöglichten es zur Not, hier Lieferanten und Geschäftsleute zu empfangen, die man nicht gerade in die Salons hinaufführen wollte.

Heuer, wo in Abwesenheit der Familie die Heizung des ersten Stockwerkes überhaupt unterblieb, war diese Einrichtung besonders vorteilhaft.

Rosenzweig – oder vielmehr Silas Hempel – war gerade an den Spalt getreten, als sich die Glastür öffnete und Mara von Rittler unter den lauten Freudenbezeigungen der beiden alten Dienerinnen in die Hall trat.

Fast gleichzeitig kam über die Treppe herab Major Botstiber gelaufen.

»Nein, Sie dürfen heute nicht mehr zurück bei dem abscheulichen Wetter,« erklärte Frau Baumer bestimmt, »gleich wollen wir den Ofen in Ihrem Zimmer heizen, gnädiges Fräulein . . . und alles zurechtmachen. Welches Glück, daß wir neben der Luftheizung noch die alten Oefen in den Zimmern haben.«

»Lassen Sie nur, liebe Baumer,« sagte Mara, die sehr blaß aussah, matt, »ich werde wahrscheinlich nicht hier bleiben. Ich wollte nur etwas mit Onkel Malchus besprechen – ah, da sind Sie ja schon selbst, Onkel . . .«

Sie schritt dem Major entgegen, über dessen Antlitz, als er sie erkannte, ein Schatten von Enttäuschung flog.

»Sie sind es, liebe Mara! Ich dachte schon – heute depeschierte ich nämlich an Ihre Stiefmutter nach Brioni. Aber es wäre wohl kaum möglich, daß die Damen schon hier sind.«

Mara achtete nicht auf die Worte. Ihr Blick ruhte abwesend auf dem Major. Es war, als beherrsche sie ein Gedanke völlig, von dem sie nicht wußte, wie sie ihn in Worte kleiden sollte.

Botstiber wies auf einen Fauteuil am Kamin.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mara? Ich kann Ihnen momentan keinen bessern Raum anbieten als diesen hier. Die Räume oben sind nicht geheizt und in meinem Zimmer wartet Inspektor Leffler.«

Mara warf einen unruhigen Blick um sich. Die Hall war leer. Trotz ihres Protestes hatten sich Frau Baumer und Trine nach oben begeben, um ihr Zimmer instand zu setzen. Sie folgte Botstibers Aufforderung und ließ sich am Kamin nieder. Hempel, der durch den kleinen Spalt Maras Gesicht genau sehen konnte, bemerkte verwundert, daß ihre Lippen bebten. Plötzlich schlug sie die Augen voll auf, blickte den Major an und sprach zu ihm:

»Ich bin gekommen, Ihren Rat einzuholen, Onkel Malchus, denn ich weiß wirklich nicht, was ich von dieser seltsamen Sache denken soll.«

»Worum handelt es sich?«

»Vielleicht nur um einen schlechten Scherz . . . vielleicht . . . aber bitte sagen Sie mir vorher, ob das alte Winzerhaus am Ende unseres Weingartens, das, soviel ich mich erinnere, wegen Baufälligkeit seit Jahren außer Gebrauch steht, noch zu unserem Besitze gehört?«

Der Major antwortete nicht gleich. Hempel glaubte aus seinem Versteck zu bemerken, daß für einen Augenblick fahle Blässe über Botstibers Gesicht huschte. Aber im nächsten Moment trug es wieder den gewöhnlichen strengen, unbewegten Ausdruck.

»Das alte Winzerhaus? Gewiß ist es noch Kreuzsteinscher Besitz,« antwortete er, sich neben Mara am Kamin niederlassend und die Beine übereinander schlagend. »Wie kommen Sie darauf?«

»Sie sollen es gleich hören. Ist das Haus etwa bewohnt?«

»Ich glaube ja. Ihr Vater vermietete es vor einem Jahre an eine arme alte Frau, in deren Kopf es nicht ganz richtig zu sein scheint. Sie wohnt dort mit einer Enkelin . . .«

»Kennen Sie diese Frau?«

»Ich? Nein. Das Haus liegt über der Straße drüben, und da der winzige Zins stets pünktlich von der Enkelin entrichtet wurde, hatte ich bisher keine Veranlassung, mit den Leuten in Berührung zu kommen.«

»Eine Wahnsinnige also!« murmelte Mara schaudernd. Dann öffnete sie ihr Täschchen und legte einen Brief vor den Major hin.

»Lesen Sie dies, Onkel Malchus, und sagen Sie mir, was ich tun soll!«

Botstiber las halblaut:

»Wenn Sie wissen wollen, warum man Ihren Vater ermordet hat, so kommen Sie morgen nachmittag an das alte Winzerhaus, das zu Ihrem Besitz gehört. Kommen Sie aber allein, sonst werden Sie kein Wort von der ganzen Geschichte erfahren.

Eine Unglückliche.«

Der Major hatte das letzte Wort schon eine Weile gelesen und starrte immer noch nachdenklich in den Brief. Wahrscheinlich überlegte er, welchen Rat er Mara geben sollte.

»Das Schreiben wurde Ihnen wohl durch ein junges Mädchen überbracht?« sagte er endlich, Mara fragend anblickend.

»Nein, durch einen Dienstmann. Wer das ist ja gleichgiltig. Sagen Sie mir lieber, was Sie davon halten!«

»Hm – der Brief klingt sehr seltsam,« murmelte er langsam, »er würde von der größten Bedeutung sein, wenn nicht manches darauf hinwiese, daß er von – jener Wahnsinnigen verfaßt wurde. Immerhin –« er stand auf und vollendete entschlossen: »Sie müssen morgen unbedingt hin. Allein – wie es gewünscht wird.«

»Oh Gott . . . ich allein . . . zu einer Wahnsinnigen!« stammelte Mara angstvoll. »Und ich hoffte . . .«

»Ich würde sehr gerne mit Ihnen gehen, liebes Kind, aber dann würden wir wohl beide nichts erfahren. Aber seien Sie ruhig, ich werde in Ihrer Nähe sein . . . was den Wahnsinn jener Frau betrifft, so ist es vielleicht nicht so arg damit. Man würde sie sonst nicht allein mit der Enkelin wohnen lassen, ja Ihr Vater hätte sie wohl kaum in das Winzerhaus genommen.«

Er faltete den Brief zusammen und schob ihn in seine Brusttasche.

»Ich brauche Ihnen wohl nicht erst einzuschärfen, daß Sie strengstes Stillschweigen gegen jedermann beobachten müssen! Diejenige, die den Brief geschrieben hat, kann Sie beobachten lassen. Sie kann selbst hier im Schloß Spione haben . . . Das Schreiben behalte ich. Ich möchte es nachher noch einmal gründlich durchstudieren. So, und nun will ich Ihren Kutscher ablohnen und zurückschicken.«

Mara sah unentschlossen drein.

»Den Kutscher zurückschicken? Ich wollte – Tante Sessa wird mich erwarten . . .«

»Ich werde dem Kutscher ein paar Zeilen mitgeben, die Sie an Ihre Tante schreiben können. Es wäre Torheit, bei diesem Wetter nach Wien zurückzufahren, da Sie morgen doch wieder heraus müssen. Ich glaube, die Baumer hat auch Ihre Zimmer bereits geheizt und instand gesetzt.«

Mara stand auf und zerrte nervös an ihrer Pelzstola.

»Dann muß aber Trine bei mir oben schlafen . . . mutterseelenallein im ganzen ersten Stockwerk, das ertrüge ich nicht!«

»Sie, Mara? Seit wann sind Sie denn so furchtsam geworden?« Der Major lächelte ernst. »Uebrigens kann ja Trine ganz gut mal oben schlafen. Gehen Sie nur, damit ich das Billett für Tante Sessa bald bekomme.«

Er blickte ihr nach, als sie langsam die Treppe hinaufstieg. Und plötzlich verzerrten sich seine Züge in schrecklicher Weise. War es Zorn, Schreck oder Todesangst? Silas Hempel konnte daraus nicht klug werden. Aber während er aus seinem Versteck in atemloser Erregung diese Veränderung beobachtete, erfaßte ihn zugleich eine an Furcht grenzende Unruhe.

Was sollte all dies bedeuten? Der Brief, das Stelldichein am Winzerhaus, die Erregung des Majors, die Wahnsinnige? Am Winzerhaus hatte jener Ueberfall stattgefunden, dessen Zeuge Weltenberg gewesen. Dort war allem Anscheine nach der unglückliche junge Sturm für immer verschwunden.

Hempel konnte seinen Gedanken nicht weiter nachhängen. Frau Baumer kam die Treppe herab. Der Major ging ihr lächelnd entgegen und sagte ungewöhnlich freundlich: »Nun, das ist einmal eine freudige Ueberraschung in unserem einförmigen Dasein, nicht wahr, Frau Baumer? Sie haben es dem lieben Kind doch recht behaglich gemacht oben?«

»Das will ich meinen,« nickte die Beschließerin strahlend, »die Oefen sind geheizt, die Lichter brennen, das Bett ist gerichtet. Trine bleibt zur Bedienung oben und ich will nur noch rasch in die Küche, um wegen des Abendessens Vorsorge zu treffen. Die Herrschaften werden herunten im kleinen Speisesaal essen, nicht wahr?«

»Natürlich.«

Hempel faßte einen plötzlichen Entschluß. Lautlos glitt er an den Tisch, raffte seine Mappe an sich und drehte die Gasflamme, die er schon kleingestellt hatte, völlig aus. Dann schlich er hinaus.

Als Frau Baumer eine halbe Stunde später nach der Speisekammer ging, die nahe dem Seitenausgang des Schlosses lag, vernahm sie von dort her unterdrücktes Stöhnen.

Erschrocken eilte sie hin und fand zu ihrem Schrecken auf der Schwelle des Ausganges Leb Rosenzweig liegen, der erbärmlich ächzte.

Unter Jammer und Wehklagen vertraute er seiner Gönnerin an, daß er sich, gleich nachdem das schöne gnädige Fräulein angekommen sei, habe still davonmachen wollen, damit der »gestrenge Herr Major«, vor dem er eine wahre Todesangst habe, ihn nicht etwa erwische. Aber die Stufen hier waren von der Nässe glatt, und in der Eile fiel er so unglücklich, daß er nun nicht einmal allein aufstehen könne. Er fürchte, die rechte Hüfte sei verrenkt. Und was er nun um Gottes willen anfangen solle? Wie nach Wien zurückkommen, da er sicher keine zwei Schritte machen könne?

Frau Baumer war ratlos.

»Wenn ich doch bloß zehn Minuten früher hieher gekommen wäre!« klagte sie. »Eben ist der Wagen, der das Fräulein brachte, leer nach der Stadt zurückgefahren . . .«

»Wenn Sie bloß sein wollten so barmherzig, Frau Baumer, und mich lassen diese Nacht im Schloß!« jammerte Leb Rosenzweig. »Werden Sie doch haben ä Loch irgendwo, wo mich kann der Gestrenge nix entdecken?«

Frau Baumer dachte nach. Hier unten ging es nicht, denn die andern Dienstboten würden es bemerken und konnten es gelegentlich dem Major verraten. Daraus könnten allerlei Unannehmlichkeiten für sie selbst erwachsen.

Aber im ersten Stock oben war ja noch die einstige Heizerkammer aus der Zeit, wo die großen alten Kachelöfen allmorgendlich von außen geheizt werden mußten. Seit die Luftheizung im Gebrauch stand, schlief der Heizer unten im Keller und seine einstige Kammer oben war Rumpelkammer geworden. Ein altes Bett stand auch darin, das zur Not wohl noch benützt werden konnte . . .

Ja, es ging. Freilich, schön war es nicht dort, und Licht durfte man auch nicht brennen, und kalt würde es sein . . .

Sie setzte Herrn Rosenzweig dies alles auseinander, während sie ihm emporhalf, was sichtlich nur unter argen Schmerzen gelang. Er aber war mit allem einverstanden.

»Nur, daß mich nix kann sehen der Gestrenge,« ächzte er fortwährend.

»Er wird Sie nicht sehen,« beruhigte Frau Baumer, »aber wir müssen gleich nachher hinaufgehen, während die Herrschaften unten beim Abendessen sind. Bleiben Sie einstweilen hier sitzen, Herr Rosenzweig, bis ich Sie abholen komme. Ich schaffe inzwischen auch ein warmes Federbett in die Kammer und etwas Eßbares.«


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