Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XVI.

Mara von Rittler war allein zu Hause, als man ihr Major Botstiber meldete. Sie saß untätig am Fenster und blickte verloren in den grauen nebligen Tag hinaus.

Als der Major eintrat, erhob sie sich und ging ihm rasch entgegen.

»Welch angenehme Ueberraschung, Onkel Malchus! Ich dachte eben an Kreuzstein und wie traut dort vor einem Jahre noch alle zusammen . . .« ihre Stimme bebte, aber sie bezwang sich gewaltsam und fuhr fort: »Darüber wurde ich natürlich traurig. Aber Ihr Kommen scheint mir nun wie ein lebendiger Gruß von daheim!«

Botstiber seufzte.

»Wenn Sie Heimweh haben, liebe Mara, warum kommen Sie nicht allein oder mit Ihrer Tante öfter wenigstens für einen Nachmittag hinaus?«

»Tante Sessa ist gesellschaftlich stets so in Anspruch genommen, daß sie behauptet, keine Zeit dazu zu finden . . . Und allein? Sie werden mich auslachen, Onkel Malchus, aber ich fürchte mich, allein nach Kreuzstein zu kommen! Ich fürchte die Schrecken der Erinnerung, die traurige Leere dort in den lieben Räumen . . . nein, ich muß erst ruhiger werden . . .«

»Sie, Mara? Die immer Ruhige, Tapfere?«

Mara wandte den Blick verwirrt ab.

»Ich bin sehr nervös geworden. All die Aufregungen, die Angst, die Sorge . . .«

»Ich verstehe,« sagte er mild, »auch ich bin nicht mehr derselbe! Auch mich quält die Einsamkeit draußen, die einen so traurigen Gegensatz bildet zu vergangenen Zeiten . . . aber wir wollen uns nicht gegenseitig das Herz noch schwerer machen, als es schon ist,« fügte er hinzu, indem er sich neben Mara am Fenster niederließ. »Haben Sie Nachrichten von Mama und Yolanthe?«

»Nein.«

»Wie – sie schreiben auch Ihnen nicht?«

»Nur zwei Karten kurz nach der Abreise. Eine war aus Wiesbaden, die andere aus Nizza. Uebrigens wundert mich dies nicht. Wir schieden verstimmt.«

Eine kleine Pause trat ein. Der Major spielte unruhig mit den Fransen einer Tischdecke. Dann sagte er: »Ich will offen sein gegen Sie, Mara. Mamas Verhalten beunruhigt mich!«

»Oh – ist sie krank? Haben Sie schlimme Nachrichten?«

»Ich habe gar keine. Anfangs wie Sie – nur Karten. Bald von hier, bald von dort. Seit vierzehn Tagen schreibt man mir gar nicht, und ich weiß nicht einmal eine Adresse.«

»Mama und Yolanthe waren nie Freundinnen vom Briefschreiben. Indessen könnten sie doch –«

»Es scheint, daß Mama nicht einmal den ursprünglichen Reiseplan beibehielt. Sie sollten in kleinen Etappen nach Marseille, um sich da einzuschiffen . . . Der Arzt hielt eine Seereise für das beste, wie Sie wissen – nun reisen die Damen aber scheinbar planlos von einem Badeort zum andern – sie, die in Trauer sind und sich gerade von solchen Weltkurorten streng fernhalten sollten . . .«

»Ich glaube, man darf das Mama nicht allzu hoch anrechnen. Sie ist neugierig und impulsiv wie ein Kind und es war stets ihr Wunsch, mitschwimmen zu dürfen im Strom eines prunkvollen Gesellschaftslebens. Außerdem gehen beide von der Ansicht aus, sie würden am besten mit der Vergangenheit fertig, wenn sie jetzt Vergessen in Zerstreuungen suchten.«

»Das ist roh – das ist pietätlos! Achim war ein Gatte, wie es deren nur wenige gibt, und Ihre Stiefmutter hätte alle Ursache . . .«

»Wir wollen nicht richten, lieber Onkel Malchus. Sehen Sie, mir kommt jetzt oft der Gedanke, als wäre mein armer Papa trotz aller Liebe doch eine viel zu trockene Gelehrtennatur gewesen für einen Paradiesvogel wie Mama. Er war zu tief, zu schwer, zu ernst . . . sie litt manchmal insgeheim daran und verzehrte sich vielleicht in brennender Sehnsucht nach dem glänzenden Leben und Treiben der großen Welt, zu dem Papas Reichtum und Name sie doch eigentlich berechtigt hätten. Nun ist sie frei und . . .«

Der Major sprang auf. Flackernde Röte glitt über seine Wangen. »So sprechen Sie, Mara? Sie, die Sie Ihren Vater liebten und Art von seiner Art sind? So lax beurteilen Sie das Benehmen seiner Witwe jetzt . . .«

»Ich vergesse nicht, daß Papa sie liebte eben so, wie sie war! Sie ist gut! Welche Unbesonnenheit immer sie begehen mag, nie wird es etwas wirklich Schlechtes sein. Es gibt Frauen, die klüger sind als Mama . . . berechnender, vorsichtiger . . . und dennoch in meinen Augen unendlich tiefer stehen als die arme Mama!«

Der Major ging einigemale unruhig durch das Gemach. Dann blieb er vor Mara stehen und sagte finster: »Ich habe einigen Grund anzunehmen, daß Ihre Stiefmutter und Yolanthe mit jemand zusammentrafen, dessen Gesellschaft Mama unter allen Umständen nur schwer kompromittieren kann. Sie erinnern sich vielleicht jener törichten Affäre in Franzensbad . . .«

Mara blickte betroffen auf.

»Mit Baron Weltenberg? Gewiß! Aber ich glaube nicht . . .«

»Der Mann hatte die Kühnheit, Ihrer Mutter hier einen Besuch machen zu wollen. Ich wies ihn selbstverständlich ab. Später erfuhr ich, daß er Wien am gleichen Tag verließ wie Mama, und ich traue ihm sehr wohl zu, daß er nun, wo sie frei ist, seine Bewerbungen erneuert!«

Mara antwortete nicht gleich. Die Nachricht kam ihr überraschend, denn sie hatte jener Affäre nie eine tiefere Bedeutung beigelegt.

»Wenn es wirklich der Fall wäre,« sagte sie endlich seufzend, »so müßten wir alle bezüglichen Beschlüsse Mamas persönlichem Ermessen überlassen. Ich kann unmöglich glauben, daß Baron Weltenberg ein unedler Mann ist . . . vielleicht paßt sogar gerade seine etwas flotte, lebemännische Art . . .«

»Aber begreifen Sie denn nicht, Mara? Die Gefahr liegt nahe, daß er Ihrer Stiefmutter Unbesonnenheit benützt . . . ihr Zusagen für die Zukunft entlockt . . .«

»Könnten – dürften wir es hindern, wenn sie selbst es als ihr Glück betrachtete? Es ist wahr, ich zürnte ihr früher manchmal, wenn ihre kindliche Art Papa Sorgen machte. Aber Papa war kein Egoist. So wenig er ihren Verlust bei Lebzeiten ertragen hätte, so wenig wäre es in seinem Sinn gelegen, sie über den Tod hinaus an sich zu binden. Mamas Charakter ist nicht geschaffen, ohne die leitende Hand eines Mannes mit dem Leben fertig zu werden.«

»Sie hat uns – hat ihren Sohn –«

»Leo ist ein Kind! Sein Beruf wird ihm nie gestatten, dauernd mit Mama zusammenzuleben. Und wir . . . Ihre väterliche Fürsorge in allen Ehren – aber einen Gatten werden wir alle Mama doch nie ersetzen können!«

Botstiber biß sich auf die Lippen und murmelte zornig: »Wenn Sie sich so leicht damit abfinden – ich kann es nicht! Achim war mein Freund, aus meinen Händen nahm er seine zweite Frau in Empfang, ich fühle mich verantwortlich für ihre Handlungen und werde einen so schmählichen Treubruch einfach nicht dulden. Sie soll hier auf Kreuzstein leben, Achims Andenken und ihrem heranwachsenden Sohne! Uebrigens ist ihre sofortige Rückkehr auch aus andern Gründen unbedingt nötig.«

»Aus – andern Gründen?« Mara horchte beunruhigt auf. Der Ton Botstibers war plötzlich entschlossen und von tiefem Ernst durchdrungen geworden.

»Ja. Sie wissen noch nicht alles. Ich war heute beim Untersuchungsrichter. Er hält noch an dem Glauben an Sturms Schuld fest, aber der Staatsanwalt ist anderer Meinung geworden. Jener Detektiv, den man zuerst nach Kreuzstein sandte, will neue Spuren gefunden haben im Park . . . er behauptet, aus Sephine allerlei herausgefragt zu haben, und will den Beweis liefern, daß Baron Weltenberg in jener Nacht gleichfalls auf Kreuzstein war. Jedenfalls wird der Baron nur schwer ein Alibi nachweisen können. Wenn man bisher mit entscheidenden Schritten zögerte, so geschah es nur im Hinblick auf die hohe gesellschaftliche Position Weltenbergs . . .

Und in dieser Gesellschaft reist Ihre Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach! Begreifen Sie nun alles? Wie schwer sie sich kompromittiert, ja – sogar sich selbst in Verdacht bringt . . .!?«

Mara hatte wie betäubt zugehört. Man begann an Ernst Sturms Schuld zu zweifeln – wie lichter Himmelsschein fiel diese Nachricht in ihre Seele. Aber gleich darauf stockte ihr der Atem vor Schreck. Um welchen Preis – oh Gott, um welchen Preis!!

Sie sprang auf. Bebend preßten sich die Hände auf das wild schlagende Herz und in namenlosem Schreck starrte sie in das bleichgewordene Antlitz des Majors.

»Nein – oh nein – sprechen Sie dies nicht aus . . . Mama . . . Weltenberg . . . wer dürfte . . .«

»Das Gericht fragt nicht um Erlaubnis, meine arme Mara! Man wird ihren Namen mitleidslos durch alle Mäuler ziehen, und was ich ihr eben durch diese Reise ersparen wollte, wird nun geschehen: sie wird Rechenschaft geben müssen über jede Minute ihres Lebens, über ihre Gefühle, ihre Ehe, ihre ganze Vergangenheit.«

Er fuhr sich nervös über die feuchtgewordene Stirn.

»Und wir, die wir wissen, daß sie nie etwas mit den furchtbaren Ereignissen jener Nacht zu tun gehabt haben konnte – wird man unseren Worten glauben? Welcher Tor war ich, sie fortzulassen! Man wird sagen, sie wollte fliehen . . . man wird nicht begreifen, warum sie ihren Aufenthalt selbst vor uns geheimhält . . .«

Es war, als habe der Major für einen Augenblick all seine sonstige kühle Ueberlegung verloren. Dann zwang er sich zur Beherrschung.

»Sie haben also keine Ahnung, wo sie sich zur Stunde aufhalten?«

»Nein. Was werden Sie nun tun, Onkel Malchus?«

Er dachte einen Moment nach. Plötzlich glitt ein blitzartiges Leuchten über sein hageres, scharf geschnittenes Gesicht und er schlug sich vor die Stirn.

»Oh – ich weiß, wo ich es erfahren kann! Ein großer Teil der Trauergarderobe war noch nicht fertig und sollte nachgeschickt werden. Isabel ist viel zu harmlos und unüberlegt, um zu denken, daß ich bei ihrer Schneiderin nachforschen könnte . . . leben Sie wohl, Mara, ich muß sofort ins Maison Spitzer. Jede Minute ist kostbar.«

Mara sah dem Forteilenden in dumpfer Betäubung nach. Angstvolle Gedanken kreuzten sich in wirrem Durcheinander in ihrem Kopf. Welch neue furchtbare Aufregungen standen ihnen allen bevor . . . immer dunkler und verworrener wurde das Geheimnis, das ihres Vaters Tod umgab!

Und kein Lichtstrahl, nirgend, nirgends . . .

Plötzlich sprang sie auf und begann sich in fiebernder Hast zum Ausgehen anzukleiden.

Zu Silas Hempel! Seit Wochen hatte sie nichts von ihm gehört . . . wußte er um die neue Spur? Glaubte er an sie? Kam er deshalb nicht? Oder – der Herzschlag stockte ihr – hatte er die furchtbare Gewißheit von Ernsts Tod bekommen und wagte nicht, ihr Herz durch diese Nachricht zu brechen?

Verwirrt durcheilte Mara die Straßen. Es fiel ihr nicht einmal ein, daß sie einen Wagen benützen könnte. Ihr war, als brächte sie nichts so schnell in die Bernardgasse als ihre von Angst beflügelten Schritte.

Kata, mürrischer und struppiger denn je, hatte kein Auge für die Todesangst in dem schönen jungen Mädchengesicht. Sie verstand nur in den Zügen ihres Herrn zu lesen. Deshalb antwortete sie auf Maras Frage mit barscher Kürze: »Herr sein schon über zwei Wochen fort. Ich nicht wissen, ob er noch lebt oder totgeschlagen sein von verfluchte Spitzbuben.«

Damit schlug sie der Besucherin einfach die Tür vor der Nase zu.


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