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Am selben Abend nach dem Abendessen lag Jan schlummernd vor dem Kamin, in dem ein Holzfeuer gemütlich prasselte; zwischen seinen Pfoten ruhte Hippity-Hop, in ein festes Knäuel zusammengeballt. Jan wußte, daß Kapitän Smith die Geschichte erzählte, wie er einst krank und mißhandelt zum Pfandstall gebracht worden war, um dort beseitigt zu werden.
In den Augen der jungen Mutter standen Tränen, als sie den Blick von dem schlafenden Hund auf die Tür eines Nebenzimmers richtete, wo ihr Kindchen in seinem Bette warm und wohlgeborgen schlief. Als sie sich niederbeugte und Jans Kopf streichelte, öffnete er die Augen, schlug mit dem Schwanze auf den Boden und schlief dann wieder ein, denn er war sehr müde.
Der Vater des Kindes erzählte dem Kapitän, daß er der Arzt der kleinen Stadt sei, und daß seine Frau und sein Kind auf Besuch in Kalifornien gewesen wären. Sie hätten ihr Heim auf der Höhe wohl nie wiedergesehen, wenn nicht Prinz Jan ihr Retter gewesen wäre.
Der alte Mann fuhr dann mit seiner Erzählung fort: »Prinz Jan ist im Hospiz auf dem St. Bernhard geboren und noch als junger Hund von Herrn Pixley nach Kalifornien gebracht worden. Mir schien es nie ganz recht, daß man ihn aus der Umgebung herausgenommen hat, in die er gehörte und wo er nützlich gewesen wäre, um ihn dann so schlecht zu behandeln. Allerdings wußte die Familie Pixley nichts von der Handlungsweise der Dienstboten, aber das half dem armen Jan nichts.«
Der Arzt kniete nieder und betrachtete den schlafenden Hund sehr genau, worauf er sich dann wieder in seinen Stuhl setzte und sagte: »Der Hund ist mir bekannt, und die Geschichte ist sehr merkwürdig. Nachdem ich nämlich meine Studien in Europa beendet hatte, machte ich noch eine Fußtour in der Schweiz. An dem Tage, an dem Jan vom Hospiz fortgenommen wurde, war ich zufällig dort. Ich hörte zu, als einer der Mönche von Jans Vater sprach und erzählte, wie dieser bei der Rettung von einigen Männern auf einer Eisbrücke den Tod gefunden habe. Mein Weg ging nach Italien, aber ich war noch dabei, als Jan in der entgegengesetzten Richtung, nach Martigny, geführt wurde. Ich habe den flehenden Ausdruck seiner Augen niemals vergessen können, auch nicht den klagenden Laut, den er beim Fortgehen ausstieß. Ich fühlte damals mit ihm seinen Schmerz und seine Treue, hatte aber keine Ahnung, daß der arme Kerl so viel zu leiden haben und einst das Leben meiner Lieben retten würde.«
»Das ist wirklich wunderbar,« entgegnete der Kapitän. »Das einzige, was ich über Bernhardinerhunde weiß, ist, daß sie im Hospiz leben und ausgesandt werden, um Reisende zu suchen, die ihren Weg im Schnee verloren haben. Sie sind der erste, den ich kennen lerne, der jemals dort gewesen ist. Ich wollte, ich hätte das Hospiz und die prächtigen Hunde auch einmal sehen können.«
»Sie wissen wohl, der Paß des Großen St. Bernhard ist die Hauptverkehrsstraße von Italien nach der Schweiz,« sagte hierauf der Arzt, und seine Frau lauschte dem Bericht über Jans Heimat ebenso gespannt, wie der alte Herr. »Es ist derselbe Paß, durch den Napoleon Bonaparte seine Armee im Mai des Jahres 1800 führte.«
»Über den Marsch habe ich gelesen,« unterbrach ihn der Alte, »und ich kann beurteilen, was das für eine Leistung war mit Proviant, Munition und dem Transport der großen Kanonen, denn Sie müssen wissen, daß ich die vier Jahre unseres Bürgerkrieges als Soldat mitgemacht habe.«
»Der Monat Mai ist der gefährlichste in den Alpen,« erzählte der Arzt weiter, »weil der Schnee dann schmilzt und in großen Lawinen niederstürzt, die oftmals Menschen verschütten. Als ich auf den Stufen des Hospizes stand, die von den Tritten der vielen Reisenden ausgetreten sind, dachte ich, wieviel ihrer wohl ohne Hilfe der Hunde das Hospiz nie erreicht hätten. Dabei kam mir der Gedanke, daß die Hunde des Hospizes so tapfer und rühmenswert seien wie Napoleon. Das Denkmal für Barry in der Nähe des alten Hospizes schien mir nicht weniger schön, wie dasjenige, welches Napoleon aus weißem Marmor in der Kapelle errichten ließ zum Andenken an General Defaix, der bald nach jenem Marsch sein Leben verloren hat. Beide, der General und Barry, taten ihre Pflicht, ein jeder auf seine Weise, und waren treu bis in den Tod.«
Die junge Mutter unterbrach ihn mit leuchtenden Augen: »Ich achte die Hunde höher als Napoleon. Er unternahm den Marsch nur einmal und zwar zu seinem eigenen Ruhm und aus Ehrgeiz, um diejenigen zu vernichten, die ihm im Wege standen; aber Barry und die anderen Hunde wagten täglich ihr Leben ohne einen Gedanken an ihren eigenen Vorteil.«
Der alte Mann nickte beifällig und sagte: »Dasselbe dachte ich eben auch.«
»Was mich am meisten befremdete,« fuhr der Arzt fort, »war, daß die Mönche des Hospizes keine Vergütung für irgend etwas verlangen. Die Reisenden, die dort übernachten, brauchen nicht einmal für die Mahlzeiten, die sie einnehmen, zu bezahlen. Als ich fragte, wieviel ich schuldig sei für die zwei Tage, die ich dort gewesen war, lächelten sie und erklärten, es würde nichts berechnet. Selbstverständlich wollte ich nicht abreisen, ohne meine Schuld zu erledigen, und da wurde mir mitgeteilt, es befände sich eine kleine Büchse für freiwillige Gaben in der Kapelle des Klosters. Die Büchse wird nicht bewacht, und niemand wird um eine Gabe für dieselbe angegangen.« Nach einer kurzen Pause erzählte er weiter: »Zuweilen steigen fünf- bis sechshundert Reisende an einem Tage im Hospiz ab, und man sagt, daß zwischen zwanzig- und fünfundzwanzigtausend Menschen im Laufe des Jahres den Paß überschreiten. Wenn man nun bedenkt, wie die Vorfahren von Prinz Jan seit tausend Jahren die Fährten absuchen und Menschen retten, kann man sich einen Begriff von dem segensreichen Wirken der Mönche und der Hunde machen.«
»Und heute,« sagte die junge Mutter tiefbewegt, »hat der liebe, gute Prinz Jan sich seiner Vorfahren würdig gezeigt.«
»Barry hat zweiundvierzig Menschenleben gerettet. Als er tot war, hat man ihn ausgestopft und im Museum in Bern aufgestellt,« sagte der Arzt nachdenklich. »Er vollbrachte seine Arbeit, für die er abgerichtet worden war, in der gewohnten Umgebung. Heute aber sind zweiundneunzig Menschen durch Prinz Jan gerettet worden, aus einem Element, in dem er nicht geschult wurde, allein durch seine wunderbare Intelligenz, die ihn leitete und ihm eingab, an dem Tau festzuhalten.«
Einige Minuten schwiegen alle, und ihre Augen ruhten auf dem Hunde, der zu ihren Füßen schlief, während die dreibeinige Katze, dicht an ihn geschmiegt, laut schnurrte.
»Eines der traurigsten Plätze in der Nähe des Hospizes ist das Totenhaus, wo diejenigen ruhen, deren Persönlichkeit nicht festgestellt werden konnte,« mit diesen Worten nahm der Arzt seine Erzählung wieder auf. »Es kommt öfters vor, wie Sie sich wohl denken können, daß die Mönche und Hunde die Verunglückten zu spät erreichen, oder daß durch den Sturz der Lawinen Leichen aufgedeckt wurden, die Monate oder gar Jahre unter dem Schnee gelegen haben. Da das Hospiz auf Felsen gebaut ist, können keine Gräber angelegt werden, die Leichen werden deshalb im Leichenhaus aufbewahrt. Sie verwesen nicht, da die Luft sehr trocken und kalt ist. In einem Umkreis von ungefähr sieben Meilen gibt es keinen Baum, wegen der Kälte und weil keine Erde für die Wurzeln vorhanden ist. In jeder Jahreszeit ist es eine öde, trostlose Gegend.«
»Jan muß zu Anfang ganz verwirrt gewesen sein, als er von einem solchen Heim nach Kalifornien kam,« meinte die junge Mutter; »wie gut hat er sich trotzdem angepaßt und wie prächtig sich bewährt!«
Der Arzt zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich in seinen bequemen Stuhl zurück. Dann erzählte er weiter: »Der Schnee beim Hospiz ist verschieden vom Schnee an anderen Orten. Sie wissen, daß Schnee gewöhnlich in weichen Massen zusammenhängt und unter den Tritten sich fest zusammenballt; aber bei einem Sturm in den Alpen gefriert der Schnee sobald er fällt und bildet kleine, harte Kügelchen. Diese winzigen Stückchen Eis häufen sich schnell um den Reisenden, er sinkt nieder wie im Flugsand. Wenn dann nicht bald Hilfe zur Hand ist, wird er in kurzer Zeit darunter begraben. Der Wind rast tobend durch die Gebirgspässe und fegt eisige Schneemassen vor sich her, die in das Gesicht einschneiden und die Augen blenden. Oftmals stürzt ein Reisender in einen Abgrund, den er nicht sehen kann, oder fällt hin, erschöpft von der Anstrengung, um nie wieder aufzustehen. Außerdem bilden auch die Eisbrücken eine große Gefahr. Alles das gibt Ihnen einen Begriff von der Wichtigkeit der Arbeit, die jene prächtigen Hunde leisten. Und noch etwas, das nicht allgemein bekannt, aber ebenso heldenhaft ist: Die Mönche des Hospizes bieten sich freiwillig zu der harten Arbeit an, im vollen Bewußtsein, daß niemand es länger als fünf Jahre in der Höhenlage und bei der durchdringenden Kälte aushält, und daß sie ihr Leben bedeutend verkürzen, denn die Lungen ertragen die Höhenluft nicht lange. Nach vollbrachter Dienstzeit begeben sie sich ruhig in das mildere Klima des Rhonetals, wo sie dann, befriedigt von ihrer Arbeit, die kurze Spanne Zeit verleben, die ihnen noch vergönnt ist. Es werden nur junge und kräftige Mönche im Hospiz aufgenommen.«
Damit beschloß der Arzt seine Erzählung. Alle drei saßen nun schweigend da und blickten nachdenklich in das lodernde Feuer. Sie dachten an die Opfer und die Selbstlosigkeit der Mönche und an die Treue der Hunde, die ihre Genossen bei ihrem Rettungswerk waren.
»Ich wollte, ich hätte die Mittel, um Prinz Jan in seine Heimat zu der ihm beschiedenen Arbeit zurückzusenden,« sagte der Kapitän wehmütig. »Nun, vielleicht läßt es sich eines Tages machen,« fügte er etwas hoffnungsvoller hinzu. »Ich habe das Gefühl, er sollte dort sein, bei den anderen Hunden.«
»Sie haben recht,« entgegnete der Arzt, und seine Frau nickte beistimmend. »Jans Arbeitsgebiet, sein Stamm, seine Heimat sind dort oben im Hospiz. Ich verdanke ihm das Leben meiner Frau und meines Kindes, und wenn Sie willens sind, ihn herzugeben, will ich ihn selbst nach dem Hospiz zurückbringen. Aber werden Sie ihn nicht vermissen?«
»Wenn ich ihn wieder im Hospiz wüßte, würde ich ebenso glücklich darüber sein, wie er selbst,« antwortete der Alte lebhaft, indem er sich niederbückte und den Hund liebkoste. Jan kannte die Hand selbst im Schlaf, und er bewegte ein wenig den Schwanz, ohne die Augen zu öffnen und ohne zu wissen, worüber der Arzt und der Kapitän sich unterhalten hatten. »Ich kann über den Hund frei verfügen,« fuhr Smith fort. »Denn Herr Pixley ist gestorben, seine Frau und Tochter sind für längere Zeit im Ausland auf Reisen, und die Dienerschaft, die den Hund für bösartig hält, sträubte sich, ihn wieder im Hause aufzunehmen. So hat der Richter ihn mir als Eigentum zugesprochen.«
Als Jans Lebensgeschichte in der kleinen Stadt bekannt wurde und man erfuhr, daß der Arzt die Absicht habe, den Hund in seine Heimat zurückzubringen, wollten alle, die er gerettet hatte, mithelfen. Die Zeitungen brachten seine Tat, seine Geschichte und die seiner Vorfahren. Viele Leute kamen, um den Hund zu sehen, und viele gaben auch einen Beitrag zu den Reisekosten nach dem Hospiz.
Ein schönes silbernes Halsband wurde angefertigt, darauf folgende Worte eingegraben standen: ›In dankbarer Anerkennung gestiftet von den zweiundneunzig Menschen, die Prinz Jan aus dem Meer gerettet hat.‹
Außer diesem Halsband wurde dem Kapitän für Jan eine Börse überreicht, die das nötige Geld für Jans Heimreise enthielt, sowie auch eine ansehnliche Summe für die Mönche, welche die Hunde des Hospizes versorgen.
Dabei wurde ihm zu seiner Überraschung mitgeteilt, daß auch er mit dem Arzt und Prinz Jan die Reise machen dürfe. Er schrieb sofort seiner Tochter einen Brief, in dem er ihr alles erzählte und ihr mitteilte, daß er nach seiner Rückkehr zu ihr kommen würde.
Jan wußte nicht, was all die Aufregung zu bedeuten hatte. Alles streichelte ihn und sprach ihm freundlich zu, und die Augen des alten Kapitäns leuchteten, während er fröhlich pfeifend im Zimmer auf und ab ging.