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3. Kapitel.
Eine neue Welt.

Am folgenden Morgen besuchten Herr Pixley und Bruder Anton abermals die Hundezwinger, und Jan wedelte höflich mit dem Schwanze, um dem Gast zu zeigen, daß er ihn erkenne. Dieser beugte sich zu ihm nieder und streichelte ihn, während er mit dem Mönche sprach.

»Seien Sie versichert, er wird die beste Pflege erhalten,« sagte der Herr aus Kalifornien.

»Wir werden stets liebevoll behandelt,« sagte Prinz Jan eiligst und sah zu Rollo hinüber, der ein: »Selbstverständlich!« hinzufügte.

Die jungen Hunde hörten die nächsten Worte des Herrn Pixley nicht: »Mein kleines Töchterchen wird entzückt von ihm sein.«

Bruder Anton rief: »Hierher, Jan!« Und als der kleine Kerl mit klugen, erwartungsvollen Augen zu ihm aufsah, befestigte er ein Halsband um seinen Hals. Jan zitterte. Er war davon überzeugt, daß er jetzt hinausgesandt werden würde, um seine erste Arbeit auf den Bergen zu leisten. Diesmal würde es keine Spielerei sein, sondern rechte Arbeit wie die der großen Hunde, dachte er. Das Halsband war steif, aber er ertrug die Unbequemlichkeit, denn es bedeutete, daß er nun erwachsen war. Als er die verbotene Grenzlinie mit Bruder Anton überschritt, wandte er den Kopf, um zu sehen, welcher der großen Hunde mit ihm gehen würde. Der einzige Hund, der ihm folgte, war sein Bruder Rollo; und als der Mönch befahl: »Rollo, geh zurück!« schlich dieser beschämt mit herabhängendem Schwanz und Ohren zu seiner Mutter zurück.

»Die großen Hunde warten wahrscheinlich draußen,« dachte Jan und ging stolzen Schrittes neben dem Mönche her, bis er auf der obersten Stufe stand. Von dort blickte er nach seiner Mutter, nach Bruno, Rollo und den andern Hunden hinüber, die ihn beobachteten. Wenn ein junger Hund zum erstenmal auf das Fährtensuchen ausgeschickt wurde, bellten gewöhnlich die andern vor Freude, und das laute Bellen war zugleich ein guter Rat für ihn. Heute aber kam nur ein einziger Laut von Bruno, der ihm zurief: »Lebewohl, Jan! Denke an deinen Vater.«

»Ich werde an ihn denken,« war seine Antwort, und er wunderte sich, warum seine Mutter in ein trauriges Geheul ausbrach. Es erfüllte sein Herz mit Bangen.

»Komm, Jan,« sagte der Mönch, und der kleine Kerl wandte sich gehorsam zur Türe, die ihn den Blicken der anderen Hunde entziehen mußte. Seine Füße schleppten sich jetzt vor Schrecken mühsam vorwärts, und als er durch die Tür ging, die zum langen Korridor führte, sah er sich noch einmal um.

Als er draußen vor der großen Eingangstüre stand, sah er, daß der Schnee die Berge umhüllte und die Spalten bedeckte, die er im Sommer während seiner Unterrichtsstunden mit Rollo bemerkt hatte; er wußte, die glatten, ebenen Flächen waren voller Gefahren. Dann gewahrte er Hundespuren, die in zwei verschiedene Richtungen führten; aber keiner der älteren Hunde wartete auf ihn. Als er mit fragendem Blick zu Bruder Anton emporsah, bückte sich dieser und befestigte einen starken Strick an seinem neuen Halsband und gab das Ende desselben Herrn Pixley, der in einen großen Pelzrock eingehüllt war. Ein Führer war bei Herrn Pixley. Nun wurde die Tür des Hospizes geöffnet, und der Herr mit den grauen Augen trat mit einem zweiten Führer heraus.

Die grauen Augen blickten Jan freundlich an, und der Herr bückte sich und streichelte ihn liebevoll. Aber nur der Hund hörte seine mitleidige Stimme, die flüsterte: »Armer kleiner Prinz Jan! Lebewohl!«

Bruder Anton hob Jans Schnauze empor, und der Hund sah dem Mönch in die Augen; aber es stand etwas darin, das er nicht verstand. Auch schien ihm alles so ganz anders, als die Hunde es ihm beschrieben hatten. Er fühlte, wie der Strick an seinem Halsband angezogen wurde und wußte, er müsse dem fremden Manne folgen. Wiederum hörte er ein herzzerreißendes Geheul von seiner Mutter: »Lebewohl, Jan, lebewohl!« Brunos Stimme erschallte auch, und dann erklangen die Stimmen aller Hunde, die Jan kannte und liebte in vereintem Rufe. Sein ganzer Körper bebte vor Schmerz, aber am ärgsten schmerzte ihn sein Herz. Er hielt an und zerrte am Seil; der durchdringende Laut, den er als Antwort ausstieß, kam als wehmütiges Echo von den hohen, weißen Felsen zurück und verlor sich dann in einem leisen Stöhnen. Dann trabte Jan, Kopf und Schwanz niedergehängt denselben Pfad hinab, den seine Vorfahren so viele Jahre lang begangen, wenn sie ihr Werk der Barmherzigkeit verrichtet hatten. Es wunderte ihn, warum ein Strick an seinem Halsband befestigt war, warum keiner der älteren Hunde ihn begleitete und warum er diesem Fremden folgen mußte, anstatt einem der Mönche. In irgend einer Weise mußte er sie enttäuscht haben. Eine Zeitlang folgte er ganz entmutigt; dann versuchte er sich selbst zu trösten, als er an seinem Strick weiterschritt: »Mutter und Bruno werden wissen, worum es sich handelt. Ich werde sie fragen, sobald ich heute abend nach Hause komme.«

Er wandte mehrmals sehnsüchtig den Kopf, um zu sehen, ob der freundliche Herr mit den grauen Augen ihnen folge; aber dieser hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen.

Jan klagte nicht über den langen Marsch, der sie an einen Ort brachte, wo mehrere Häuser in geringer Entfernung von einander standen. Hier wurde ein Wagen mit Pferden herbeigebracht, und Jan hätte sich sehr für diese merkwürdigen Dinge interessiert, wenn ihm das Herz nicht so schwer gewesen wäre. Er wurde in den Wagen gehoben und neben Herrn Pixley gesetzt; dann, als die Pferde plötzlich anzogen, wurde er gegen den Pelzrock geworfen und blickte mit Angst zu dessen Besitzer auf.

»Du reisest in ein neues Land,« sagte Herr Pixley, indem er Jan über seine sammetweichen Ohren strich.

Der Hund erhob darauf eine Pfote und legte sie auf das Knie des Mannes, und die braunen Augen, die er dabei aufschlug, waren voll Kummer und Sorge. Jan wußte jetzt, daß man ihn von daheim weg führte.

»Willst du mich nicht zurückbringen?« bat er. Aber der Herr verstand ihn nicht und hörte nur ein leises Winseln. Er tätschelte den Hund und sagte: »Du und Elisabeth werdet gute Freunde werden. Jetzt leg dich hin.«

Jan legte sich auf den Boden des Wagens, den Kopf zwischen den Pfoten, und der Blick in seinen Augen, mit dem er den Fremden ansah, der nun sein Herr war, enthielt ein stummes Flehen.

Nach dieser Fahrt kamen Tage, die er in einem großen, dunklen Raume verbrachte, wo er bei schrecklichem Lärm immer hin und her geworfen wurde. Er wußte natürlich nicht, daß er sich auf der Eisenbahn befand. Jan hatte bis jetzt an einem Orte gelebt, an welchem das einzige störende Geräusch das Tropfen des schmelzenden Schnees war oder das Dröhnen der zuweilen herabstürzenden Lawinen. Dieser neue, unbekannte Lärm tat seinen Ohren weh. Der Schmerz in seinem Herzen nahm immer mehr zu, so daß er zuletzt nur ganz still liegen konnte; sein Atem kam in kurzen Stößen, die ihm den Hals zerreißen wollten. Er konnte weder fressen noch trinken.

Als Herr Pixley Jan aus dem Zuge nahm, führte er ihn durch ein Gedränge von Menschen und Straßenlärm, so daß der Hund vor Furcht zitterte und sich duckte. Endlich erreichten sie einen offenen Platz, von wo aus sich eine Wasserfläche weit bis an den Horizont ausdehnte. Das Wasser war beständig in Bewegung. Auch dies ängstigte ihn, da er nur das Wasser im kleinen See beim Hospiz gesehen hatte, das sich nicht bewegte, weil es fast immer gefroren war. Jan wich zurück, aber ein Mann, dem Herr Pixley das Seil gegeben hatte, zog ihn über einen hölzernen Steg hinauf in ein fremdartig aussehendes Haus, das auf dem Wasser zu treiben schien. Jan stolperte dann eine Treppe hinab in einen dunklen, übelriechenden Raum, wo sein Strick an eine Wand befestigt wurde. Ein alter Sack wurde hingeworfen und eine Schüssel mit Wasser und ein Stück Fleisch ihm vorgesetzt; dann wurde er allein gelassen. Bald darauf erschallten durchdringende Pfiffe, Glocken läuteten und allerlei Lärm schlug an an Jans empfindliche Ohren, sodaß er in Seelenangst niederkauerte. Das Schiff setzte sich unter Schwanken und Rollen in Bewegung. Jan aber dachte, er sei von einem großen, fremdartigen Tier lebendig verschlungen worden.

Die schaukelnde Bewegung machte ihn krank. Er konnte weder fressen noch schlafen, und in den vielen Tagen und Nächten, die er im Schiffsraum angebunden verbringen mußte, wurde er steif und lahm. Einsam und voll Heimweh lag der arme kleine Prinz Jan da und winselte; denn die einzige Fürsorge, die ihm zuteil wurde, war, daß ihm die Schüsseln mit Wasser und Futter gefüllt wurden.

Eines Tages kletterten zwei Frauen, die weiße Hauben trugen, mit einem kleinen Mädchen und einem kleinen Buben die Treppe herab. Die Kinder rannten auf Jan zu und schlangen ihre Arme um seinen Hals, während er sich vor Freude streckte und ihnen Gesicht und Hände beleckte.

»Rührt ihn nicht an!« schrie eine der Frauen, das kleine Mädchen zurückziehend. »Er ist schmutzig und könnte euch auch beißen.«

Das Kind fuhr entsetzt zurück. Jans sanfte Augen beobachteten die Leute. Er wedelte mit dem Schwänze, um ihnen begreiflich zu machen, daß er sie gern habe und weder ihnen, noch sonst jemand auf der Welt etwas zuleide tun würde.

»Er wird uns nichts tun,« erklärte der Knabe und legte seine Hand auf des Hundes großen Kopf. »Es macht nichts aus, ob er sauber oder schmutzig ist; er ist ein feiner Kerl, und ich wollte, er gehörte der Schwester und mir.«

»O, wenn sie nur bei mir blieben,« hoffte Jan; »vielleicht würden sie mich verstehen und mich eines Tages zum Hospiz zurückführen.«

Der Knabe lächelte Jan zu, aber er verstand nicht, was dieser ihm sagen wollte.

»Kommt, Kinder, wir müssen gehen,« sagte eine der Frauen. »Nun habt ihr einen Hund gesehen, der mehr als tausend Dollar kostet und der in Kalifornien leben wird, wo Apfelsinen (Orangen) wachsen und wo es keinen Schnee gibt.«

Jan wandte sich rasch um. Es fiel ihm ein, wie die Hunde im Hospiz von einem Lande geredet hatten, in dem es niemals schneite.

»Wie kann ein Hund Leben retten, wenn es keinen Schnee gibt?« fragte er. Aber ohne zu antworten, gingen die Frauen und Kinder fort und meinten, der Hund winsele, weil sie ihn wieder allein zurückließen.

Mit kummervollen Augen starrte Jan ins Dunkle und sann darüber nach, wie er seinem Vater und Barry gleichen könne in einem Land ohne Schnee.


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