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11. Kapitel.
Prinz Jan besucht Shorty.

Jan erreichte die Haustür und stieß ein freudiges »Wau, Wau!« aus, worauf der Kapitän und Hippity-Hop sofort herauskamen. Der alte Mann schlang seine Arme um den Hund, der vor Freude winselte und ihm die runzeligen Hände beleckte; Jans Schwanz bewegte sich dabei so stürmisch hin und her, daß er gar nicht mehr wie ein Schwanz aussah, sondern wie eine Masse gekräuseltes Haar.

Nachdem Herr Melville Platz genommen und der Kapitän sich auf einen Stuhl in seiner Nähe gesetzt hatte, legte Jan den Kopf auf das Knie des alten Mannes, der mit den schwieligen Länden über das weiche Fell des Hundes strich. Hippity-Hop rieb sich gegen Jans Beine und schnurrte dabei wie eine kleine Kreissäge; Cheepsie flog vom Käfig herunter, setzte sich zunächst auf die Schulter des Kapitäns und dann auf Jans Kopf, und alsbald erfüllte Vogelmusik den kleinen Raum.

»Ich wollte, die Kinder könnten jetzt Jan sehen,« sagte Herr Melville, und dann erzählte er dem Kapitän, wie sie den Hund gefunden hatten, und wie der Artikel in der Zeitung es ihm ermöglichte, den Hund seinem Herrn zurückzubringen.

Hippity-Hop war seit Jans Verschwinden sehr einsam gewesen und hatte immerfort miaut, bis der Kapitän sie auf den Arm genommen und gesagt hatte: »Jan wird eines Tages zu uns zurückkehren, Hippity-Hop.« Und tagtäglich hatte der Alte auf der Veranda gesessen, die Katze ihm zur Seite, und erwartungsvoll auf die Fahrstraße geblickt.

Am Morgen nach Jans Heimkehr kam Herr Melville wieder ins kleine Haus, und er und der Kapitän ließen Jan mit ihnen in das Auto einsteigen. Hippity-Hops kummervolles Gesichtchen guckte zwischen den Vorhängen des Fensters hervor, aber niemand hörte ihren klagenden Ruf, als die drei ihren Blicken entschwunden. Nach beendigter Fahrt, als das Auto anhielt, sah Jan ein graues Gebäude, vor dessen Fenster eiserne Stangen kreuzweise angebracht waren. Er folgte seinen Freunden in ein großes Zimmer, in welchem mehrere Männer saßen. Der Kapitän und Herr Melville redeten mit ihnen und streichelten Jans Kopf, während sie über ihn sprachen. Dann folgten Herr Melville, der Kapitän und Jan einem Manne durch lange, finstere Gänge, zu deren beiden Seiten viele Türen dicht nebeneinander waren. Eine dieser Türen wurde aufgeschlossen, und nachdem Jan und die drei Männer hindurchgegangen waren, wurde sie wieder verschlossen.

Sie waren in einer düsteren Stube mit grauen Wänden; ein einziges, sehr kleines Fenster war hoch oben angebracht und vor demselben waren kreuzweise befestigte Stangen. In einer Ecke des Zimmers saß ein Mann auf einem Feldbett; er wandte den Kopf, und als er den Hund sah, sprang er auf und rief: »Jan!«

Der Hund antwortete mit einem »Wau!«, lief zu dem Manne hin und war sehr überrascht, als er Shorty erkannte. Shorty sank auf die Knie, nahm Jans Kopf zwischen seine Hände und sprach zu dem Hunde wie zu einem kleinen Kinde, das er sehr liebte. Jan wußte nicht, daß Shorty im Gefängnis war, und es hätte ihm auch nichts ausgemacht, wenn er es gewußt hätte; er wußte nur, daß dies der Freund war, der versucht hatte, ihn vor Wilhelms Mißhandlungen zu schützen. Unterdessen beobachteten Kapitän Smith und der Künstler die beiden mit wohlwollenden Augen.

Endlich stand Shorty auf und setzte sich wieder auf sein schmales Lager, und seine Besucher nahmen zu beiden Seiten von ihm Platz. Jan, der sich vor Shorty hingesetzt hatte, wandte den Kopf von dem einen zum andern, als ob er gern verstanden hätte, worüber sie sich unterhielten. Shortys Hand streichelte Jans Kopf, und von Zeit zu Zeit wiederholte er: »Ich bin so froh, daß Sie ihn gefunden haben.«

»Sie haben Hunde gern, nicht wahr?« fragte der alte Pfandstallwärter, als er sich erhob, um fortzugehen.

Shorty sah einen Augenblick auf Jan nieder und erwiderte dann: »Ich habe in meinem ganzen Leben keine anderen Freunde gehabt als Hunde.«

Sie ließen Shorty allein in dem kleinen, düsteren Raum und gingen wieder zu den Männern in dem großen Zimmer. Dort schien die Sonne herein und machte einen Streifen auf dem Boden, der aussah, wie ein winziger, goldener Fluß; dort drüben aber, in Shortys Zimmer, war das Fenster so hoch und klein, daß die Sonne gar nicht hereinscheinen konnte. Doch darüber dachte Shorty im jetzigen Augenblick nicht nach.

Der Kapitän sprach mit den Männern, die ihm aufmerksam zuhörten, und sagte zuletzt: »Herr Richter, ich glaube, daß ein Mensch, der Hunde lieb hat und sie gut behandelt, nicht durch und durch schlecht sein kann. Shorty sagte, er habe mit Ausnahme von Hunden in seinem Leben keinen Freund gehabt.«

»Ich glaube kaum, daß er von Natur aus schlecht ist,« sagte der Richter, der in einem großen Stuhl hinter einem hohen Pulte saß. »Es scheint mir, nach dem, was ich über ihn erfahren habe, daß er seit seiner Kindheit unter Wilhelms Aufsicht stand. Shorty versuchte zweimal fortzulaufen, aber jedesmal fand ihn Wilhelm wieder und strafte ihn mit solcher Grausamkeit, daß der Knabe Angst hatte, den Versuch nochmals zu wagen. An seinen Füßen sind noch die Narben heißen Eisens, die von seinem letzten Fluchtversuch herrühren. Shorty ist noch nicht ganz neunzehn Jahre alt, deshalb wurde er dem Gerichtshof für jugendliche Verbrecher überwiesen.«

»Herr Richter,« entgegnete der Kapitän, und seine Züge hatten einen Ausdruck von eindringlichem Ernst. »Sie wissen, es gibt viele Menschen, die man schlecht nennt, die aber wahrscheinlich ehrlich und rechtschaffen sein würden, wenn ihnen von Kindheit auf ein anderes Los zuteil geworden wäre. Könnten Sie Shorty nicht die Gelegenheit bieten, sich zu bessern? Ihn irgendwo hinschicken, wo sein Bruder ihn nicht finden kann?«

»Herr Richter,« sagte darauf der Künstler, »wenn es sich machen ließe, würde ich den Burschen gern mit nach ›Rosenheim‹ nehmen; in unserem Heim, das wir das ›Reich der Phantasie‹ nennen, würden wir versuchen, ihm zu helfen und ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen.«

Jan konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber er hatte das Gefühl, daß es sich um Shorty handle, und daß es dem Kapitän sehr ernst damit sei. Er drängte sich zwischen seine beiden Freunde und betrachtete den Mann hinter dem hohen Pult, zu dem alle im Zimmer aufblickten.

Der verhielt sich ganz ruhig und schien nachzudenken; dann sagte er, sich umsehend: »Bringt Shorty herein.«

Einige Minuten verstrichen unter allgemeinem Schweigen; dann wurde die Tür geöffnet und Shorty schlürfte ins Zimmer. Er blinzelte wegen des hellen Sonnenscheins und duckte seinen Kopf, als ob er sich scheue, sie alle anzusehen. Jan ging rasch zu ihm hin und schob die Schnauze in seine Hand. Das Gesicht des jungen Mannes wurde plötzlich durch ein gewinnendes Lächeln erhellt. Der Richter beobachtete beide, ohne zu sprechen. Dann besann sich Shorty, wo er war und wandte sich gegen den Mann auf dem hohen Podium, der ihn und den Hund mit wohlwollenden Augen ansah.

»Shorty,« sagte dann der Richter sehr deutlich, »wenn ich die Ausführung des Urteils vorläufig zwei Jahre aufschieben lasse und Ihnen erlaube, mit Herrn Melville auf sein Gut zu gehen, wollen sie sich Mühe geben, ein rechtschaffener Mensch zu werden?«

Shorty starrte verwundert drein. Der Richter wiederholte langsam seine Worte und fügte hinzu: »Wir werden nicht bekannt geben, wo Sie sind; Sie brauchen also keine Angst vor Wilhelm zu haben. Ich möchte wissen, ob Sie mir Ihr feierliches Versprechen, Ihr Ehrenwort geben wollen, Ihr möglichstes zu tun?«

Shortys Gesicht zuckte, seine Augenlider zwinkerten, und er streckte seine Hände aus, wie um einen Halt zu finden. Dann strich er mit einer Hand über seine Augen, wo etwas ihn am Sehen zu hindern schien. Die Männer im Zimmer beobachteten ihn stillschweigend.

»Ist das Ihr Ernst, Herr Richter?« Die Stimme des Burschen klang heiser und gedämpft, aber zugleich auch flehend. »Sie haben mich wirklich nicht zum besten, Herr Richter?«

»Nein,« erwiderte der Richter, »ich meine es im vollen Ernst. Es soll Ihnen die Möglichkeit geboten werden, ein anderes Leben zu führen.«

Shorty warf sich auf die Kniee neben Prinz Jan, und während er den Hund zu sich heranzog, brach er in heftiges Schluchzen aus. Jan wollte ihn trösten und ihm das Gesicht belecken, denn er wußte ja nicht, daß sein Freund vor lauter Glück weinte. Endlich stand Shorty auf und wischte die Tränen mit dem zerlumpten Ärmel seiner Jacke ab.

»Herr Richter, ich verspreche Ihnen, ich werde mich bessern oder den Versuch nicht überleben,« sagte er, und alle, die ihn hörten, waren überzeugt, er würde sein möglichstes tun.

Der Richter trat vom Podium herab, legte seine Hand auf die Schulter des Burschen und sagte in gütigem Ton: »Es wird Ihnen ohne Zweifel gelingen, Shorty, und wir alle sind Ihre Freunde.«

Die andern Männer schüttelten Shorty die Hand, und der Richter sagte mit freundlichem Lächeln: »Ich habe zu Hause einen schönen jungen Schäferhund, den ich Ihnen schenken will, wenn Herr Melville nichts dagegen einzuwenden hat.«

»Seit Prinz Jan fort ist, haben wir keinen Hund im Hause,« sagte der Künstler darauf, »und ich versprach meiner Frau, einen für die Kinder mitzubringen. So wird also der junge Hund ebenso willkommen sein wie Shorty.«

Shorty vergaß ganz und gar, daß der Herr Richter war und fragte ihn lächelnd: »Bitte, wie heißt der Hund?«

»Er ist mit einem langen Namen eingetragen, aber wir nennen ihn nur ›Hundchen‹, also können Sie selbst einen Namen für ihn wählen.«

»Dann werde ich ihn Prinz Jan nennen,« sagte der junge Bursche, und alle stimmten überein, das sei ein schöner Name für einen Hund.

Sie drückten Shorty noch einmal die Hand, und als er darauf das Zimmer verließ, trug er den Kopf hoch. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und aus seinen Augen blickte ein Strahl der Hoffnung. Herr Melville begleitete ihn.

Als an dem Abend der Kapitän, Jan, Hippity-Hop und Cheepsie beisammen saßen, sagte der alte Mann, indem er den Hund anschaute: »Jan, deine Vorfahren haben Menschen gerettet, die im Schnee verunglückt waren; du aber hast heute Shorty geholfen, einen neuen Lebenslauf zu beginnen, und das bedeutet mehr, als wenn du ihn vom Tode in den Alpen gerettet hättest.«

Der Hund verstand die Worte nicht, aber er sah, daß der alte Pfandstallwärter so zufrieden lächelte, als ob er eben ein gutes Heim für einen seiner herrenlosen Hunde gefunden hätte. Und deshalb war auch Prinz Jan glücklich.


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