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1. Kapitel.
Die Hunde des Hospizes.

Prinz Jan war ein zottiges, wolliges Hündchen mit unbeholfenen Pfoten und einem runden, dicken Körper, der mit gelblichbraunen Haaren bedeckt war. Seine braunen Augen blickten alle und alles mit freundlichem Wohlwollen an.

Jan und sein Bruder Rollo spielten gern zusammen; das langhaarige Fell des ersteren machte es leicht für Rollo, ihn umherzuzerren, während Jans Zähne keinen festen Halt an den kurzen Haaren seines Bruders bekommen konnten. Obwohl sie beim Umhertummeln sich gegenseitig anknurrten, leuchteten ihre Augen dabei vor heller Freude.

Wenn sie des Spiels genug hatten, baten sie ihre Mutter, ihnen Geschichten zu erzählen von den Hunden des Hospizes; sie legten sich dann ruhig hin und hörten mit gespitzten Ohren und ernsten Augen zu. Zuweilen mischte sich Bruno, der älteste Hund des Hospizes, ins Gespräch, und alle jungen Hunde kamen dann herbei, um ihrer Familiengeschichte zu lauschen. Prinz Jan und Rollo schmiegten sich an ihre Mutter und sahen sich mit Stolz an, denn auch sie waren echte Bernhardiner.

»Ich habe gehört, daß die Mönche unseres Klosters Auf dem St. Bernhardspaß, der von dem Rhonetal nach Italien führt. den Reisenden gesagt haben, unsere Vorfahren hätten seit tausend Jahren im Hospiz gelebt,« sagte Bruno einmal während der Unterhaltung. »Wenn ihr jungen Hunde alt genug seid, werdet ihr zur Arbeit abgerichtet. Es ist nämlich die Aufgabe eines jeden Bernhardinerhundes, Menschenleben zu retten und sich seiner Vorfahren würdig zu zeigen.«

Jan und Rollo blickten zu ihm auf und wedelten mit dem Schwanze, um zu beweisen, daß sie ihn verstanden hatten.

»Ein echter Bernhardiner muß eine feine Spürnase, starke Beine und einen klugen Verstand haben,« sagte Bruno mit ernster Stimme. »Er muß wissen, was zu tun ist, wenn er einen Menschen findet, der sich im Sturm verirrt hat oder der im Schnee erfroren ist. Er zeigt ihm entweder den Weg zum Hospiz oder, wenn der Verunglückte nicht folgen kann, holt er die Mönche zur Hilfe herbei. Sollte einer von uns jemals seine Pflicht versäumen, würde er Schande über alle Bernhardiner bringen,« fügte er hinzu, seinen großen Kopf langsam wendend und die jungen Hunde mit ernsthaften Augen anschauend.

»Erzähle uns, bitte, noch mehr Geschichten, Bruno,« baten die jüngeren Hunde.

»Heute nicht.« Bruno schüttelte seinen weißen Kopf. »Eure Vorfahren haben Großes geleistet und ihr seid berechtigt, stolz auf sie zu sein; aber der einzige Weg für euch, sich ihrer würdig zu zeigen, ist, eure Pflicht so redlich zu erfüllen, wie sie es einstmals getan haben. Wenn ihr eure Vorschriften nicht gut lernt oder dieselben nicht treulich ausführt, seid ihr keine echten Bernhardiner, und eure Mißerfolge sind Flecken auf der Ehre unseres Namens. Das dürft ihr bis an euer Lebensende nicht vergessen.«

Bruno schien zu verstehen, daß das leise Gewinsel der jungen Hunde ein Versprechen war, ihr möglichstes zu tun, sollte die Probe jemals an sie herantreten. Jan und Rollo beobachteten den alten Hund, als er wegen rheumatischer Schmerzen langsam über den Hof schritt. Bruno war nicht mehr imstande, mit auf die Suche zu gehen und verbrachte seine Zeit mit dem Unterrichten der jungen Hunde. Mitunter schlief er dabei ein, und wenn dann seine Pfoten zuckten oder sein Schwanz sich bewegte, sagte Jans Mutter: »Kinder, seid still! Bruno träumt, er sei draußen auf der Suche.«

Dann sprach sie leise: »Sobald ihr älter seid, wird man euch lehren, euren Weg durch den Schnee zu graben und Wein und Speise, die euch am Halse befestigt werden, zu tragen. Bei stürmischem Wetter, wenn der Wind heult und der Schnee euch ins Gesicht treibt, daß ihr fast nichts mehr sehet, werdet ihr euch dann vielleicht versucht fühlen, zurückzuschleichen oder euch an einem geschützten Ort zu bergen. Aber dann müßt ihr daran denken, daß es niemals einen Feigling oder Verräter gab, weder in der Familie eures Vaters noch in der meinigen. Solange ihr euch daran erinnert, werdet ihr den Mut haben, euch weiterzuschleppen oder weiter zu kriechen, wenn ihr nicht aufrecht gehen könnt, und ihr werdet mit der Schnauze dicht am Schnee schnüffeln und suchen wie sonst.« – Sie wandte ihren Kopf gegen die weißen Berggipfel, die hoch über die Mauern des Gehöftes emporragten. »Nur ein Bernhardiner kann beurteilen, ob die Schneemassen, die sich während der Nacht aufhäufen, fest genug sind, um das Gewicht eines Mannes zu tragen, oder ob derselbe darin versinken würde.«

Jan und sein Bruder schwiegen achtungsvoll, als sie aufhörte zu sprechen, und starrten zu den Gebirgshöhen empor. Dann fuhr die Mutter fort: »Zuweilen werdet ihr eine Eisbrücke finden. Dann müßt ihr sehr behutsam sein. Wenn sie unter eurem Gewicht kracht, dürft ihr keinen Menschen darauf gehen lassen, selbst wenn ihr ihn mit Gewalt zurückhalten müßt. Euer Vater Rex fand seinen Tod, als eine Eisbrücke zusammenbrach; aber er hatte zuvor das Leben von vier Männern gerettet. Bedenkt immer eines: Es ist die höchste Ehre, die einem Bernhardiner widerfahren kann, bei der Ausübung seiner Pflicht zu sterben.«

Die beiden kleinen Hunde winselten leise, und ihre Mutter wußte, daß ihre Kinder dadurch versprachen, ihr möglichstes zu tun, um sich eines solchen Vaters würdig zu erweisen.

»O,« sagte Prinz Jan zu seinem Bruder, als ihre Mutter sie verlassen hatte, »eines Tages werden auch wir hinausgehen und unsere Arbeit tun. Wird das nicht herrlich sein, Rollo?«

Glücklich sprangen sie ihrer Mutter nach, die sie mit stolzen, zärtlichen Augen betrachtete. Als sie an ihrer Seite waren, stellte Jan sich neben sie, um zu sehen, wieviel er noch wachsen müsse; denn er war erst sechs Monate alt, aber groß für sein Alter.

»O Mutter, wenn ich nur schneller wachsen könnte!« rief er aus.

»Habe nur Geduld, Jan,« entgegnete sie, ihn ein wenig ins Ohr beißend, um ihn zu necken, »deine Zeit kommt bald.«

»Meine Zeit kommt bald! Meine Zeit kommt bald!« bellte er vor Freude und sprang umher.

»Meine Zeit kommt auch bald!« rief Rollo. »Wir wollen zusammenarbeiten, Jan.«

Das große Tor, welches in den Hof führte, in dem die Hunde spielten, wurde geöffnet, und zwei Männer traten herein und betrachteten die Tiere. Die jüngeren Hunde sahen sie aufmerksam an, denn diese Männer hatten das Amt, sie zu warten. Alle Hunde kannten sie, aber selbst, wenn beide Fremde gewesen wären, hätten die Bernhardiner gewußt, daß es Mönche waren, die zum Hospiz gehörten; denn die Kleidung, die sie trugen, war verschieden von derjenigen der anderen Männer, die nur ein oder zwei Tage auf Besuch ins Hospiz kamen. Ein langer, schwarzer, enganliegender Rock reichte fast bis zu ihren Füßen; eine Kapuze wie eine Zipfelmütze hing zwischen den Schultern herab, und eine kleine, runde schwarze Mütze bedeckte den Kopf. Alle Mönche waren gleich gekleidet, und wenn es kalt war und sie hinaus auf die Suche gingen, nahmen sie die kleine Mütze ab und zogen die Kapuze über den Kopf und die Ohren.

Die Hunde liefen zu den Mönchen hin, und einer derselben bückte sich und befühlte Jans Beine und seinen Rücken. Prinz Jan blickte mit Spannung zu den freundlichen Gesichtern auf. Er hatte öfters gesehen, wie sie andere Hunde in gleicher Weise befühlten, und bald darnach verschwanden diese Kameraden und kamen niemals wieder zurück.

Zuerst glaubten er und Rollo, dieselben seien beim Suchen in den Bergen verunglückt wie ihre Vorfahren; aber Jans Mutter hatte traurig den Kopf geschüttelt und gesagt: »Sie waren nicht stark genug, um die Arbeit leisten zu können.« Jetzt erinnerte er sich dessen und hätte gern gewußt, ob auch er fortgeschickt werden würde. Er steifte seine kurzen Beine und seinen Rücken, damit die Mönche sehen sollten, wie stark er war.

»Ich glaube, dieser hier wird einer der besten Hunde werden, die wir seit Barrys Zeit gehabt haben,« sagte Bruder Anton, indem er seine Hand über Jans Rücken gleiten ließ. »Er hat ausgezeichnete Muskeln und einen sehr starken Rücken. Morgen wollen wir ihn hinausnehmen und einen Versuch mit ihm machen.«

Jan leckte die Hand, die auf seinem Kopfe geruht hatte, und jagte dann hinüber zu seiner Mutter, der er keuchend vor Aufregung die gute Nachricht brachte. Sie sah mit Stolz in seine freudestrahlenden Augen und sagte: »Du wirst deinem Vater ähnlich werden. Er war ein Nachkomme von Barry, dem mutigsten aller Hunde. Du wirst deinen Vorfahren Ehre machen.«

»Ich werde mein allermöglichstes tun,« versprach der kleine Prinz Jan. Dann legte er sich hin und runzelte seine weiche Stirn, während er versuchte, sich alles dessen zu erinnern, was Bruno und seine Mutter ihn gelehrt hatten, damit er für den ersten Unterricht im Freien gut vorbereitet sein würde.

Am folgenden Morgen erwachte er früher als die anderen Hunde. Alle schliefen zusammen in dem großen Erdgeschoß unter dem Hospizgebäude. Jan konnte die gewölbten Korridore sehen, die an dem großen Saal entlang führten, dessen Boden mit grauen Fliesen bedeckt war. Die Kühe des Hospizes waren auch im Erdgeschoß untergebracht, denn es gab draußen im Freien niemals grünes Gras, auf dem sie hätten weiden können. An verschiedenen Stellen ruhten die Hunde, die Prinz Jan kannte: Jupiter, Juno, Mars, Vulkan, Pluto, Leo und Bruno; sie alle lagen nicht weit von ihm entfernt.

Endlich wurde die Tür, die in den Hof führte, geöffnet und die Hunde stürzten hinaus. Sie sahen aus wie junge, gelbbraune Löwen, die steinernen Käfigen entsprangen. Sie fraßen ihr Frühstück, das aus gekochtem Reis bestand, der in einen großen Trog geschüttet war, und dann wandte sich Jan ungeduldig zur Tür in der Hoffnung, Bruder Anton würde kommen, um ihn abzuholen. Als der Mönch auf den steinernen Stufen erschien, zitterte Jan und eilte rasch zu ihm hin, blieb dann aber an einer gewissen Stelle stehen. Es fiel ihm ein, was seine Mutter ihm und Rollo gesagt hatte: niemals weiter als bis zu dieser Stelle zu gehen, selbst wenn Gäste sie herbeilocken sollten. Bruder Anton lächelte, als er sah, wie der junge Hund plötzlich halt machte.

»Es ist Zeit für den ersten Unterricht, Prinz Jan,« sagte der Mönch mit der sanften Stimme, die alle Hunde liebten. Rollo winselte flehentlich und der Mönch lachte. »Ja, du auch, Rollo; kommt her, ihr beiden!«

Mit lautem Gebell folgten sie ihm zur Türe, durch die gewölbten Korridore, eine kleine Treppe hinauf und vorbei an einem großen Saale. Rollo und Jan harrten ungeduldig, während Bruder Anton drei Türen nacheinander aufschloß, Und dann, als die letzte aufgesprungen war, stürzten die beiden Hunde hinaus in den Schnee.

Sie bellten vor Freude, steckten ihre Schnauzen in die kalte, reine Masse, warfen sie hoch in die Luft und gruben mit ihren breiten, täppischen Pfoten in ihr herum; dann sprangen sie umher, wälzten sich und verschwanden im Eifer des Spieles fast unter dem tiefen Schnee.

Es war Sommer, aber man würde es kaum gedacht haben, denn der Schnee lag massenweise auf allen Seiten; der kleine See war zugefroren und die Gipfel der Berge waren mit nimmerschmelzendem Schnee und blau-weißem Eise bedeckt. Während der Monate Juli und August ist die Gefahr für Reisende nicht so groß, und weil die Arbeit für Mönche und Hunde dann leichter ist, werden die jungen Tiere in diesen Monaten beim Unterricht ins Freie geführt.

Ein Halsband wurde Prinz Jan um den Hals gelegt; daran hing eine kleine Schelle, die bei jedem Schritt, den der stolze kleine Kerl machte, hell erklang. Als er sich umblickte, sah er, daß sein Bruder auch ein Halsband mit einer Schelle trug; und nun wurde einem jeden noch ein kleines Fäßchen angehängt. Die beiden Hunde betrachteten aufmerksam die Mönche, und auf ein Zeichen von Bruder Anton trabten sie vorsichtig den schmalen, schlüpfrigen Pfad entlang.

In meilenweiter Runde des Hospizes gab es keine Bäume, kein Gras, keine Blumen, denn der Erdboden lag tief unter Felsen, und diese waren beständig mit Schnee bedeckt, der oft mehrere Fuß tief in die Spalten und Felsenklüfte getrieben wurde. Der schmale Pfad wandte sich zwischen schroffen Felsmassen hindurch, und oftmals konnten die Hunde so tief in einen Abgrund schauen, daß der Schwindel sie erfaßt haben würde, wenn sie nicht Hospizhunde gewesen wären.

Sie schritten glückselig eine Zeitlang weiter. Dann blieben die beiden Mönche stehen. Bruder Anton sprach etwas mit dem Mönch, der sie begleitete, und befahl Jan und Rollo, sich hinzulegen. Sie gehorchten sofort und blickten ihm dann sehnsüchtig nach, als er allein weiterschritt und bei einer Biegung des Weges verschwand. Die jungen Hunde sahen sich betroffen an und richteten nun ihre Augen auf den Mönch, der bei ihnen geblieben war. Dieser aber starrte nur auf den Weg. Jan und Rollo winselten leise, doch erhob sich keiner von ihnen. »Warten! sagte der Mönch, und die Tiere gehorchten, obgleich sie vor Eifer zitterten.

Endlich befahl der Mönch: »Fort!« Im Nu waren sie auf den Füßen und rasten den schmalen Pfad entlang, ihre Schnauzen dicht auf dem Schnee haltend, um der Spur von Bruder Anton folgen zu können. Zuweilen verließen sie den Pfad, um kleine, schneebedeckte Eisflächen zu untersuchen. Sie wußten, daß Bruder Anton hier gegangen war, obgleich keine Spur seiner Schritte zu sehen war, denn der Schnee treibt im Sommer rasch weiter, und in kurzer Frist bedeckt neuer Schnee den alten. Auf diese Weise folgten Jan und Rollo der Spur von Bruder Anton, bis sie an eine Stelle kamen, wo sie keine Spur mehr witterten, obwohl sie den Platz von allen Seiten umkreisten. Der Mönch, der ihnen langsam gefolgt war, stand still und beobachtete sie, als sie nun nicht recht wußten, was zu tun sei. Er gab aber kein Zeichen, ihnen zu helfen. Plötzlich bellte Prinz Jan laut und steckte seine Schnauze tief in den Schnee, in dem er dann voller Eifer zu graben anfing. Rollo verstand sofort, um was es sich handle, und seine Pfoten arbeiteten ebenfalls so schnell wie die seines Bruders, bis sie endlich den Kopf und die Schultern von Bruder Anton aufdeckten, der sich im Schnee eingegraben hatte, um zu prüfen, ob sie ihn finden würden.

Die beiden Hunde sprangen vor Freude wie toll umher und kläfften und bellten so laut, daß von den Felswänden des Passes ein Echo erschallte, welches klang, als ob viele unsichtbare Hunde ihr Bellen erwiderten. Bruder Anton erhob sich und lächelte zufrieden. Er streichelte die weichen, struppigen Köpfe, während der andere Mönch erzählte, wie die Hunde ohne Mithilfe seine Spur gefunden hätten.

»Jan ging voran,« sagte er zu Bruder Anton. »Er zeigt bemerkenswerte Intelligenz.«

»Es ist das Blut seines Vaters,« entgegnete Bruder Anton. Dann deutete er in der Richtung des Hospizes und befahl: »Geht zurück!« Prinz Jan machte sich gehorsam auf den Weg, dicht gefolgt von Rollo. Dann und wann blickten sie sich jedoch um oder warteten, bis die Mönche sie eingeholt hatten.

Sie erreichten die steinernen Stufen, die zu der Vordertüre des Hospizes führten. Die Tür wurde geöffnet, und die Hunde mit Bruder Anton gingen den langen Korridor entlang ins Erdgeschoß, unter den gewölbten Gängen hindurch, und gelangten so wieder in den großen umschlossenen Hof. Die anderen Hunde drängten sich heran, als sie stolz und wichtig dastanden, denn Prinz Jan und Rollo hatten an diesem Tag ja ihren ersten Unterricht im Fährtensuchen bekommen. Aber beide wußten, daß dies eigentlich nur Spielerei gewesen und ihre wirkliche Arbeit erst anfange, wenn der Schnee so hoch aufgetürmt lag, daß er fast bis unter das Dach des Hospizes reichte.


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