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6. Kapitel.
Im Pfandstall.

Sechs Monate waren vergangen und die Familie Pixley war noch nicht heimgekehrt. Jan wußte nicht, daß Herr Pixley noch sehr leidend war. Der Hund hielt sich versteckt und lauerte; wenn er jemand begegnete erschien sein tiefes Knurren und die zuckende Schnauze so drohend, daß niemand den Mut hatte, sich ihm zu nähern. Sein seidenweiches Fell war rauh und struppig, blutende Geschwüre bedeckten den Körper, seine Augen waren blutunterlaufen, und an seinem Schwanz befanden sich nur noch einige der langen Haare, die einst wie ein schöner Federbusch ausgesehen hatten.

Sein einziger Zufluchtsort war der Orangenhain, wo er seine Tage verbrachte, entweder schlafend oder an den Knochen nagend, die er aus den Abfalleimern stahl, denn es fiel niemand ein, Wasser und Futter dorthin zu stellen, wo er es hätte finden können. Die Diener mieden und fürchteten ihn, und er haßte sie ebensosehr, aber er fürchtete sich nicht vor ihnen. Er war sich jetzt seiner Kraft bewußt. Wenn jemand ihm gedroht hätte, wäre er bereit gewesen, auf ihn zu springen und seine scharfen Zähne zu gebrauchen; aber solange man ihn in Ruhe ließ, wollte er niemand angreifen.

Eines Nachmittags bemerkte Jan, wie Wilhelm und ein freundlich aussehender alter Mann, der einen langen, weißen Bart hatte, zusammen sprachen. Sie beobachteten Jan, der ruhig in dem Loche lag, das sein einziges Heim geworden war.

»Er will nichts von mir wissen,« sagte Wilhelm, indem er dem Manne einen Strick gab; »vielleicht können Sie mit ihm fertig werden, aber ich bezweifle es. Er ist so groß und stark wie ein Löwe.«

Wilhelm zog dann ein Blatt Papier aus der Tasche und reichte es dem alten Manne hin: »Hier ist ein Brief von Fräulein Pixley. Sie können sehen, was sie schreibt. Ich schrieb ihr wegen Jan und fragte sie, was wir mit ihm machen sollten.«

Bei Elisabeths Namen spitzte Jan die Ohren, und der wilde Ausdruck in seinen Zügen erlosch. Der fremde Mann kam ganz nahe heran und sprach freundlich zu ihm. Jan wedelte mit dem Schwanze, aber er hielt den Blick fest auf das Gesicht des Alten gerichtet.

»Nehmen Sie sich in acht,« warnte Wilhelm, »man kann ihm keinen Augenblick trauen.«

Jan sah den Stallknecht an, als ob er ihn verstanden hätte. »Ich liebte alle Menschen, wollte ihnen helfen und nichts zuleide tun, bis du mich zum Kampfe gereizt hast,« knurrte er.

»Vorsicht!« rief Wilhelm. »Er zeigt die Zähne. Es ist der bösartigste Hund, den ich in meinem Leben gesehen habe.«

Der alte Mann beobachtete schweigend den Hund. Dann lächelte er und streckte eine Hand aus. Jan zog sich mißtrauisch zurück, ließ aber die Hand über seinen Rücken gleiten.

»Ich glaube, ich kann mit ihm fertig werden,« sagte der Alte darauf und fügte hinzu: »Komm, Jan, komm her zu mir!«

Der Hund erhob sich und folgte ihm ohne Zögern. Sie gingen den Pfad entlang nach der Vorderseite des Hauses, am grünen Rasen vorbei, wo er so viele glückliche Stunden verlebt hatte, und dann schritten sie auf dem festen Sand weiter, wo er so oft neben dem Pony seiner Herrin hergelaufen war. Und während sie langsam weiterschritten, sann er darüber nach, ob Elisabeth wohl nach ihm geschickt hätte. Er erinnerte sich daran, daß Herr Pixley, als er ihn vom Hospiz fortgenommen, ihn auch an einem Strick geführt hatte, und daß er am Ende der Reise Elisabeth und ein glückliches Heim gefunden hatte. Er hob seinen großen Kopf in die Höhe, und da sahen seine kummervollen Augen in ein Gesicht voller Mitleid, und eine sanfte Hand berührte seinen Rücken. Es war ein ziemlich weiter Weg, den sie gingen, und der Hund war durch Mangel an Nahrung und Pflege sehr geschwächt. Als sie ein kleines Haus erreicht hatten, holte der Mann Wasser und Futter herbei und setzte sich dann hin und sah zu, wie der Hund es gierig verschlang. Nachdem die Schüsseln leer waren, stand Jan da und wedelte mit dem Schwanze, um seine Dankbarkeit zu zeigen. Der Alte lachte.

»Du bist ebensowenig toll wie ich, Prinz Jan. Aber du bist in einem arg vernachlässigten Zustand.«

Er band den Hund nicht an, sondern ließ das Seil auf den Boden fallen. Dann holte er eine kleine blecherne Schüssel mit warmem Seifenwasser herbei, wusch sehr vorsichtig den Körper des Hundes und strich eine kühlende Salbe auf die wunden Stellen.

Jan war sofort bereit, diesem guten Freunde wieder zu folgen, und obgleich ihm die Beine noch vor Schwäche zitterten, eilte er mit dem alten Manne in einen großen Raum, dessen Boden mit Erde bedeckt war. Es war spät am Nachmittag; das Licht der beiden kleinen Fenster ließ den Raum teilweise dunkel, so daß Jan nicht viel sehen konnte, als er eintrat. Aber er hörte das Gewinsel und Bellen von Hunden. Als er sich an das trübe Licht gewöhnt hatte, fand er, daß der alte Mann ihn angebunden hatte und fortgegangen war. In dem Raum waren mehrere kleine Hunde an kurzen Stricken befestigt; alle starrten den großen Ankömmling an. Ein schrilles Kläffen veranlaßte Jan, sich umzuwenden, und er bemerkte ein winziges, schmutziges Hündchen mit langem Haar, das einst weiß gewesen war, jetzt aber vernachlässigt und wenig sauber aussah; das Tierchen zerrte an seinem Seil und schielte frech nach Jan hinüber.

»Du meine Güte! Du bist der größte Hund, den ich je gesehen,« sagte das Zwerglein, das nicht viel größer als ein Kätzchen war. »Wie heißt du, und wo in aller Welt kommst du her?«

Jan gab höfliche Antwort und fragte darauf: »Ist dies der Hundezwinger, wo man Hunde lehrt, Menschen zu retten im Lande ohne Schnee?«

»Du bist wohl verrückt! Dies ist der Pfandstall!« fuhr der kleine Hund Jan scharf an, in der Meinung, er mache sich über ihn lustig.

»Der Pfandstall?« wiederholte Jan. »Was ist denn das?«

»Du Dummkopf! Du hast trotz deiner Größe nicht viel Verstand! Wenn die Hundefänger uns erwischen, bringen sie uns zum Pfandstall, und wenn unsere Besitzer uns nicht bald abholen, werden wir alle erschossen.« Einige Hunde heulten nun vor Verzweiflung, aber das schnippische kleine Tier streckte sich ruhig hin, um zu schlafen.

»Bist du nicht auch unglücklich darüber?« fragte Jan.

»Nein, nicht im geringsten. Ich reise mit meinem Besitzer umher; wir leben in Hotelen, und ich muß stets ein Halsband tragen. Zuweilen gelingt es mir aber, ohne Halsband zu entschlüpfen, und dann bringt mich immer irgend jemand in einen Pfandstall. Meine Familie kommt dann dorthin, sobald sie entdeckt, daß ich fortgelaufen bin. Sie werden mich wohl bald hier abholen. Ich bin schon in vielen Pfandställen gewesen.«

Ohne weitere Bemerkungen legte sich der verwöhnte Schoßhund hin, zusammengeballt wie ein schmutziger Knäuel. Er war fest eingeschlafen, als die Tür geöffnet wurde und zwei junge Damen hereinstürzten. Eine derselben griff sofort nach dem kleinen Racker. Er wachte auf, und während er gähnte und mit den Augen blinzelte, wurde er gescholten, aber zugleich auch gestreichelt und mit fortgenommen.

Mit hoffnungslosen Augen sah Jan die jungen Mädchen und den Hund hinter der Tür verschwinden. Er verstand nun, da Elisabeth ihn nicht hatte abholen lassen, daß niemand sich darum kümmerte, was aus ihm werden würde. Er streckte sich hin, schloß die Augen und versuchte, das traurige Gewinsel der übrigen Hunde nicht zu hören; aber schlafen konnte er nicht. Er dachte daran, wie er die besten Absichten gehabt hatte, recht zu tun, und wie er sich bemüht hatte, die Lehren seiner Mutter zu befolgen. Aber in diesem fremden Lande ohne Schnee hatte er nichts vollbringen können. Und nun, nach einem nutzlosen Leben, mußte er schmachvoll sterben, und sein Tod würde eine Schande sein für seinen Vater und für Barry und die andern Hunde, die als echte Bernhardiner gelebt und gestorben.

Während der langen Stunden der Nacht hörte Jan die ruhelosen Bewegungen und das unterdrückte Gewinsel der Hunde, konnte sie aber in der Dunkelheit nicht sehen. Als der Morgen endlich graute, hob er langsam den Kopf und blickte die um ihn herliegenden Hunde an. Dann kam ihm jener andere Morgen in dem Hospiz in den Sinn, wo er früh erwacht war und ungeduldig den ersten Unterricht im Fährtesuchen erwartet hatte. Die Hunde, die ihn jetzt umgaben, waren bedauernswerte Geschöpfe; sie zitterten und bebten und ihre Augen, die in die seinen blickten, waren trübe und verzagt, und die Ohren hingen schlaff herab.

Die Hunde schreckten zusammen, als ein Schlüssel im Schloß der Türe gedreht wurde. Der alte Mann trat ein und ging von Hund zu Hund, streichelte einen jeden und stellte frischgekochtes Fleisch und eine Schüssel mit Wasser für sie hin. Die armen Geschöpfe wichen zuerst zurück, aber als sie merkten, daß er ihnen nichts Böses tat, wedelten sie ein wenig mit den Schwänzen, und die Augen, die ihm nachblickten, waren weniger ängstlich. Als der Alte zu Jan kam, stand er still, schaute ihn an und schüttelte den Kopf. Der Hund, der noch argwöhnisch war, spannte die Muskeln und hielt sich bereit; aber als der Mann ihn anlächelte und mit sanfter Stimme sagte: »Armer alter Kerl, ich fürchte, ich kann nichts für dich tun,« sah Jan ihn mit seinen großen Augen an, die um Liebe und Teilnahme flehten.

»Immerhin werde ich mein möglichstes tun,« sagte der Mann, als er das Tier losband und sich mit ihm zur Türe wandte.

Jan erhob sich mit Mühe, denn jeder Knochen in seinem mageren Körper schmerzte, und seine Beine zitterten vor Schwäche; aber er ging vertrauensvoll hinter dem gütigen Alten her. Als sie die Tür des kleinen Hauses erreichten, wo Jan am Abend vorher gewaschen und gefüttert worden war, beleckte er liebkosend mit der heißen Zunge die runzelige Hand, die den Strick hielt und die sich ihm entgegenstreckte. Im Hause drinnen legte der Mann einen alten Teppich auf den Boden, deutete auf denselben und sagte: »Leg dich hin, Jan.«

Mit einem Seufzer, der zugleich Schwäche und Dankbarkeit ausdrückte, streckte der Hund seine müden Glieder auf den weichen Teppich, aber seine Augen folgten jeder Bewegung des neuen Freundes. Dann schlief er ein, friedlich zum erstenmal, seit Elisabeth ihn verlassen hatte.

Der Geruch von warmem, frischem Fleisch ganz in seiner Nähe weckte ihn auf. Während Jan nach der Schüssel hinging, flog ein kleiner gelber Vogel durch das Zimmer und setzte sich auf den Boden; er sah Jan dreist an und näherte sich dann vorsichtig der Schüssel. Den Kopf keck zur Seite gewendet, saß er da und richtete seine glänzenden kleinen Augen auf den großen Hund. Jan verhielt sich ganz still, und der Alte, der am andern Ende der Stube saß, nickte beifällig, als der Hund den kleinen Vogel aus seiner Schüssel picken ließ. Nachdem der Vogel das Futter gekostet hatte, setzte er sich auf den Rand der Schüssel, hob das Köpfchen und sang aus voller Kehle. Als er zu Ende war, spreizte er die Flügel und flog durchs Zimmer zu dem alten Pfandstallwärter, auf dessen Schulter er sich niederließ und dort sitzen blieb, während der Alte in der Stube umherging.

»Geh nach Hause, Cheepsie!« sagte der Alte, worauf der Vogel sofort in einen Käfig flog, der an einem der vorderen Fenster hing. Der Mann ließ die Türe des Käfigs offen.

Dann führte er Jan auf eine hintere Veranda, wo ein Zuber mit frischem Seifenwasser bereitstand, wusch ihn wieder gründlich und bestrich die Wunden mit Salbe. Jans Herz floß vor Dankbarkeit über, doch konnte er sie nur zeigen, indem er seine Schnauze gegen die liebevolle Hand strich und dabei leise winselte.

»Ich weiß schon, alter Kerl,« sagte sein neuer Freund, »du willst mir danken. Jetzt wird schon alles gut werden. Gräme dich nur nicht mehr.« Und Prinz Jan war überzeugt, daß alles gut werden würde. Die Nacht schlief er auf dem weichen Teppich im kleinen Hause.

Von Tag zu Tag erholte sich Jan und wurde kräftiger; aber es dauerte acht lange Monate, bis sein schönes Fell wieder gewachsen war und seine Augen den Ausdruck des kläglichen Flehens verloren hatten. Zuerst konnte er nicht recht verstehen, wer sein neuer Freund war, den die Leute Kapitän Smith, den Pfandstallwärter, nannten. Es fiel ihm ein, was der kleine Hund über Pfandställe gesagt hatte, nämlich daß es Plätze seien, wo Hunde getötet würden, wenn ihre Besitzer sie nicht abholten. Aber Jan fühlte, daß sein Freund keinem Hunde etwas zuleide tun würde.

Von nun an folgte Jan dem Kapitän jeden Tag in den großen Raum, wo Hunde an Stricken angebunden waren, so wie er in jener ersten Nacht seines Hierseins. An sonnigen Tagen des schneefreien Winters wurden die Hunde in den hinteren Hof des kleinen Laufes geführt. Der Hof war von einem hohen Bretterzaun umgeben; hier konnten die Hunde umherlaufen, sich strecken oder im warmen Grase liegen.

Kein Hund blieb lange im Pfandstall; aber selbst in der kurzen Zeit lernten sie den alten Kapitän lieben. Sie sprangen um ihn herum, krochen zu seinen Füßen und wedelten mit den Schwänzen. Einige sogar, mutiger als die anderen, sprangen an ihm empor, um ihm die Hände zu lecken, oder stellten sich so, als ob sie mit ihm kämpfen wollten. Aber wenn sie ganz in seiner Nähe waren, wandten sie sich um und liefen, um ihn zu necken, in weitem Kreise um ihn her, kläffend und bellend. Und die ganze Zeit, während sie spielten, stand der alte Mann dabei, die Hände ausgestreckt, um die ihm nächsten zu liebkosen. Neue Hunde kamen mitunter mit den anderen herein, während einige der älteren fortblieben. Dann sah Prinz Jan den Kapitän fragend an; aber niemals mißtraute er dem Freunde, der alle Hunde liebhatte.


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