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Achtzehntes Kapitel.

Gottlieb Bengt war dreimal in das Haus zurückgegangen und dreimal wieder vor das Haus getreten. Die Kinder fragten nicht nach Oda Marie, aber er fühlte, daß sie nicht länger ausbleiben durfte. Jetzt glaubte er die Worte zu verstehen, die durch sausenden Sturm zu ihm gedrungen waren, Worte, die dem Wanderwunsche gefolgt: Das Grauen muß fort. Bengt kannte kein Grauen. Er ahnte aber, daß dergleichen über ein einsames Weib kommen konnte. Wenn der Zusammenhang zerriß mit allem, was das Leben lebenswert machte.

Eine volle Stunde verrann. Irgend etwas fesselte Bengt an das Haus – er wagte nicht, zum Strande hinunterzugehen. Da sah er plötzlich durch die Dämmerung eine Gestalt nahen. Die Kronprinzessin mit ihrem flatternden Kleide war es nicht. Eine hohe, breite Mannesgestalt schritt auf ihn zu. Er erkannte seinen Vater. – »Hast du das Boot hinaustreiben sehen?« fragte der Alte. – »Welches Boot, Vater?« – »Das kleine hinter der Düne ist fort. Es hat sich wahrscheinlich losgerissen, aber es lag weit auf dem Strande. Irgendeiner muß es ins Wasser gestoßen haben. Wer soll bei dem Wetter hinaus?« – Der erstaunte Alte sah, daß sein sonst so ehrerbietiger Sohn ohne Antwort an ihm vorüberlief. Er folgte ihm. Hinter der Düne stand Gottlieb und starrte auf das zerwühlte Meer. Dann schrie er plötzlich, laut, entsetzt, wie ein Kind. Der Vater trat schnell neben ihn, und Gottlieb umklammerte seinen Körper. Bald sah auch der Alte die Planken auf dem Wasser. Bald mußte auch er erkennen, daß das helle Ding, das da immer wieder herangespült und zurückgezogen wurde, eine tote Frau war.

Der Vater lief davon und holte die Fischer. Inzwischen erreichte Gottlieb seine Herrin. Er berührte sie zum erstenmal. Er zog sie an ihren kalten Händen, und es gelang ihm endlich, das zerstörte Menschenbild auf den Sand zu bringen. Zu helfen war nicht mehr – er sah es. Da kniete er bei Oda Marie und betete, bis die Männer kamen …

Es war ein kleiner, trauriger Zug, der die Thronerbin des Landes in das arme Fischerhaus brachte. Gottlieb Bengt ging voraus, um die Kinder vorzubereiten. Aber er wußte nicht, ob sie ihn verstanden. Er sah nur, daß sie mit großen, entsetzten Augen auf das verhüllte Ding blickten, das auf dem Bett lag und ihre Mutter bedeuten sollte. Alles schien gelöst zu sein zwischen ihnen und ihr. Erik lief vor das Haus, da es ihm niemand mehr verbot. Marie Mathilde aber irrte mit ihren hellen Augen von der Mutter auf die Fischchen in der Schüssel. Eines von ihnen lebte noch. Da ergriff das Kind den kleinen, zappelnden Leib, rannte zum Strande hinunter und warf das Fischchen weit in die See.

Die Dorfbewohner standen in stiller Andacht. Schweigend brachte Vater Bengt die Flagge des Landes herbei, die sonst an Feiertagen über dem Gemeindehaus wehte. Mit dem buntfarbenen Tuche bedeckte er Oda Marie. Dann sagte er leise zu seinen Kameraden: »Schade, daß wir keine deutsche Fahne haben!«

Gottlieb telegraphierte inzwischen an den Kronprinzen, an den König und an Dr. Pelle Kroß. Bald kam der Arzt – er konnte nur noch »konstatieren«. Ihm folgten abends schon die Herren vom Nordstader Hofe. Auch König Erik kam, und es zeigte sich plötzlich, daß er um seine Schwiegertochter weinen konnte. Während alles zur Ueberführung vorbereitet wurde, fragte Prinzessin Gunhild den Lehrer Bengt: »Ist nach Udde telegraphiert worden? Noch nicht? Ja, sollen die Eltern es aus den Zeitungen erfahren?« – Selma Löwenstern, die bisher ratlos vor sich hin gestarrt hatte, fuhr empor: »Ich telegraphiere!« Sie rannte zur Post.

Weinend sahen die Fischer ihre tote Herrin ziehen. Das hatte der Meeresfriede ihr gebracht – aber es war wohl der Friede. Als die Nordstader fort waren, fand man einen schmalen Trost: der König hatte zum erstenmal das Dorf besucht. Der König war leutselig gewesen, als ob die armen Heringsfischer seine Freunde wären. Gottlieb Bengt aber fuhr mit nach Nordstad – die Kinder saßen in seine Arme gelehnt. Sie blieben stumm – sie fragten nichts. In Nordstad wandelte sich plötzlich die Welt des Schmerzes – Gottlieb war der einzige, der es mit Schrecken empfand. Er fühlte, daß die Tote nun der wirklichen Trauer entzogen wurde. Geschäftig deckte die undurchsichtige, zusammenströmende Riesentrauer das Bild einer Persönlichkeit zu, um es in den Pomp der Allgemeinheit zu hüllen. Aus einem einsamen Fischerdorfe war die Kunde in die Welt geflogen. Ueber einsames Leid triumphierte der Koloß des Verkehrs. Die Zeitungen füllten sich mit Artikeln und Bildern. Trauerfahnen wallten über ganz Nordstad hin. Hunderttausende drängten sich zum Hafen, um den Sarg zu sehen, der die Tote umhüllte.

Am nächsten Tage kam Kronprinz Arvid aus Paris. »Durch Tausende, die schweigend seinen Schmerz ehrten, eilte der hohe Herr unverzüglich in das königliche Schloß und verweilte an der Bahre seiner Gemahlin in stummem Gebet.« So berichteten die Zeitungen. Arvid aber sah und hörte nichts, als er ankam. Ein grelles, von schwarzen Schlangen durchschossenes Wogen nur empfand er. Er wußte kaum, daß seine Eltern ihn umarmt hatten. In der Schloßkapelle sah er einen Hügel von Blumen, mit brennenden Kerzen zuoberst. Zwischen diesen Blumen schwebte ein bleiches Frauenbild, das ihn an Oda Marie erinnerte. Seine Sinne konnten noch nicht bei ihr verweilen. Er sah Menschen um sich her, lebendige Menschen. Pomphaft staffierte Gardisten, die wie die Wachsfiguren eines Panoptikums Ehrenwacht hielten. Zu Füßen der Toten kniete ein Mann, den Arvid hier nicht sehen wollte. Bischof Jonas betete für das Seelenheil von Oda Marie. Auch sein schwarzer Kaplan hockte wie ein böser Helfershelfer in der Nähe. Da verlor Arvid die Fassung. »Was wollt ihr hier?« flüsterte er. »Geht fort!« – Strafende Blicke warf man dem Verzweifelten zu. Dann ließ man ihn allein. Arvid sah von den Blumen und den Kerzen auf die Tote. Alles war ihm jetzt ein Chaos. Nur daß er auf dem Bahnhof in Paris von einer weinenden Frau Abschied genommen hatte, wußte er noch. Der narkotische Duft der Blüten und des verdampfenden Wachses raubte ihm allmählich die Besinnung. Er sah ein Meer, auf dem Fortunas Schiff zerschellte. Er blickte in einen grünen, deutschen, sehnsuchtsvollen Wald. Und eine Forderung hörte er noch einmal, einen lauten, dröhnenden Ton aus goldener Trompete. Dem konnte er nicht entweichen. Er sank ohnmächtig in Oskar Löwensterns Arme. –

Am nächsten Morgen aber kam ihm ein Trost von dort, wo er anfangs nur Grauen empfunden hatte. Er fühlte sich von Mitleid und Zärtlichkeit umgeben. Ohne die Abwehr seines einsamen Herzens ließ er sich von der allgemeinen Trauer einlullen. Er nahm von sämtlichen Vorbereitungen Kenntnis, die für die Bestattungsfeier getroffen wurden. Er wollte alle Kundgebungen der Welt erfahren. Wie ein rettungslos Berauschter hielt er sich an einer Schale fest und verlor den Kern. So begriff man aber die Trauer des Kronprinzen. Dieser Schmerz gehörte zu ihm, der dem Volke ein Frühlingsfest gegeben hatte. Allmählich fürchtete Arvid nur noch eines: das Wiedersehen mit den Menschen aus Udde. Würden sie jetzt endlich kommen, sie, die Nordstad immer gemieden hatten? Sollte er den Vorwurf leidzerstörter Augen spüren, das einzige, was er nicht ertrug? Der ganzen Welt galt er als der Bemitleidenswerte, seiner Liebe Beraubte. In Udde nur wußte er, daß man ihn verurteilte. Da suchte er mit bebendem Herzen, was niemand ahnte: Rechtfertigung. Oda Marie sagte ihm nichts – die schwieg, bis ihr weißes Totenbild im Staub zerfiel. Aber die Herzen ihrer Kinder suchte er auf. Einen ohnmächtigen Zorn gegen sie in der Seele, wollte er wissen, was sie von ihrer Mutter dachten. Liebten sie Oda Marie oder ihn? Wollten sie bei ihm bleiben, oder hingen ihre kleinen Herzen an der Toten? Er erfuhr es nicht. Die Kinder schwiegen und weinten, als er sie heftig an sich riß. Sie verstanden noch immer nicht, was geschehen war. Sie wollten nur Trost für sich, nicht für den Vater. Da begriff Arvid, wie das Leben weiter ging. Da sagte er den Kindern, daß sie sich nicht zu fürchten brauchten. Sie würden bald in eine Umgebung kommen, wo sie es besser haben würden als bei der Mutter. Das Leben gehöre ihnen, das ganze, herrliche Leben. Während Arvid dies zu seinen Kindern sagte, fühlte er, daß er zu sich selbst sprach.

Jetzt wirkte ein Telegramm aus Udde wie eine Erlösung. Es lautete: »Wir können nicht zur Bestattung kommen. Wir bewahren ihr Bild auf unserer Erde. Verzeih' uns, Arvid – später besuchen wir ihr Grab.« Arvid nickte. Er fühlte sich geborgen. Der deutsche Traum zerrann. –

Aufgelebt in seiner Todestraurigkeit nahm er an dem Begräbnis teil. Kein Nordstader ahnte, daß der Kronprinz sich seinem Schmerze hingeben konnte, weil er schon weit von ihm entfernt war. Die Glocken läuteten von allen Kirchen. Kanonenschüsse rollten dumpf von den Hügeln über die leuchtende Stadt. Es war ein goldblauer Sommertag. Heroisch und mild zugleich war das Bild. Schwarz gekleidete Kinder streuten Blumen vor dem Leichenwagen, blinkende Krieger standen bis zum Dom Spalier. Eine ungeheure Menschenmenge fieberte dem Schauspiel entgegen. Die meisten waren schon in der Schloßkapelle an der Toten vorbeigezogen – nun wollten sie noch sehen, wer ihrem Sarge folgte. Viel war da zu sehen. Der trauernde König, die schluchzende Königin. Arvid, der zwischen seinen verwaisten Kindern schritt, Bischof Jonas mit dem Krummstab des heiligen Erik. Dann lauter prächtige, betrübte Menschen. Umflort schien alles. Die Sommersonne kämpfte mit dem dichten Schwarz. Schließlich hieß es: Acht Wochen Hoftrauer. Das war das letzte, was man ergriffen zur Kenntnis nahm. Das und die vielen Bilder, die von der toten Kronprinzessin in den Kunsthandlungen hingen. Wo man hinsah: Oda Marie. Noch einmal leuchtete ihr junges Leben auf; man hatte jetzt erst die volle Teilnahme dafür. Am meisten kaufte man die Photographien, welche die Kronprinzessin mit ihrem Gatten zeigten. Aber auch die Bilder mit den reizenden Kindern waren sehr beliebt.

Arvid fürchtete sich vor den zahllosen Porträts. Sie täuschten ihm gespenstisch vor, daß das Furchtbare gar nicht geschehen war. Irgendwo lebte sie noch, die Tote. Wenn er jetzt nach Udde fuhr, begegnete er ihr vielleicht im Park. Oder er sah sie über den See rudern, gesund und lächelnd. Er hörte ihren Hund bellen, den er getötet hatte … Aber er faßte sich gewaltsam. Er wollte sich nicht niederreißen lassen. Mochte das Volk wieder einem Götzen dienen – den brauchte es nötiger als Gott. Er durfte diesen Kultus nicht hindern. Im Gegenteil, solche rührende Volksempfindung gehörte von nun an zu der Liebe, mit der man den künftigen König begleitete. Sogar in einem kleinen Schaukasten an Grimms Keller hing ein Bild von Oda Marie. Sie lächelte den Betrachter traurig an. Wer lange in diese dunklen Augen blickte, wußte, daß sie längst gestorben waren. –

Arvid spielte sich allmählich in eine Komödie hinein, die ihn retten mußte. Er wurde ernst. Er bereitete sich mit dumpfem Eifer auf seinen kommenden Beruf vor. Von nun an bummelte er nur so viel, als er Zeit übrig hatte. Alles, was er unternahm, bekam eine Feierlichkeit, die ihm sonst fremd gewesen. König und Königin freuten sich darüber. Ein großes Wort aber sprach in diesen Tagen Frau Beata Sörensen. Die bescheidene Kammerfrau sagte zur Gräfin Kühlhorn-Wetterstein: »Der Geist unserer hochseligen Frau schwebt über dem Kronprinzen.« –

Also umschwebt saß Arvid eines Abends an seinem Schreibtisch und blätterte in Zeitungen, die er noch nicht durchgesehen hatte. Sie waren aus Deutschland gekommen und deshalb von Wichtigkeit. Ueberall sah er Bilder Oda Maries. Arvid wußte vor diesen zahllosen Konterfeis schon kaum noch, wie seine Frau wirklich ausgesehen hatte. Plötzlich aber kam ihm ein Blatt in die Hand, das ihm auffiel. Es war der »Generalanzeiger« jener Hafenstadt, wo er einst mit seiner jungen Frau nach Nordstad hinübergefahren. Der vielen Prosahymnen, die einander so verzweifelt ähnlich sahen, war Arvid müde. Nun sah er an der Spitze des deutschen Blattes wieder einmal Poesie. Er las die Verse. Als er mit dumpfem Kopf bis ans Ende gelangt war, bemerkte er den Namen des Verfassers. Michael Kleinholz hieß der Dichter. Wo hatte er doch den Namen schon gelesen? Arvid wußte kaum, daß er in diesem Augenblick zum erstenmal wieder lachte. Ja er erinnerte sich. Bei zwei Gelegenheiten hatte ihn die Poesie dieses Herrn erreicht: als sein Bruder Johann gestorben war und als Oda Marie ihre Tochter geboren hatte. Nun stellte sich der pünktliche Dichter zum drittenmal ein. Sinnend las Arvid noch einmal die letzte Strophe:

O Nordlandvolk, wir teilen deinen Schmerz!
Du hast verloren, was wir nie verwinden!
Die Hoffnung sank! Des Volkes Mutterherz!
Wo wird die Krone nun ihr Haupt noch finden?

Ja, das ist wahr, dachte Arvid. Wo wird die Krone nun ihr Haupt noch finden? – Von Zeit zu Zeit war es doch gut, dergleichen ausgesprochen zu sehen. Auch Oda Marie hatte die Dichter geliebt. Wichtig war es Arvid, daß man auch in Deutschland nicht an einen Selbstmord glaubte und daß das ganze Ereignis sich in rührende Poesie auflöste. Das war sie ja gewesen: Oda Marie. Wer wußte denn, was sie auf dem stürmischen Meer gesucht hatte? Arvid stand auf und steckte das Zeitungsblatt in die Tasche. Er wollte nicht vergessen, daß der deutsche Dichter einen Orden bekam.

 


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