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Zehntes Kapitel.

Der Mond spiegelte sich im Strom. Schwarz lagen die langen Kähne der Fischhandlungen am Bollwerk. Ihr scharfer Duft verband sich für Arvid mit der reinen Nachtluft zu etwas endlich Widergefundenem. Als er an Löwensterns Seite die stille Kaistraße entlangschritt, kamen zwei Mädchen mit großen Hüten und knisternden Seidenröcken. Sie sahen die aristokratischen Herren verlangend an, aber im nächsten Augenblick erkannten sie den jüngeren. Sie prallten zurück und flüsterten einen Namen. Da gingen die beiden Herren noch schneller. Bald ließen sie Strom und Schloß hinter sich – durch den Erikskorso mußten sie noch, an fatalen Schutzmännern und gefährlichen Nachtwanderern vorüber. Dann kamen sie in eine wohlbekannte Gasse. Plötzlich blieb Arvid stehen. Ihm war, als ob er schon Meilen weit von den stillen Zimmern des Schlosses entfernt wäre. Der Gedanke an Oda Marie beängstigte ihn; er fühlte jetzt erst ihre Macht. »Wohin gehen wir eigentlich, Oskar?« flüsterte er. »Wir haben gar nichts verabredet.« – Der Graf sah ihn lächelnd an. Sein Gesicht war im Mondschein unnatürlich bleich und widerlich. »Bedurfte es einer Verabredung? Um diese Zeit das Schloß verlassen heißt: zu den ›Punschseelen‹ gehen.« – »Ich gehe nicht mehr in Grimms Keller!« – »Wir stehen schon davor, man hat uns schon bemerkt.« – »Sind Sie des Teufels, Oskar?« – »Ale Beckmann hat uns bemerkt. Da ist er schon.«

Der Küfer des Weinkellers, eine sehr populäre Persönlichkeit in Nordstad, erschien. Freudiges Staunen kam auf sein rotes Affengesicht – Prinz Arvid, der Verlorengeglaubte, der Schutzpatron des Kellers, stand wieder vor ihm. Nun kamen goldene Tage – nun drohte die Polizei Herrn Grimm nicht mehr mit Konzessionsentziehung. Aber Ale Beckmann besaß die Fassung eines Mannes von der Welt. Er begrüßte den Prinzen nicht, sondern riß nur die Mütze vom Schädel und polterte in den Keller zurück. Auch hier machte er kein Aufsehen – nur zum Wirte schlich er sich und flüsterte ihm etwas zu. Herr Konstantin Grimm befand sich in einer großen Situation seines Lebens. Rasch überlegte er, wie er sich darin zu bewähren hatte. Dann schob er Ale Beckmann zu seinen Fässern und öffnete die Tür des Gastzimmers. Ein Schwall von Lärm und Weindunst schlug ihm entgegen. Die lachenden Gesichter standen gleichsam still, als sie die feierliche Miene des Wirtes sahen. So konnte Grimm die alles sagenden Worte zischen: »Attention! Tigerklau und Bärentatz! Fassung! Fassung!« Er schlug die Tür wieder zu und überließ die Gäste ihrer Ueberraschung. Inzwischen waren Arvid und Löwenstern langsam die Treppe hinuntergestiegen. Grimm kam ihnen mit Bücklingen entgegen. Sein Spitzbubengesicht war freudig bewegt, und er kreuzte die roten Hände über dem langen Spitzbart. »Von Herzen willkommen, gnädigster Herr Tigerklau! Verehrtester Herr Bärentatz!« – Arvid ging, ohne zu antworten, an dem Wirt vorüber. Grimm wurde dadurch nicht irritiert, sondern empfand die Situation nur noch tiefer. Graf Löwenstern aber nahm ihn beiseite: »Jetzt gelten auch die Spitznamen nicht mehr, Konstantin. Sie wissen doch, daß die ›Arbeiterpost‹ sie schon in einem Hetzartikel verraten hat? Es darf überhaupt nicht bekannt werden, daß wir wiedergekommen sind – falls aber etwas durchsickern sollte, werden Sie alles abstreiten. Wir sind reisende Russen und gehen morgen wieder zu Schiff.« – Grimm verbeugte sich – dann geleitete er die Herren zum Gastzimmer. »Sind die anderen vorbereitet?« fragte Arvid erregt. – »Sie sind vorbereitet, Königliche Hoheit, aber vor Freude verstummt.« – »Lassen Sie doch die Uebertreibungen!«

Jetzt trat Arvid ein. Er sah sie alle wieder vor sich. Asta Karlsson und Ethel Night, Melide Beutow und Maurice Mosson. Orlando, den Geiger, und Panadelphos, den Dichter, überflog sein Blick. »Guten Abend, Kinder,« sagte Arvid verhalten. – »Auch ich habe die Ehre, euch guten Abend zu wünschen,« bemerkte hinter ihm Löwenstern. – Jetzt sprang ein großes, schönes Weib mit weißem Gesicht und rotblondem Haar auf Arvid zu. Im nächsten Augenblick warf es sich vor ihm nieder und umklammerte seine Knie: »Bist du da! Bist du endlich wieder da!« rief sie ekstatisch – Arvid beugte sich ärgerlich auf die duftende Mähne nieder. »Melide, steh doch auf – wir sind doch nicht im Theater.« – Die Rotblonde duckte sich nur noch tiefer. »Schlage mich! Schlage mich mit Worten oder mit Fäusten! Ich spiele nicht Komödie! Dein Anblick überwältigt mich!« – Jetzt half ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen, dessen Bewegungen die Grazie orientalischer Tänzerinnen hatten, dem bedrängten Prinzen. Sie riß Melide Beutow energisch hoch. »Fassung!« rief sie mit frischem Humor. »Tigerklau kriegt ja Angst! Wir sind doch inzwischen kein Irrenhaus geworden!« – »Asta Karlsson!« flüsterte Melide Beutow theatralisch. »Das vergesse ich dir nie!« – »Man muß doch nicht immer Karriere machen wollen,« sagte nun Maurice Mosson, der sein Künstlerhaupt in die Hand stützte. »Haltung ist die Hauptsache, Kinder. Haltung hat Konstantin Grimm gesagt. Wir wollen unser Entzücken in würdiges Schweigen hüllen. Setzt euch zu uns, hochwillkommene Brüder, wiedergefundene Söhne! Steigt sofort in den Sekt!«

Arvid und Löwenstern gehorchten. Sie saßen wieder auf ihren alten Plätzen. Hatte man die wirklich frei gelassen? Plötzlich sprang ein kleines, zierliches Frauenzimmer auf, das man im ersten Augenblick für ein Kind halten konnte – dann aber sah man die reifen Züge, die etwas Liebliches und Verderbtes hatten. Ethel Night, in feuerfarbenem Tüllgewand, rief mit gellender Stimme: »Alexander! Niggertanz! Ich kann mich nicht anders freuen!« Die anderen blickten lachend auf den Dichter Panadelphos, dessen verwachsener Körper tief in einem Sessel ruhte. Sein bleiches Gesicht mit der Hakennase und dem farblosen Munde war starr auf den Prinzen gerichtet. Arvid vergaß diesen Blick des Dichters nicht. Die Frage, die in ihm selbst wühlte, wurde in Panadelphos' dunklen Augen vernehmlich: Kommst du von ihr zu uns. Wie ist das möglich? Weißt du, daß meine besten Träume bei ihr sind? Mein besseres Ich ist dort, wo du geflohen bist! Hier triffst du nur mein schlechtes! Diese Worte hörte Arvid, als er den Dichter ansah. Er haßte ihn plötzlich und fühlte, daß er ihn immer gehaßt hatte. Was wagte dieser verkrüppelte Hofnarr? Jetzt erst trotzte Arvid und rief mit erquälter Freude: »Niggertanz! Bravo, Ethel! Wie lange habe ich den nicht gesehen!« – Ethel stampfte mit dem Fuße auf und schüttelte ihren wirren Blondkopf. »Nun hockt er schon wieder, als ob er taub wäre! Die Gitarre hat er im Arm, als ob ihm sämtliche Saiten gesprungen wären! Alexander! Grieche! Los!« – Unter allgemeinem Gelächter ermannte sich Panadelphos, nickte der Tänzerin zu und spielte einen Niggertanz. Das war die rechte Ablenkung. Noch niemals hatte man Ethel Night so tanzen gesehen. Als sie sich zuletzt vor Arvid niederwarf, verstand man diese Huldigung. Ethel Nights Freude war spontan, sie jauchzte dem Prinzen zu. Graf Löwenstern blickte stolz auf seinen Herrn. Heute waren alle wieder Arvids Gäste – die kostbarsten Getränke mußte Konstantin Grimm herbeischaffen. Jedes Winks gewärtig, stand Jean, der Oberkellner, hinter dem Allvermögenden.

Man tobte und schwenkte die Gläser. Maurice Mosson, der berühmte Held des Hoftheaters, umarmte die königliche Hoheit von Nordstad. Arvid ließ es geschehen. Er nickte dem treuen Löwenstern zu. Nun war er wieder bei den Seinen, nun brauchte er wirklich nicht mehr an das stille Schloß zu denken. Während die Frauen wie selige Hetären sich um ihn lagerten, ging Alexander Panadelphos, die Gitarre am Höcker, hinaus. – –

Beata Sörensen, die Kammerfrau der Königin, war das einzige Wesen im Schlosse, das von Arvids nächtlichem Ausgang wußte. Sie verfügte über einen Spion, gegen den Graf Löwenstern machtlos war. Tobby Schrumpf, Zollwächter am Flusse, machte jede Nacht seine Beobachtungsgänge. Niemand verließ das Schloß, ohne der Kammerfrau, die Tobbys Geliebte war, gemeldet zu werden. Die Nachricht, die sie heute erhielt, war ein Vermögen wert – Tobby durfte sich einen guten Tag machen. Beata Sörensen war der einzige Dienstbote im Schloß, der Haß gegen Oda Marie empfand. Sonst hielt die innere Hoheit der Prinzessin alles nieder. Wen sie abwies, gab es nicht auf, ihre Gunst noch zu gewinnen. Aber Beata Sörensen wußte, daß sie im Schlosse eine Macht war. Ihr Talent bestand darin, daß sie Fürsten als Menschen sah. In ihrer Demut erreichte sie, was sie wollte. Indem sie den Schwächen diente, wurde sie selbst immer stärker. Von niederer Herkunft, hatte sich Beata Sörensen aus einer Säuferfamilie ins Kloster gerettet. Dort war sie eine tüchtige Köchin geworden, und von dort hatte die Königin sie in ihren Hofstaat geholt. So besaß sie eine unfehlbare Technik der Frömmelei, verbunden mit robuster Volkskraft. Wer diese peinlich saubere, diensteifrige Frau sah, konnte ihr nichts Böses zutrauen. Still und bescheiden ging sie umher, sah scheinbar nichts, in Wahrheit alles. Nur der Königin war sie treu, denn sie wußte sich im äußersten Fall von ihr geschützt.

Oda Marie konnte sie nicht gewinnen. Hier traf sie unbedingte Ablehnung. Hier fühlte sie, daß sie ins Nichts versank. Prinz Arvids Frau war nicht schroff gegen Beata Sörensen, aber sie ließ sie von vornherein vor der Tür stehen. Erbost versuchte die Kammerfrau nun durch die Umgebung bei der Prinzessin einzudringen. Sie hatte ja den großen Auftrag – Kaplan Schönwetter und Bischof Jonas selbst waren zu ihr gekommen. Aber in all ihrer Wichtigkeit versagte Beata Sörensen vor dem letzten Diener der Prinzessin. Diese Fürstin wußte von jedem Untergebenen, daß er ein von Menschen unterschiedener Mensch war. Wie eine freiwillige Leibwache zog sie die Leute, die ihr dienten, um sich herum. Die Leibwache bekam eine Führerin in Fräulein Gertrud v. Adlersfeld, einer Edelmannstochter aus dem hohen Norden, die als Hofdame der Prinzessin berufen worden war. Sie kam aus dem Lande der Mitternachtssonne – sie konnte der Deutschen nichts erzählen. Deshalb hatte man die Wahl getroffen, die zum Schaden der Königin wurde. Gertrud v. Adlersfeld erkannte instinktiv, in welcher Gefahr Oda Marie war. Ihre in der Natur geschärften Augen wußten bald, daß Arvid nicht das Glück solcher Frau sein konnte.

Beata Sörensen gelangte nicht zu der Prinzessin, sie mußte dem Kaplan Phantasieberichte liefern. Plötzlich aber erhielt sie die Meldung des Zollwächters Schrumpf. Prinz Arvid war nach den ersten Monaten der Ehe schon zu seinen Junggesellengewohnheiten zurückgekehrt. Es war kaum glaublich. Man hatte gar nicht gewußt, daß ein Zerwürfnis zwischen den Gatten bestand. Es mußte ja so sein, wenn Arvid vermummt ins Nordstader Nachtleben hinausging. Der Prinz konnte sich das Wagnis dieses Schrittes nicht verhehlen. Jetzt war er angreifbar – jetzt hatte er sein Bestes bloßgestellt. Die nächtlichen Wege des hohen Herrn zu verfolgen, hatte Tobby Schrumpf nicht gewagt. Nun galt es vor allem, festzustellen, ob Arvid von neuem in Grimms Keller verkehrte. Zwei Tage vergingen – da meldete der Zollwächter, daß die vermummten Herren wieder um Mitternacht über die Brücke gekommen seien. Diesmal habe er ihnen seinen Bruder Peter, der ein harmloser Straßenkehrer war, nachgeschickt – der schlaue Junge sei ihnen bis Grimms Keller nachgeschlichen. So war es denn erwiesen.

Beata Sörensen überlegte. Welcher Nutzen ergab sich zunächst aus ihrer gewaltigen Entdeckung? Arvid mußte geschont werden. Unvorsichtigkeit konnte einen entsetzlichen Skandal heraufbeschwören. Doch Oda Marie war zu erobern. Plötzlich sprang die Tür zu ihrem innersten Reich auf – dort hatte sie keine »Leibwache« aufgestellt. Eine verratene Frau ließ den Mitwisser ein. Jetzt durfte Beata Sörensen nach Oda Maries stärkster Waffe greifen, dann konnte sie die Deutsche auch »erziehen« und zur Zufriedenheit der Königin eine normale Prinzessin aus ihr machen.

Im Hofgarten wagte sie den Versuch. Plötzlich hatte der Frühling seine Boten geschickt. Die alten Hecken trugen grüne Spitzen, und unter Sonnenküssen bebten die schwarzen Bäume. Oda Marie verließ ihr Arbeitszimmer; seit Wochen hatte sie sich darin eingeschlossen. Sie suchte Berührung mit der Natur – im ersten Frühlingskeimen konnten viele tote Gedanken Leben gewinnen. Als sie aber in ihrem dunklen Kleide zwischen all dem Singen und Leuchten umherschritt, bereute sie ihren Entschluß. Es kam zu stark über sie, was sie gewollt, und woran sie gescheitert war. Sie verlor den Boden unter den Füßen – sie glaubte sich wieder in ihrer Heimat. Dies waren Bäume von Udde, und ihr Vater konnte jeden Augenblick aus dem Schloß treten. Hinter der Mauer lag »Deutsch-Freiland«. Aber plötzlich erinnerte sie sich: in »Deutsch-Freiland« trennte keine Mauer den Fürsten vom Volke. Sie lebte in der Fremde, wo man eine andere Sprache sprach. Sie sah noch immer aus ihrem Fenster über den Strom – jenseits lag das unbekannte, feindliche Gewirr.

In einem Laubengang sah Oda Marie eine Bank. Sonnenflecken tanzten auf dem feuchten Kies. Amselrufe antworteten sich aus Kastanien. Da ließ die junge Frau sich kraftlos nieder. Da schluchzte sie plötzlich, das Gesicht in die Hände gepreßt.

Golo lag neben ihr. Oda Marie hatte sich auch in Nordstad nicht von ihrem Hunde getrennt, aber die Uebersiedelung war dem Bernhardiner nicht gut bekommen. Er hatte seine Frische eingebüßt, er war ein schwerfälliger, alter Herr geworden. Mißtrauisch verhielt er sich gegen die neue Umgebung. Mit Oda Marie schien er tiefer verbunden zu sein als je. Für Arvid aber hatte er keinen Gehorsam. Golo fuhr nicht auf, als seine Herrin plötzlich weinte. Mit stiller Trauer blickte sein dunkler Kopf vor sich hin, als ob er dieses Geständnis innerer Qual schon erwartet hätte. Plötzlich aber reckte er sich in anderer Richtung und knurrte. Es klang, als ob er die Störung einer geheiligten Stimmung zurückwiese. Oda Marie blickte erschrocken auf. Da schritt durch den schattigen Gang eine Gestalt, die sie jetzt gern vermieden hätte. Diese kleine, freundliche Frau mit dem blonden Scheitel fürchtete sie. Sie hoffte nur, daß Beata Sörensen grüßend vorübergehen würde. So entsprach es dem Reglement, aber Frau Sörensen pflegte sich nicht daran zu halten. Jetzt war sie mit ihren leisen Füßen dicht vor Oda Marie gelangt, und wirklich – trotz Golos Knurren machte sie nach einem tiefen Knicks halt. »Hoheit wollen mir gnädigst verzeihen – ich möchte Hoheit nur die ersten Schneeglöckchen überreichen, die in unserem Garten aufgeblüht sind.«

Oda Marie hielt ein Sträußchen weißgrüner Blüten in der Hand. Diese Aufmerksamkeit rührte sie. So war ihr in Nordstad noch niemand genaht. Von Reue ergriffen, starrte sie die Kammerfrau an. Sollte sie ihr unrecht getan haben? Hätte Arvid ihr auch von diesem Menschen ein falsches Bild entworfen? Seltsam war es, daß Golo nicht mehr knurrte, seitdem Oda Marie die Blumen in der Hand hielt. Auch er schien mit Frau Sörensen zufrieden zu sein. Die Prinzessin blickte lange auf die Frühlingsblüten, während die Kammerfrau ehrerbietig schwieg. »Ich danke Ihnen,« sagte Oda Marie nach einer Weile. »Möchte es nur bald mehr geben. Der Frühling läßt hier lange auf sich warten. Aber nun ist er, glaub' ich, da.« – »Hoheit werden sich hoffentlich recht bald überzeugen, wie schön er hier ist. Ich empfehle Hoheit dringend, eine Dampferfahrt stromaufwärts zu unternehmen; da lernt man unser Land erst kennen, da ist alles besser als in der Stadt.« – Diese Worte klangen gut und hatten eine anständige Klugheit. Es berührte Oda Marie auch merkwürdig, daß gerade Frau Sörensen sie dazu bewegte, das Schloß zu verlassen. Wenn nur die Augen der Kammerfrau nicht so undurchsichtig gewesen wären. Doch Oda Marie zwang ihre Antipathie nieder. »Setzen Sie sich doch, Frau Sörensen.« – »Zu Ihnen, Hoheit?« – »Ja, gewiß – zu mir. Golo wird Ihnen Platz machen. Rück ein bißchen, Golo. So. Sind Sie Nordstaderin, Frau Sörensen?« – »Nein, Hoheit! Ich stamme von weither, aus dem Norden. Da ist es so schön einsam, Hoheit. Meine Heimat ist die Hochebene. Prachtvolle Wiesen mit großen Blumen und gescheckten Herden. Bäche wie Silber so klar. Und Hirten, überall Hirten. Städte gibt es da nicht – die Dörfer sind oft meilenweit voneinander entfernt.« – »Da wird es Ihnen wohl schwer, in der Stadt zu leben?« – »Furchtbar schwer ist es mir geworden, Hoheit. Aber die Gnade Ihrer Majestät macht alles wieder gut. An meine Heimat denke ich freilich immer.«

»Ich komme auch von meiner Heimat nicht los,« sagte Oda Marie, halb zu sich selbst sprechend. »Ich träume jede Nacht davon, und oft weiß ich auch bei Tage nicht, wo ich bin.« – Frau Sörensen sah sie voll Mitgefühl an. »Das habe ich Ihrer Hoheit schon lange angemerkt. Ja, ja, das böse Heimweh. Aber man kommt durch Tätigkeit darüber fort.« – »Ganz gewiß, Frau Sörensen,« erwiderte Oda Marie lebhaft. »Arbeiten will ich – danach sehne ich mich ja! Aber man macht mir die Arbeitsmöglichkeit so schwer.« – Frau Sörensen saß mit gesenktem Blick, die Hände im Schoße faltend. »Ich wage es selbstverständlich nicht, Ihre Hoheit um Aufklärung über diese Klage zu bitten. Aber das eine darf ich wohl dem glücklichen Zufall dieser Begegnung danken – ich möchte Ihrer Hoheit versichern, daß auf seiten Ihrer Majestät jeder Weg noch offen steht.« – »Wie kommen Sie darauf, Frau Sörensen?« fragte Oda Marie, plötzlich wieder mißtrauisch. »Hat die Königin Sie geschickt, um mir das zu sagen?« – Die Kammerfrau zuckte zusammen. Diese Frage hatte sie Oda Marie nicht zugetraut. »Hoheit, mich hat niemand geschickt. Ich schwöre, daß ich Ihr Mißtrauen nicht verdiene.« – »Es soll auch kein Mißtrauen sein. Ich kenne Sie nur noch nicht genug, um …« – »Hoheit, ob es sich um Fürsten oder arme Hirten handelt – wir sind alle Menschen und kennen uns in unserem Vertrauen auf Gott.« – »Was wollen Sie damit sagen? Ich bin nicht fromm, wie man hier fromm ist und Frömmigkeit fordert.« – »Hoheit sind eine Gottestochter, mit allen Gaben unseres himmlischen Vaters ausgestattet. Das fühlen wir alle, von der Oberhofmeisterin bis zur letzten Stallmagd. Glauben Sie daran! Wir bringen Ihnen nur Liebe entgegen und wollen Sie schützen vor jeder Gefahr.«

Oda Marie stand nach diesen Worten erregt auf. Auch Golo sprang in die Höhe. »Sie sprechen von ›wir‹, Frau Sörensen? Wissen Sie nicht, daß ich bei der Königin war, und wie ich von ihr empfangen wurde? Ich denke, Sie wissen alles? Ich bin nicht mißtrauisch – man hat mir aber Mißtrauen entgegengebracht. Ich kam mit meiner ganzen Liebe zur Königin und fand Kälte, Zurückweisung. Es ist sonderbar, daß ich zu Ihnen davon spreche – Ihre Stellung berechtigt Sie nicht dazu. Aber ich weiß, daß Sie von der Gräfin Kühlhorn-Wetterstein kommen und von hier aus zu ihr zurückkehren. Sie können ihr also sagen, wie es sich wirklich verhält.«

Frau Sörensen stand mit gesenktem Kopf. In überzeugender Erregung stieß sie hervor: »Ich schwöre noch einmal bei meiner Seele Seligkeit, daß ich aus eigenem Antrieb gekommen bin, Hoheit. Ich habe Ihnen Blumen gebracht – sonst nichts. Ich sah, daß Sie einsam sind, und wollte Ihnen zeigen, daß Sie an diesem Hofe Freunde haben.« – Oda Marie blickte auf Golo und drückte die Hand auf seinen dunklen Kopf. »Ich habe meinen Mann – der genügt mir,« flüsterte sie mit herbem Stolz. Da geschah etwas Seltsames, völlig Unerwartetes – die beredsame Kammerfrau verstummte. Auf diese Gelegenheit, ihr Vertrauen zu finden, ging sie nicht ein. Das trieb Oda Marie zu einer Frage, die ihre Vorsätze umwarf: »Warum schweigen Sie, Frau Sörensen?« fragte sie mit flammenden Augen. Die Kammerfrau wich einen Schritt zurück. »Ich darf nichts sagen,« stammelte sie. – »Die Erwähnung meines Mannes wirkte auf Sie, als ob Sie sich entsetzten! Aus Ihrer Miene spricht ein Geheimnis! Deshalb dulde ich Ihr Schweigen nicht!« – »Wer bin ich denn, daß Hoheit zu wissen wünschen …« – »Wer sind Sie, daß Sie im Garten zu mir kommen und mir Blumen geben? Wenn Sie eine ehrliche Dienerin sind, muß ich Ihre Meinung kennen!« – »Ich bin nicht Ihre Dienerin, Hoheit –« – »Der Königin also? Ach so!« – »Jedenfalls bin ich nicht dem Hofstaat des Prinzen Arvid attachiert –« – »Sie verweigern mir Ihre Antwort?« – »Hoheit!« Die Kammerfrau weinte. – Oda Marie wußte vor diesen Tränen nicht mehr, was sie glauben sollte. »Seien Sie jetzt offen oder lassen Sie sich nie mehr vor mir sehen,« sagte sie mit mühsamer Fassung. Da kniete Frau Sörensen plötzlich. – »Stehen Sie doch auf! Was soll denn das!« – »Wenn Hoheit nicht an mich glauben, kann ich nicht sprechen. Ich will nur das Glück Ihrer Hoheit.« – »Was wissen Sie?« – »Ich weiß, daß Ihre Hoheit verraten werden, daß Sie einen Halt, eine Stütze brauchen. Und ich weiß auch, daß der, von dem Sie es erwarten, es nicht sein wird.« – »Wagen Sie es etwa, von meinem Mann zu sprechen?« – »Ich will es verantworten. Ich kenne den Prinzen seit seiner Knabenzeit. Ich habe mit angesehen, was die Majestäten um ihn gelitten haben. Die Chronik von Nordstad kennt die Jugend des Prinzen Arvid –« – »Wollen Sie mir mit den alten Geschichten kommen? Glauben Sie, daß ich das nicht alles weiß und seit meiner Heirat für wertlos halte?« – »Hoheit, dasselbe hat das ganze Land geglaubt. Als der Prinz noch das Glück hatte, Sie zu finden – da atmete man auf, denn man liebt den Prinzen. Die Kirche hat auf die Heimkehr eines verlorenen Sohnes gehofft. Aber nun …« – »Was nun?« – »Hoheit, es ist mir so furchtbar peinlich … Aber Hoheit zwingen mich … Haben Sie gar nicht über Vernachlässigung zu klagen? Fällt es Ihnen in keiner Weise auf, daß der Prinz –« – »Frau Sörensen! Ruhig, Golo!« Der Hund knurrte zornig, da er seine Herrin angegriffen glaubte. Es fehlte nicht viel, und er hätte zugepackt. Doch Oda Marie hielt ihn mit zitternder Hand am Halsband fest. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber jetzt fordere ich im Namen meines Mannes von Ihnen, daß Sie mir nichts mehr verschweigen.« – »Hoheit können es nur in Ihrem Namen fordern. Es ist Ihrer Hoheit eigenste Angelegenheit. Der Prinz weiß sicher nicht, was er seiner Gemahlin schuldig ist. Wenn er seine Nächte wieder in Grimms Keller verbringt …« – »Was ist das?« – »So schwer es mir auch wird – das ist die berühmteste Lasterhöhle von Nordstad. Der Schrecken der Frommen. Dort hat Prinz Arvid seine besten Jahre verbracht. Dort hätte er die Sünde hinter sich lassen sollen. Statt dessen kehrt er jede Nacht dorthin zurück.« – »Wer hat ihn gesehen?« – »Zwei Zeugen, Hoheit, die mit ihrem Kopf dafür einstehen. Sie heißen –« – »Ich will die Namen nicht wissen. Wer verkehrt in dem Lokal, das Sie nannten?« – »Hoheit, ich kann keine Einzelheiten vor Ihnen aussprechen.« – »Wer verkehrt dort?« – »Dirnen – Künstler!« – »Sonderbare Zusammenstellung.« – »Graf Löwenstern hat den Prinzen verführt!« – »Graf Löwenstern? …« – »Aber es ist ja noch alles zu retten! Jetzt, wo Hoheit informiert sind! Wo Hoheit über mich verfügen können! Glauben Hoheit jetzt –« – »Ich glaube, daß ich Ihnen niemals Blumen hätte abnehmen dürfen!« – »Hoheit!« – »Niemals, Frau Sörensen!« Golo wurde nur noch mühsam von Oda Marie festgehalten. Da wich die Kammerfrau zurück. »So bitte ich denn untertänigst um Verzeihung,« stammelte sie leichenblaß. »Hoheit behandeln Ihren Hund besser als Ihre treue Dienerin!« Nach diesen Worten fegte sie in das Schloß zurück.


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