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Zweites Kapitel.

Man ging zu den Wagen hinaus. Das »Volk«, das sich angesammelt hatte, war gering an Zahl. Einige Spielkinder, Fuhrleute, die das Verladen von Getreidesäcken unterbrachen, und zwei Bauernmägde, die ihre Kuh zwischen sich genommen hatten. Die Männer zogen die Mützen – Hochrufen war in Udde nicht Sitte. Graf Löwenstern ließ seinen empörten Blick nicht von dem Prinzen. In fanatischer Ehrfurcht schien er die »Maßnahmen« von ihm abhängig zu machen. Aber Prinz Arvid ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Er nahm den wunderlichen Empfang mit Humor und hoffte Jakob Kadmus dadurch zu ärgern. Leutselig grüßte er nach allen Seiten, als ob sich eine festliche Menge drängte. Fräulein Thyssen behandelte er als Hofdame, und bevor er in den Wagen stieg, klopfte er der Kuh, die zwischen den Mägden stand, auf die Stirn.

Im ersten Wagen nahmen der Prinz und die beiden Prinzessinnen Platz. Die frischen Landpferde zogen stark an, und über Stock und Stein ging die Fahrt, bis man von der holperigen Dorfstraße in eine glatte Allee kam. Die führte aus Schloß Udde zu. Zum erstenmal fühlte Prinz Arvid sich daran erinnert, daß er als Fürst zu Fürsten kam. Seine blauen Augen waren ironisch, aber nicht unfreundlich auf die Prinzessinnen gerichtet. Sie waren wohlgepflegte, deutsche Landmädchen. Gutsbesitzerstöchter ungefähr. Wenn ihre Schwester Oda Marie nicht hübscher war … Was sie ihm sympathisch gemacht hätte, vermißte Arvid. Er schien sie durchaus nicht zu verwirren. Die Mädchen blickten ihn nur verwandtschaftlich an. Bedachten sie gar nicht, wer er war, woher er kam, was sein Besuch in Udde bedeuten mochte?

»Vaters Entschuldigung haben wir hoffentlich schon bestellt?« begann jetzt Gertrud. »Er wäre so gern zur Bahn gekommen, aber er mußte heute in der Kolonie bleiben. Er wird Sie vor dem Mittagessen begrüßen, Arvid.«

»Und Oda Marie?« fragte der Prinz.

»Oda!« lachten die Mädchen.

»Darf ich wissen, was an meiner Frage so erheiternd ist?«

»Entschuldigen Sie!« rief Gertrud. »Wir nennen sie immer bloß Oda! Wenn Sie Oda Marie sagen, das klingt so feierlich!« .

»Oda mußte bei Vater bleiben,« erklärte Elisabeth. »Wir sollten auch nicht lachen, Trude. Es ist ein so ernster Anlaß. Heute ist Schrader, unser ältester Kolonist, begraben worden. Dem hat Vater viel zu danken.«

»Pardon, liebe Cousine. Umgekehrt wohl? Der Kolonist ihm?«

Elisabeth errötete und wandte ihre hellen Augen fragend zu Gertrud.

»Nein, Arvid,« versetzte diese. »Schrader war 20 Jahre, seit dem Bestehen, in ›Deutsch-Freiland‹. Die anderen wollen meistens fort, wenn es ihnen besser geht, aber Schrader hat seine Kraft der Kolonie gewidmet. Er hat Vater über schwere Zeiten fortgeholfen.«

»Und nun erweist Onkel ihm die letzte Ehre? Das finde ich hübsch. Obwohl bei uns in solchen Fällen Adjutanten geschickt werden. Aber man kann die Fälle wohl überhaupt nicht vergleichen. Nur daß Ihre Schwester bei dem Begräbnis anwesend sein muß – das versteh' ich – offen gestanden – nicht.«

»Oda muß nicht – sie hat es gewollt. Sie hat den alten Schrader gern gehabt.«

Die Wagen hielten vor dem Portal des Schlosses. Als Prinz Arvid die Vorhalle betrat, kam ihm Herzogin Mathilde entgegen. Das war wieder nach dem Zeremoniell, und der Prinz begann sich heimischer zu fühlen. Er küßte seine Tante, merkte ihr aber bei aller Herzlichkeit eine starke Verlegenheit an. Ob sie die Schrullen des Malliners bekämpfte? Ob sie sich vor dem Gast genierte? Ihre Augen waren ängstlich auf ihn gerichtet. »Onkel Karl hätte dich selbstverständlich persönlich begrüßt, lieber Arvid … Aber du weißt wohl schon …« – »Gewiß, Tante. Regierungsgeschäfte.« – Herzogin Mathilde nickte verwirrt – dann fiel ihr Blick auf Hanne Thyssen. Sie wurde blaß. Sobald die Gäste in den ersten Stock hinaufgegangen waren, wandte die Herzogin sich zornig zu ihren Töchtern. »Was fällt euch denn ein? Die Hanne mit auf den Bahnhof zu nehmen! Wißt ihr denn gar nicht mehr, was sich gehört?« – »Aber, Mutter, was ist dabei?« – »Eine schöne Frage! Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich euren Einzug sah! Ihr mit Arvid voraus – das war richtig! Aber der zweite Wagen – der Ministerpräsident mit Luz und der Pastorentochter! Graf Löwenstern hat wahre Giftaugen gemacht! Ich wette, er schreibt es noch heute nach Nordstad!« – Gertrud und Elisabeth lachten. »Was geht uns Graf Löwenstern an!« – »Euch nichts, das glaub ich wohl! Ihr und euer Vater – ihr kümmert euch nicht um meine Familie! Ich krieg' es dann wieder von der alten Kühlhorn, und bei der nächsten Gelegenheit verteilt meine königliche Schwester ihre Spitzen!« – »Aber, Mutter, sei doch nicht so böse – kümmere dich doch nicht darum.« Die jungen Mädchen hängten sich an die Arme der Herzogin und führten sie langsam die Treppe hinauf. – »Ihr macht es euch leicht,« schalt die Mutter, schon halb begütigt, weiter. »Vater lacht auch bloß immer. Ich muß dann die Verstöße in Ordnung bringen … Wie gefällt euch übrigens Arvid?« – Die Mädchen schwiegen – dann antwortete Gertrud: »Oh, sehr gut.« – Elisabeth war noch weniger fähig, Redensarten zu machen, und äußerte sich nicht. – »Na, ihr habt natürlich wieder etwas auszusetzen,« sagte die Mutter grollend. »Ich kann mir schon denken, Ihr stoßt euch an Aeußerlichkeiten.« – »Ich weiß nicht,« sagte Gertrud. »Vorläufig stoße ich mich an gar nichts.« – »Na, und du, Liese?« – »Ich auch nicht, Mutter. Ich habe noch nicht über ihn nachgedacht.« Den hellen Augen des blonden Mädchens konnte man nicht ansehen, ob sie gleichgültig waren oder in die Ferne blickten. Sie hatten das unbestimmte Blau der See. – Gertrud war rot geworden und trotzte dem mütterlichen Verhör. Im ersten Stock machte die Herzogin sich von ihren Töchtern los und ließ sie in ihre Zimmer laufen. Sie wollte nach Tisch Oda Marie befragen. –

Der Prinz fühlte sich von der Ankunft in Udde merkwürdig belebt. Er wollte vor dem Diner noch einen Spaziergang durch den Park machen und hatte die Absicht, Graf Löwenstern mitzunehmen. Aber während er sich von Sünlund umkleiden ließ, kam er von dieser Idee wieder ab; nach einer Viertelstunde schon eilte er allein in die Vorhalle. Niemand begegnete ihm. Als er vor das Schloß trat, empfand er es als angenehm, daß kein Posten präsentierte. Wie still es in Udde war. Arvid betrachtete das Schloß, das in praller Mittagssonne lag. Zwei einfache Stockwerke preußischen Zopfstils. Neben der herzoglichen wehte die Fahne von Arvids Vaterland. Das war wohl eine Aufmerksamkeit seiner Landsmännin, der Tante. Onkel Karl hatte sicher nicht daran gedacht.

Arvid strebte von dem brennend heißen Kies rasch in den Schatten des Parks. An blühenden Beeten kam er vorüber, von Bienen umsummt, von Schmetterlingen umgaukelt. Ländlich sauber war alles, mehr dem Nutzen, als dem Schmuck geweiht. Wie eine kühle Halle umfingen den Erhitzten dann die Parkbäume. Das war der alte, germanische Baumstand. Arvid blickte in das durchsonnte Grün. Buchen und Fichten. Ein Blätterbüschel fiel von oben herunter, Arvid ins Gesicht. Die Tiergeister des Parks wollten ihn wohl necken, weil er in ihr Heiligtum gedrungen war. Er würde ihnen schon Respekt beibringen. Uebrigens mit dem Malen konnte man wieder anfangen. Das hatte er arg verbummelt. Ueberhaupt – wie wohltuend war doch der Gedanke, in ein gesundes Leben zu kommen. Die letzten Wochen in Nordstad waren gar zu toll gewesen. Als ob ihn nach seinem Sturz auf der Rennbahn eine Gleichgültigkeit gegen alles Künftige ergriffen hätte, war er mit seinen Kräften umgegangen. Der Nachgeschmack blieb übel – keine Reue, aber Widerwille. Diese lumpigen Vampire in Grimms Keller. Diese lasterhafte, dumm-gescheite Gesellschaft. Sie liebten ihn alle nicht; sie nutzten ihn nur aus, weil er Prinz Arvid war. Wahrscheinlich dachte Asta Karlsson daran, durch seine Protektion im Hoftheater Karriere zu machen. Und Ethel Night, diese entzückende Gemeinheit, erhörte schon Herrn Mosson, den großen Komödianten, oder gar Herrn Panadelphos, den buckligen Dichter. Er kannte sie alle. Die Distanz eines besonnenen Urteils vertrugen diese Freunde nicht. Arvid wurde bitter. Er verwünschte die verlorene Zeit. Aber wie abgeschmackt war das. Setzte er sich denn herab, wenn es ihm jeden Tag möglich war, Schmarotzer abzuschütteln? Wem war er verantwortlich? Er war nicht als Thronfolger geboren. Arvid blieb sich selbst überlassen, und da sorgte er auch für sich. Jedenfalls war es wohltuend, die minderwertigen Genüsse einmal hinter sich zu wissen. Ein Glück war es geradezu, daß er ohne Löwenstern in den Park gegangen war. Der hätte ihm die schöne Stunde arg gestört. Sein Organ schon und alles, was er aussprach, wäre Erinnerung an Grimms Keller gewesen. Er hätte den hochgeborenen Herrn Grafen betrunken unter dem Tisch liegen sehen, wenn er von Singvögeln geschwärmt hätte. Pfui Teufel! Alles zu seiner Zeit …

Arvid hatte in seinen Gedanken nicht auf den Weg geachtet. Er befand sich plötzlich auf einem schmalen, ungepflegten Pfade, der noch Winterblätter trug. Ein Mückenschwarm schreckte ihn auf. Hier mußte Wasser in der Nähe sein. Arvid schlug mit dem Stock nach dem zudringlichen Getier und ging schnell weiter. Wie merkwürdig doch das Alleinsein in der Natur zum Nachdenken anregte. Er haßte das Nachdenken eigentlich. Es war ihm stets plebejisch erschienen. Auf englischem Vollblut über den Rasen jagen, sein Denken auf das Ziel, den Preis, den Nebenbuhler zu konzentrieren – das erschien ihm fürstlich. Unfruchtbares Einsiedlertum war Untertanensache. Er mußte sich in acht nehmen.

Jetzt stand Arvid vor einem kleinen See. Das war eine wohltuende Ueberraschung. Still und ohne Gefahr war dieses Wasser. Es lud zum Rasten ein. Arvid sah eine Bank und ließ sich darauf nieder. Seine Stimmung wurde bald schläfrig. Es unterhielt ihn, den Tanz der Sonnenstrahlen auf der gekräuselten Fläche zu beobachten und die Wildenten, die aus dem Röhricht kamen, auffliegen zu sehen. Am jenseitigen Ufer schien der Park in Wald überzugehen. Dort ragte der Kiel eines Bootes aus einer Schilfbucht. Arvid wurde etwas wacher und betrachtete das Boot. Ob es dort vor Anker lag? Ob es Insassen hatte? Er wartete. Alles schwieg. Es schien doch ein verlassenes Fahrzeug zu sein. Da plötzlich bewegte sich der Kiel des Bootes. Es kam aus der Bucht hervor. Arvid sah jetzt, daß eine weibliche Gestalt es lenkte, und daß ein großer Hund aufrecht im Bug saß. Seltsam wirkte es in der Sommerhelligkeit, daß die einsame Fahrerin schwarz gekleidet war. Unter dem breiten Hut mußte ein junges Antlitz sein. Daß die Dame schlank war und schöne Bewegungen hatte, bemerkte Arvid bald. Eine Ahnung erfüllte ihn – das mußte Oda Marie sein. Hatte sie nicht an dem Begräbnis des alten Kolonisten teilgenommen? Sie lenkte das Boot auf ihn zu. Ob sie ihn schon gesehen hatte? Unterhalb seiner Bank mochte die Landungsstelle sein. Richtig, da war ja auch ein Holzpflock am Ufer. So konnte Arvid seine Cousine erwarten, ihr beim Aussteigen behilflich sein. Er erhob sich. Das Herz pochte ihm, wie immer, wenn er ein schönes Mädchen kommen sah. Wie der Schleier ihres Hutes im Winde wehte. Wie kräftig und elegant sie ruderte. Jetzt bekam der Hund Witterung von dem wartenden Manne und bellte mit seiner vollen, etwas dumpfen Bernhardinerstimme. Oda Marie – sie war es gewiß – bemerkte Arvid. Als er den Hut zog, neigte sie ihren Kopf und beruhigte den Hund.

»Darf Ihnen Vetter Arvid aus Nordstad behilflich sein, Oda Marie? Ich irre doch gewiß nicht, daß ich vor meiner lieben Cousine stehe?«

Oda Marie sah ihre Ahnung, daß sie den Vetter getroffen, bestätigt. Sie nickte und rief mit frischer Stimme zurück: »Ich freue mich herzlich, Sie nun doch schon begrüßen zu können! Aber Hilfe brauche ich nicht, Arvid – danke schön! Ich lasse das Boot einfach auffahren!«

Kurz darauf geschah dies, und Arvid konnte der Prinzessin nur noch die Hand reichen. Der Bernhardiner war aus dem Boot gesprungen. Er knurrte. »Pfui, Golo! Leg' dich! So – er tut nichts!« – Arvid lachte. »Ich habe mich auch nicht gefürchtet. Ich werde mit jedem Getier fertig. Seit Afrika …« – »Ja, freilich. Aber Golo ist ganz europäisch. Sie werden nie mit ihm zu kämpfen haben.« – Arvid küßte ihr die Hand. »Ihre Freunde sind seine Freunde, nicht wahr?« – Der Hund saß jetzt gehorsam im Grase, die schönen Augen auf seine Herrin gerichtet. Arvid betrachtete Oda Marie. Es störte ihn, daß sie Schwarz trug, und doch wurden seine Sinne davon erregt, als ob es das modernste Raffinement wäre. Seltsam, wie eine lichte Blüte, wirkte der kleine Kopf zwischen dem stumpfen Dunkel des Hutes und der Bluse. Das Blond des Haares, das Braun der großen Augen, das feine, schmale Gesicht – alles hatte einen zarten Goldschimmer. War er Oda Marie immer eigen, oder verursachte ihn nur die Sonne? Arvid war an andere Prinzessinnen gewöhnt. Graf Löwenstern hatte recht. Oda Marie war eine »veritable Schönheit«. Und die Augen blickten gar nicht so ernst, wie Arvid sie sich vorgestellt hatte. Der Frohsinn des schönen Sommertages glühte in ihnen; ein Schalk mochte auch darin lauern.

Nachdem Arvid das Boot am Pflock befestigt hatte, gingen sie von Golo gefolgt, am See entlang. »Es ist wunderschön hier«, sagte der Prinz. – Oda Marie lächelte erfreut. »Ja, es ist schön. Ich möchte Ihnen alles zeigen. Lassen Sie sich nur nicht von Karl Ludwig führen – der springt immer von einem zum anderen und verwirrt einen nur.« – »Wenn Sie, liebe Cousine, mein Cicerone sein wollen, wird mir alles, was ich sehe, doppelt schön erscheinen.«

Er glaubte einen Ausspruch von erprobter Wirkung getan zu haben, bemerkte aber, daß Oda Marie still wurde. Seine letzten Worte schienen ihr nicht zu gefallen. Sie kam von einem Begräbnis. Sie lebte in romantischer Mädchenschwärmerei, die Arvid leicht verletzen konnte. Er beeilte sich, seinen Fehler gutzumachen. »Es hatte mich frappiert, Sie in Trauer zu sehen, liebe Cousine, aber ich kenne den Anlaß. Er betrifft unsere Familie glücklicherweise nicht, aber er ist ernst genug.« – Oda Marie sah ihn aufmerksam an. »Haben meine Schwestern Ihnen erzählt, warum ich nicht zur Bahn kommen konnte?« – »Gewiß. Ich hätte es freilich ebensowenig zu erwarten gewagt wie die Anwesenheit Ihrer Schwestern.« – »Warum denn? Es ist doch selbstverständlich –« – »Nach dem Zeremoniell, liebe Cousine.« – »Nach dem Gefühl, Arvid.« – »Hm … Das ist zwar sehr liebenswürdig, aber ich habe es anders in der Schule gelernt. Die männlichen Mitglieder der Familie empfangen einen männlichen Besuch auf dem Bahnhof, die weiblichen im Schlosse.« – »Kann sein, daß es so gelehrt wird. Aber man braucht es doch nicht zu befolgen?« – Arvid lachte. »Das braucht man freilich nicht. Ich gebe übrigens zu, daß unser Zeremoniell nicht nach Udde paßt. Ihr Volk hat sich auch nicht gerade überwältigend angesammelt. Bei uns in Nordstad stehen sie zu Hunderten, wenn unsereiner in einem Geschäft Einkäufe macht. Da gibt es Leute, die beim schlechtesten Wetter Hoch rufen.« – »Entbehren Sie das?« – Arvid sah Oda Marie verdutzt an – dann lachte er. »Bravo! Sie können auch boshaft sein! Hätte ich gar nicht gedacht! Nein, ich entbehre es nicht! Im Gegenteil! Ich habe die richtige Würdigung der plebejischen Neugier!« – »So mein' ich es nicht.« – »Ich sagte Ihnen schon, daß ich es hier wunderschön finde. Ich atme auf in dieser Stille. Ich bin wahrhaftig noch nicht dafür verdorben.«

Oda Marie war rot geworden. Sie kämpfte mit einer Antwort. Da ihn der natürliche Gedankengang zu verletzen schien, wurde sie unsicher. Einerseits war sie zu sehr daran gewöhnt, daß ihr Sprechen das Denken ausdrückte – anderseits flößte ihr die sonst so ferne und nun plötzlich nahe Existenz des Vetters Respekt ein. Ein Prinz aus der großen Welt – sie hatte noch nie mit einem richtig gesprochen.

Oda Marie wählte einen näheren Weg zum Schloß. Es war Zeit, vor dem Diner Toilette zu machen. Sie wollte freilich nur das Trauerkleid mit einem einfachen weißen vertauschen. »Wie geht es Ihnen jetzt, Arvid?« fragte sie plötzlich, als ob sie ihn für etwas um Verzeihung bäte. – »Sie denken an meinen Sturz? Vielen Dank für die gütige Nachfrage. Alles wieder in Ordnung. Ich soll mich nur ein bißchen erholen, spazierengehen und frische Luft schnappen.« – »Sich schonen, nicht wahr?« – »Wie man's nimmt, liebe Cousine. Für den Fall, daß Ihr Papa geeignete Pferde im Stall hat, werde ich morgen schon wieder reiten. Wenn ich nicht mehr reite kann ich mich sofort begraben lassen.« – »Glauben Sie, daß mein Vater keine geeigneten Pferde hat?« – »Na, ich kann mir's, offen gestanden, nicht vorstellen. Tüchtige Kutschen- und Arbeitsgäule gewiß – aber Reitpferde?« – »Viele haben wir freilich nicht. Ich gebe Ihnen meines – das ist das beste.« – »Ihr Damenpferdchen? Glauben Sie, daß ich Ihren Zelter zugrunde richten werde?« – »Das werden Sie doch nicht gleich? Sie sind doch ein vorzüglicher Reiter?« – »Pardon, da verstehen wir uns nicht.« – »Ich verstehe so wenig von Pferden.«

Oda Marie lachte. Arvid lachte auch, aber ohne rechte Heiterkeit. Er sah immer wieder gebannt auf eine Mädchenschönheit, die ihm seltsam, nicht heimisch erschien. Oda Maries Fröhlichkeit war im Grunde ernst. Ihre Anmut barg Härte. Ihre Nachgiebigkeit bekundete Trotz. Sie standen in der Vorhalle des Schlosses. Als ob das junge Mädchen von seinen Gedanken getroffen worden wäre, richtete sie sich in kühler Hoheit auf. Dann lächelte sie wieder und drückte dem Vetter die Hand. »Auf Wiedersehen bei Tisch!«


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