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Drittes Kapitel.

Als Arvid von Sünlund zum Diner umgekleidet wurde, meldete Graf Löwenstern mit einer gewissen Genugtuung, daß im Salon der Herzog warte. Mit bewegter Miene eilte der Prinz in den Salon. Hier stand die große und schwerfällige Gestalt des Herzogs Karl. Sein frisches Gesicht leuchtete auf, und lachend umarmte er seinen Neffen. Während er mit ihm sprach, konstatierte der im Hintergrunde bleibende Löwenstern, daß der alte Malliner doch Stil hatte. Sein massiger Leib steckte zwar in einem bürgerlichen schwarzen Rock, aber der silberne Stern seines Hausordens schmückte ihn mehr, als wenn er eine mit Orden besäte Marschallsuniform getragen hätte. Wunderlich, an einen Gutsbesitzer erinnernd, war die dunkel geblümte Sammetweste, die eine dicke Hornuhrkette trug. Auch das etwas kurz geratene Beinkleid und die breiten, blank gewichsten Stiefel muteten gar nicht herzoglich an. Aber man sah von dem allen immer wieder auf das schöne, ehrwürdige Haupt. Arvid bemerkte, daß Oda Marie ihrem Vater ähnlich war. Sie hatte die großen, schwärmerischen Augen von ihm. Die edle Feinheit ihrer Züge sah man auch in dem alten Sorgengesicht.

»Arvid, wir freuen uns,« sagte der Herzog kurzatmig, »wir freuen uns, daß du endlich da bist. Wir hatten schon lange auf dich gewartet. Aber nun komm', mein lieber Junge – du wirst Hunger haben. Mutter hat schon zweimal zu Tisch gerufen. Ich ärgere sie genügend mit meiner Unpünktlichkeit. Du sollst pünktlicher sein.«

Der Herzog faßte Arvid unter und führte ihn zum Speisesaal. Graf Löwenstern folgte mit säuerlichem Lächeln. Das klang ja wirklich, als ob Mutter in der Küche gekocht hätte und Vater und sämtliche Kinder zu Tisch riefe – sonst würde die Suppe kalt. Verständlich war dem Grafen der herzogliche Hofhalt nicht. Er glaubte an eine Koketterie mit bürgerlichen Allüren. So angenehm ihm sonst jede fürstliche Marotte war – diese konnte er nicht gutheißen.

Der Speisesaal sah freilich vornehm aus. Steife Ahnenbilder hingen an den Wänden des Gewölberaums. Farbige Feldblumensträuße standen vor jedem Platz, und das volle, grüngoldene Mittagslicht, das aus dem Park durch die Fensterwand kam, glich alle Schwere aus. Zwanglos fand sich die Tischgesellschaft zusammen.

Graf Löwenstern konnte aufatmen, denn die Herzogin Mathilde, die königliche Schwester aus Nordstad, nahm sich des Zeremoniells an. Ihre tadellosen Manieren ließen fast die sonderbare Zusammenstellung der Gäste vergessen. Doch aufgeregt blieb die Herzogin, und immer wieder warf sie ängstliche Seitenblicke auf ihren Gemahl. Diesen wiederum schien nichts auf der Welt so nervös zu machen wie die formellen Anwandlungen seiner Frau. Die Prinzessinnen vermittelten. Besonders Oda Marie placierte die Gäste mit einer Herzlichkeit, daß jede Verlegenheit wich. Arvid saß ihr gegenüber. Er glaubte konstatieren zu dürfen, daß die Begegnung am See einen guten Eindruck auf sie gemacht hatte. Vor allem mußte er sicherer werden. Es war ihm zum erstenmal geschehen, daß seine Sicherheit einer Frau gegenüber ins Wanken gekommen war. Wie kam er überhaupt dazu, sich so viel mit einem Landfräulein zu beschäftigen? Von dem er gar nicht einmal wußte, wie weit es sich für ihn interessierte? Ihm liefen alle Frauen nach. Er war Prinz Arvid, der schöne, glänzende Arvid. Paris kannte ihn besser als Nordstad. Dies schien Oda Marie nicht zu wissen. Er fürchtete solches Wissen nicht bei ihr, sondern wünschte es. Oda Marie behandelte ihn zwar nicht so schmählich »vetterlich« wie Gertrud und Elisabeth. Ueberhaupt standen die Möglichkeiten in ihr zu denen der Schwestern ungefähr in einem Verhältnis, wie englisches Vollblut zu deutschen Ackerpferden. So urteilte Arvids Kennerblick.

Aber er wollte sie um keinen Preis verwöhnen. Sie mußte »zu ihm kommen«. Deshalb gab er sich nicht unmittelbar, sondern verfolgte eine bewährte Taktik. Zuweilen fing er einen Blick von ihr auf und erwiderte ihn lächelnd, um dann gleichgültig die Reihe der Gäste entlangzublicken. Freilich konnten die seine Aufmerksamkeit nicht lange fesseln. Arvid saß neben seiner Tante, die nicht viel Unterhaltung beanspruchte. Es genügte ihr, sich bei der Suppe nach Nordstader Persönlichkeiten zu erkundigen und während der übrigen Gänge über sie nachzudenken. Die Herzogin war glücklich – sie lebte wieder einmal in der Heimat. Jakob Kadmus war Nachbar des Herzogs. Man hörte eine lakonische Unterhaltung der alten Herren; nicht über Politik sprachen sie, sondern über Bärenschinken. Graf Löwenstern hatte sich erst bei den ausgezeichneten Forellen damit abgefunden, daß er nicht an der erwarteten Familientafel, sondern an einer etwas sonderbaren Hoftafel saß. Als er sich endlich über einige Gäste beruhigt hatte, wollte er mit Oda Marie eine echte Nordstader Konversation beginnen. Aber die Prinzessin war zerstreut. Das Feuerwerk des Löwensternschen Geistes verpuffte. Oda Marie wußte kaum, daß Arvids Adjutant neben ihr saß. Außer dem Prinzen interessierte sie nur der berühmte Staatsmann Jakob Kadmus. Da sah sie endlich einmal einen der Großen, die das Schicksal eines Volkes umgestaltet hatten. Oda Marie prägte sich Jakob Kadmus' Züge ein und träumte von einem Gespräch mit ihm, an dessen Verwirklichung sie nicht glaubte.

Ihre Schwester Gertrud saß neben Pastor Thyssen, dem Seelsorger von ›Deutsch-Freiland‹. Das konnte Graf Löwenstern noch gutheißen. Prinzessin Elisabeth aber hatte einen Nachbarn, gegen den der Adjutant sich entschieden sträubte. Daß Herr Kluckhuhn Schulmeister war, indignierte ihn nicht – aber eine böse Erinnerung sagte ihm, daß dieser Mann Kolonist von ›Deutsch-Freiland‹ gewesen. Mochte er sich die Ehre, an einer herzoglichen Tafel zu sitzen, verdient haben, wie er wollte – seine Vergangenheit war sicher nicht hoffähig. Auch mit Herrn Kestner, dem Oberverwalter, war Graf Löwenstern unzufrieden, obwohl der alte Herr das Eiserne Kreuz trug. Er war ungeheuer dick und aß beängstigend viel – man hatte das Gefühl, als ob er seine Nachbarin, die Gräfin Stengel, buchstäblich zu einem Stengel zerdrückte.

Endlich, während des Bratens, entschloß sich Herzog Karl, seine Gäste zu begrüßen. Er erhob sich in plumper Behaglichkeit und sprach: »Mein lieber Arvid! Lieber Neffe! König Eriks und Königin Ortruds Sohn! Sei uns willkommen! Du bist an keinem kaiserlichen oder königlichen Hof, du machst überhaupt keine offizielle Visite – so was gibt es in Schloß Udde nicht! Du befindest dich bei Landleuten, und daß wir dich gern haben, wird dir hoffentlich mehr sein, als daß wir herzoglich sind! Wir freuen uns über deinen Besuch – das kannst du uns glauben! Wir wollen dir geben, was wir zu geben haben, und möchten dich mit einer guten Portion Gesundheit heimschicken – das ist unser Wunsch! Dein verehrter Begleiter, der Herr Ministerpräsident, will uns ja leider schon morgen wieder verlassen. Aber er hat mir eben anvertraut, daß ihm ein Tag in Udde eine Woche Karlsbad wert sei. Das möchte ich als alter Karlsbader bezweifeln, aber ich danke Jakob Kadmus mit unserem besten Willkommen dafür! Er möge versichert sein, daß er in Udde Verständnis findet! Augen, die sehen, Ohren, die hören können! Wer mich kennt, weiß: ich überhebe mich nicht! Ein Prosit auch Ihnen, Graf Löwenstern! Mit Ihrem Herrn Papa war ich als Jüngling auf der Fuchshetze! Auch kein sinnvolles Vergnügen! Aber er ist ja inzwischen russischer Gesandter geworden – da kann er seine Erfahrungen wenigstens ausnutzen! Also zum Schlusse nochmals: inniges Willkommen unseren lieben Nordstader Gästen!«

Herzog Karl stieß mit Jakob Kadmus an. Dem Grafen hatte er nur zugetrunken. Dieser war ganz fassungslos vor so vielen Verstößen. Sein Haar, so weit es noch vorhanden war, sträubte sich bei dem Gedanken, daß dieser Trinkspruch in die Zeitungen kommen könnte. Graf Löwensterns Vater und die politischen Beziehungen Nordstads zu Petersburg hineinzuziehen! Um eines billigen Scherzes willen. Und diese Kriecherei vor Jakob Kadmus! So hatte man sich den Herzog doch nicht vorgestellt! – Löwensterns Blick hing hilfesuchend an Prinz Arvid. Wie würde er antworten? War eine Antwort überhaupt noch möglich? Da sah er ihn schon aufstehen, schnell genug gefaßt: »Lieber, hochverehrter Onkel! Liebe, hochverehrte Tante!« (Er sprach sie nur verwandtschaftlich an – der Hieb war gut.) »Ich lasse das feierliche Sie der Etikette in der Anrede – meinen Dank richte ich als duzender Neffe an euch!« (Was war das? War er schon angesteckt, der geschmeidige Arvid?) »Mein Dank kommt ebenso von Herzen wie euer Willkommen! Ich bin gern in Udde und darf dies auch im Namen meiner Begleiter aussprechen! Soll ich nun noch die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Höfen von Nordstad und Udde berühren? Ich denke, das wird nicht nötig sein! Das schmeckt nach der Schablone, und die wird hier nicht geduldet! Ich beschränke mich darauf, ein dreifaches, herzliches Hoch auszubringen auf das verehrte, tapfere, gastfreie Haus Mallin!«

Arvid hatte sehr rasch, als ob er eine Attacke auf uralte Konventionen wagte, gesprochen. Nun sah er den Erfolg in Herzog Karls feuchten Augen. Auch die Herzogin war gerührt. Arvid aber blickte auf Oda Marie. Er sah eine freudige Ueberraschung in ihren Zügen. Als er ihr zutrank, nickte sie.

Nach Tisch versammelten sich die Herren im Rauchzimmer, die Damen zogen sich zurück. Graf Löwenstern hatte erwartet, daß der Herzog »Cercle« abhalten würde; als es wieder ganz anders kam, resignierte der arme Adjutant und setzte sich mit Zigarette und Chartreuse abseits in einen Lehnstuhl. Es dauerte nicht lange, so kam Prinz Arvid auf ihn zu. Der Graf wollte sich erheben, doch Arvid bedeutete ihm lächelnd, sitzenzubleiben.

»Na, Oskar, Sie scheinen ja nicht sehr glücklich zu sein?«

»Ein bißchen melancholisch, Königliche Hoheit.«

»Sie müssen Ihre Anschauungen hier modifizieren. Es geht nicht anders. Liebenswürdige und interessante Menschen sind die Malliner jedenfalls. Wenn es keine Originale mehr gäbe, wäre die Welt verdammt langweilig, Oskar.«

»Ganz gewiß, Königliche Hoheit. Es liegt mir auch fern, an unseren originellen Wirten Kritik zu üben. Königliche Hoheit wissen ja am besten, daß ich Talent dazu habe, mit den Wölfen zu heulen.«

Arvid lachte. »Na also! Warum sitzen Sie dann so demonstrativ im Schmollwinkel? Kommen Sie doch mit zu Onkel Karl und zu dem dicken Kestner – ich sage Ihnen, da lernen Sie was!«

»Solange ein entlassener Sträfling um mich herumschleicht, komme ich nicht in Stimmung.«

»Wer?«

»Ein Herr Kluckhuhn. Schulmeister ist er, glaub' ich, und ehemaliger Kolonist von ›Deutsch-Freiland‹. Man merkt ihm sein zweifelhaftes Herkommen auf hundert Schritte an. Er hatte die Unverschämtheit, mich zu fixieren. Das kann ich nicht aushalten, königliche Hoheit.«

Als ihm diese heftigen Worte entfahren waren, sah Graf Löwenstern zu seiner Ueberraschung, daß der Prinz nicht darauf einging. Unmutige Röte stieg in seine Wangen. Er ärgerte sich über Löwenstern – das war lange nicht geschehen. Mit der ihm eigentümlichen, wegwerfenden Handbewegung sagte er: »Ach, was fällt Ihnen denn ein. Bringen Sie doch keine Disharmonie in dieses Idyll. Sie dürfen die Gäste meines Onkels nicht für entlassene Sträflinge halten. Herr Kluckhuhn hat an derselben Tafel gesessen wie meine Cousine Oda Marie.«

Nach diesen Worten wandte der Prinz seinem Adjutanten den Rücken und kehrte zu Herzog Karl zurück. Der Graf sah ihm betroffen nach. Arvids letzte Worte gaben ihm den Schlüssel zu seiner sonderbaren Toleranz. Oda Marie hatte Eindruck auf ihn gemacht. Am ersten Sommertage in Udde. Graf Löwenstern kannte seinen Herrn genügend, um die epochale Bedeutung dieses Ereignisses zu fühlen. Er wußte, daß er nun eine andere Richtung einzuschlagen hatte.

Langsam erhob er sich und gab seine Absentierung auf. Mit erzwungenem Lächeln näherte er sich der Gruppe rauchender Herren, die am Fenster standen. Arvid sah ihn kommen, achtete aber nicht auf ihn. Um so freundlicher wandte sich der Herzog zu dem Grafen. »Hat man Sie mit allem bedient, Herr Graf? Kaffee, Zigarre, Schnaps? Na, schön! Wir sind hier gerade bei einem interessanten Thema – da möcht' ich meine Gäste beisammen haben! Bloß Sie haben gefehlt und Herr Kluckhuhn! Aber der hat seinen misanthropischen Tag – da muß man den armen Kerl zufrieden lassen!«

Graf Löwenstern erblaßte ein wenig bei dieser Begrüßung. Es war ihm sehr peinlich, mit Herrn Kluckhuhn in einem Atem genannt zu werden. Zum Glück befand sich der Schulmeister im Nebenzimmer und kramte in einem Bücherschrank.

Der Herzog wollte seine Worte weiter an Löwenstern richten, schien aber von der Intelligenz des Adjutanten nicht genügend gefesselt zu sein. So wandte er sich wieder zu Kadmus. »Schrader war ein seltener Mensch, Exzellenz.«

»Ich hörte schon, er ist Euer Hoheit ältester Kolonist gewesen. Uebrigens glaube ich, ihn damals gesehen zu haben. War er nicht solch graubärtiger Apostel, und fehlte ihm nicht die rechte Hand?«

»Ganz richtig. Schrader kam als Junggeselle und heiratete eine Witwe, die ich mit fünf unmündigen Kindern aufgenommen hatte.«

»Also eine echte ›Deutsch-Freiland‹-Familie?«

»Ja. Er war sehr zuverlässig. Ich machte ihn zum Kassenwart der Kolonie. Zehn Stunden hat er mit seiner linken Hand gearbeitet.«

»Wie ist er denn um die rechte gekommen, Hoheit?«

»Ja, das ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Was vermuten Sie, Exzellenz?«

»Nun, für einen Kriegsveteranen war Herr Schrader wohl nicht alt genug. Vermutlich ist er Fabrikarbeiter gewesen und in seinem Beruf verunglückt?«

Herzog Karl blickte Erich Thyssen, den Pastor von Udde, an. Der bescheidene Mann stand mit gesenktem Blick und rauchte andächtig eine herzogliche Zigarre. »Sie sind der Rechte, um Exzellenz über unseren Schrader aufzuklären,« sagte der Herzog. »Aber tun Sie's bitte nur, wenn es Ihnen richtig erscheint, lieber Pastor.«

Jetzt sah der Geistliche auf. Man bemerkte zum erstenmal, daß er sehr schöne, tiefblaue Augen hatte. Wenn er den Herzog ansah, lag treueste Ehrfurcht in seinem Blick. »Gewiß, Herr Herzog,« antwortete er. »Ich tu es jetzt gern, da Schrader nicht mehr lebt und die Geschichte seiner Hand der beste Nachruf für ihn ist.« – Prinz Arvid sah verstohlen auf seinen Adjutanten. Dieser war merklich zusammengezuckt. Was fiel dem Pastor ein? Lebte er im fünfzehnten Jahrhundert, daß er es wagte, seinen Gebieter »Herr Herzog« anzureden?

»Also, ich wäre Ihnen dankbar, Herr Pastor,« sagte Jakob Kadmus. »Erzählen Sie gütigst.«

»Das ist bald geschehen, Exzellenz.« Man setzte sich. Der etwas verlegen gewordene Geistliche kam in die Mitte und begann nach einigem Nachsinnen: »Schrader war nicht Fabrikarbeiter, wie Sie annehmen, sondern Kaufmann und hatte Gymnasialbildung. Er stammte aus den holsteinischen Marschen. Das ist der schwerste deutsche Menschenschlag. Treu und ernst, aber unbarmherzig gegen sich selbst. Ein Grübler war Schrader von Kindheit auf, ein unbeirrbarer Richter seiner Taten. Sein Unglück war der Vater, ein jähzorniger Trinker, der seine Frau vor den Augen der Kinder mißhandelte. Sehr eigenartig, aber auch gefährlich waren die Temperamente der Eltern in dem Toten gemischt. Die Sanftmut und Zuverlässigkeit seiner Mutter hatte er, denn er war eine richtige Gärtnerseele. Aber bis ins Alter hatte er auch Furcht vor seinem Zorn – es war, als ob er die eigene Natur am Zügel führte. Mich hatte er lieb und mir vertraute er alles an. Das Unglücks geschah im zwanzigsten Jahre seines Lebens. Als er eines Tages die Pein um die Mutter nicht mehr aushielt, warf sich Schrader zwischen seine Eltern und stieß den Vater zurück. Dabei kam der Vater zu Fall und zog sich eine so schwere Verletzung zu, daß er an den Folgen starb. Ein Dienstmädchen, das in Beziehungen zu dem Vater gestanden hatte, verklagte den Sohn bei Gericht. Schrader wurde zuerst des Vatermordes angeklagt – dann wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang verurteilt. Das Gefängnis brach seinen Lebensmut, obwohl er für die Mutter litt. Das vierte Gebot ließ sein grübelndes Gemüt nicht mehr los. Gebrochen verließ er das Gefängnis und ging ruhelos in der Welt umher. Er suchte Arbeit, aber er konnte nicht arbeiten. Er wollte vergessen und wurde durch jeden Vater, jeden Sohn an sich selbst erinnert. So kam er herunter. Nur dem Alkohol verfiel er nicht. Aber in einer Nervenkrisis kam ihm der entsetzliche Gedanke, den man auch mächtig nennen darf: er beschloß, sich selbst als Richter einzusetzen. Das Glied, mit dem er gesündigt hatte, sollte fallen. So ließ er sich auf einem Zimmerplatz anstellen, und in der ersten Arbeitshitze schlug er sich plötzlich mit dem Beil die rechte Hand ab.«

Jakob Kadmus runzelte die Stirn. »Ein toller Fanatiker.«

»Das war er!« rief der Herzog, wieder heiterer werdend. »Aber aus gutem Material! Dein Scharfsinn wäre an ihm kaputt gegangen, Arvid!«

Der Prinz wurde rot. Dann erwiderte er lächelnd: »Wenn er überhaupt in die Lage gekommen wäre, sich mit ihm zu messen, lieber Onkel.«

»Ja, ihr lernt solche Menschen überhaupt nicht kennen – das ist sehr schade. Nimm mir's nicht übel, lieber Junge.«

Graf Löwenstern starrte auf seinen Gebieter, als ob der Prinz jetzt für die ganze Dynastie antworten sollte.

Arvid hielt stand. »Ich lerne natürlich andere und nicht minder interessante Menschen kennen. Menschen meiner Sphäre, wenn ich das hinzufügen muß.«

Der Herzog hielt die Hand ans Ohr. »Pardon – was meinst du damit? Von der eigenen ›Sphäre‹ hat man auf die Dauer gar nichts. Besonders ein Fürst muß heutzutage seine Sphäre immer mehr erweitern.«

»Indem er sich herabläßt oder herabsetzt?«

»Sagen wir, zu sich hinaufzieht – aber nur, wenn es sich um ein ›Hinauf‹ handelt.«

»Die Ansichten darüber sind in Udde und Nordstad sehr verschieden, Hoheit,« sagte Jakob Kadmus gleichsam warnend.

Herzog Karl nickte und warf dem alten Staatsmann einen heiteren Blick zu. »Das sind sie! Fällt mir auch gar nicht ein, unlogische Ansprüche zu stellen! Darüber kam ich schon in Deutschland hinaus! Meine Verwandten halten mich hier Gott sei Dank nicht mehr für einen Verbrecher, sondern nur für einen Narren!«

Das verlegene Schweigen nach diesem Geständnis hielt eine Weile an. Dann dachte Arvid an Oda Marie und glaubte einlenken zu müssen. »Ich bitte dich, mich nicht mißzuverstehen, lieber Onkel. Ich weiß, wo ich mich befinde, und es ist durchaus nicht meine Absicht, um das Eigentliche deiner Besitzung herumzugehen. Im Gegenteil, ich wollte dich bitten, mir nach deinem Ermessen alles zu zeigen. Es tut mir aufrichtig leid, Herrn Schrader nicht mehr kennengelernt zu haben. Den mutigen Charakter hätte ich selbstverständlich nicht verkannt.«

Graf Löwenstern nickte. Herzog Karl aber sah seinen Neffen mit nachdenklicher Ironie an. »Lieber Junge, hältst du denn die Selbstverstümmelung für Schraders Mut? Du denkst gewiß an Mucius Scaevola – Hans Schrader war unser Zeitgenosse. Mutig war er, als er, mit Vater und Mutter versöhnt, als ehrlicher Mann starb. Aber es freut mich, daß du Interesse für ›Deutsch-Freiland‹ hast. Ich kriege viele Besuche, doch noch nie ist es vorgekommen, daß ein König mir seinen Sohn geschickt hat. Und das wären mir schließlich die liebsten Besuche. Exzellenz Kadmus lächelt? Ich weiß, was Sie denken. Meinem Schwager ist es auch nicht eingefallen, mir seinen Sohn nach ›Deutsch-Freiland‹ zu schicken. Prinz Arvid soll in Udde Ruhe und gute Luft haben. Wenn's anders wäre, hätte er den Kronprinzen geschickt. Nimm mir meine Offenheit nicht übel, lieber Junge – du bist mir ebenso willkommen wie Johann. Aber eines laß dir von vornherein gesagt sein: mir sind die praktischen Lehren lieber als die theoretischen.«

Arvid neigte seinen blonden, etwas dünn behaarten Kopf. »Ich danke dir ergebenst, lieber Onkel. Ich halte es auch mit der Praxis. Wann darf ich erwarten, deine Kolonie kennenzulernen?«

»Wenn du Lust hast, sofort.«

»Herzlich gern. Eines freilich fällt mir noch ein –«

»Nun, was denn, mein Junge?«

»Oda Marie wollte die Güte haben, mich durch ›Deutsch-Freiland‹ zu führen. Ich möchte doch nicht ohne sie –«

Herzog Karl lachte. »Das läßt sich das Mädel nicht nehmen! Aber die treffen wir drüben – sei unbesorgt! Also, gehen wir. Sie kommen doch mit, Exzellenz? Und Sie, Graf Löwenstern?«

Der Adjutant blickte steif auf den Prinzen. »Ich erwarte den Befehl seiner königlichen Hoheit.«

Arvid sah den Getreuen aus Nordstad wieder etwas ärgerlich an. »Sie können Ihr Mittagsschläfchen halten, Löwenstern.«


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