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Siebzehntes Kapitel.

Oda Marie blieb nur wenige Tage in Udde. Sie wollte sich entschlossen zeigen und nahm Abschied. Aber auch in Nordstad hielt es sie nicht lange. Bevor es Winter wurde, reiste sie ins Wallaland hinauf. Sie fand ihre Kinder bei Gertrud v. Adlersfeld gesund, aber in einer gewissen Verwilderung. Erik jagte auf einem Pony eine Gänseherde, und Marie Mathilde saß zwischen schwatzenden Mägden in der Gesindestube. Die Schloßherrin kam eben von der Jagd zurück. Sie bemerkte, daß Oda Maries Wiedersehensfreude gedämpft war. »Das geht hier nicht anders!« rief sie heiter, indem sie ihr Gewehr auf den Eichentisch der Halle legte. »Erik kann mir ruhig ein paar Gänse zu Tode hetzen, wenn er nur reiten lernt! Uebrigens erfährt Marie Mathilde von unseren Leuten nichts Schlechtes!« – Oda Marie sah ernst in das gebräunte Gesicht ihrer Freundin. »Ich sehe jedenfalls, daß die Kinder kräftiger geworden sind – dafür bin ich dir dankbar, Gertrud.« – »Keine Ursache! Im Gegenteil! Ich habe dir zu danken! Durch die Kinder kam hier immer ein bißchen Leben hinein! Sonst ist es doch oft zu einsam!« – Oda Marie fürchtete, Gertrud durch die Mitteilung, die sie ihr zu machen hatte, wehzutun, aber sie mußte sich dazu entschließen. »Nun will ich es selbst versuchen, Gertrud. Nun hast du deinen Freundschaftsdienst beendet. Ich bin gekommen, um die Kinder nach Nordstad mitzunehmen.« – Gertrud sah sie erschrocken an. »Wahrhaftig? Wie bist du denn darauf gekommen? Hier haben es die Kinder doch viel besser als in Nordstad?« – »Ja, Gertrud – aber ich bin ihre Mutter.« – »Gewiß … Was hast du denn mit ihnen vor?« – »Ich will mich ganz ihrer Erziehung widmen. Ich trete vorläufig von allen sozialen Aufgaben zurück. Ich will vor allen Dingen Mutter sein.« – »Hm … Das kann ich dir nachfühlen. Aber …« – »Woran zweifelst du, Gertrud? Bin ich nicht zu derselben Pflicht berufen wie jede arme Frau aus dem Volk? Liegt darin nicht zuletzt das ganze Glück?« –

Die Kinder hatten große Freude an ihrer Mutter. Aber Oda Marie wußte nicht, ob ihre Person der Grund war oder die Neuerung, die sie brachte. Eine tragikomische Enttäuschung machten die Freundinnen durch. Gertrud fürchtete, daß die Kinder nicht zum Abschied zu bewegen sein würden – Oda Marie bangte davor, den kleinen Wildfängen eine Uebersiedelung in die Stadt zuzumuten. Man hätte nicht so lange zu überlegen brauchen. Erik und Marie Mathilde waren höchst erfreut, als es hieß, daß die Mutter sie nach Nordstad mitnehmen wollte. Sie kannten nun hier schon alles – Frühling und Herbst, Sommer und Winter. Eine große Abwechslung tat not. Außerdem waren sie auch älter geworden. In ihren kleinen Köpfen spukte es schon von Glanz und Macht – sie wußten von den Dienstboten, daß sie Auserwählte im Lande waren. Wenn Erik König spielte, knallte er mit seiner Peitsche grausam über Hühner und Gänse hin. Wenn Marie Mathilde sich als Prinzessin im Nordstader Schloß dachte, aß ihre Phantasie den ganzen Tag Leckereien. Bald war sie mit dem Präsidenten von Amerika, bald mit dem Kaiser von China verlobt. Sie sagten also beide freudig ja, als die Mutter so zaghaft gefragt hatte. Jetzt erst wurde Gertrud v. Adlersfeld traurig, und Oda Marie wußte nicht, ob sie sich wirklich freuen sollte. –

Als die Kronprinzessin mit ihren Kindern nach Nordstad kam, ging eine Bewegung durch das Volk, als ob man ihr huldigen wollte. Aber Oda Marie hütete sich vor dem bunten Trugbild. Sie führte die Kinder rasch in das Schloß und ließ sie wenig sichtbar werden. Wie eine Seelenärztin behielt sie die kleinen Patienten den ganzen Tag bei sich. Bald wurde sie ruhiger, denn sie glaubte, ein viel besseres Material zu finden, als Gertrud v. Adlersfeld sie hatte vermuten lassen. Die innere Scheu der Kinder, die etwas Schmerzliches und Rührendes hatte, mußte erst überwunden werden. Oda Marie gab sich selbst die Schuld daran, daß eine Mauer zwischen ihr und den kleinen Herzen stand. Erik und Marie Mathilde hatten die Mutter von sich forttrachten gesehen, in ein unbekanntes Land. Wie konnten sie jetzt so schnell begreifen, daß sie ihr Glück sein sollten?

Oda Maries Stimmung hob sich allmählich. In diesen Tagen erreichte sie ein Brief aus Palästina, der Gruß einer Seele, die noch immer in ihr lebte, wenn sie auch nie wieder zu ihr gesprochen hatte. Alexander Panadelphos schrieb an Oda Marie. Aus Jerusalem kam sein Brief:

»Ich habe von Schlachten und Siegen geträumt, als ich Sie verließ. Dann mußte ich einsehen, daß meine Opferbereitschaft kein unzeitgemäßer Heroismus war, sondern allzu zeitgemäße Verzweiflung. Ich hocke nicht länger auf staubigen Trümmern. Die Tage, da Lord Byron, mit dem ich so oft verwandt gefühlt, bei Missolonghi gefallen, sind längst vorüber. Was heute über Krieg und Frieden entscheidet, sind Diplomatenkniffe, Industriewerte. Jakob Kadmus versteht es, mit dem Schwerte zu rasseln, bis das Geld in seinen Kasten rasselt. Für solche ›Größe‹ kann ich mich nicht opfern. Noch einmal fand ich mich als Dichter. Bin ich einer, so will ich auch als Dichter untergehen.

Ich sehe die Stätten, von denen Sie mir so oft erzählt haben. Heute schreibe ich Ihnen, nachdem ich vom Oelberg zurückgekommen bin. Heute muß ich Ihnen schreiben. Ich weiß nicht, wie Sie leben, ich weiß nicht, wo Sie sind. Aber ich trage Ihr Bild in mir, wie ich Sie zuletzt gesehen habe. Es ist doch das Größte, was ich mir gewonnen habe, das Bewußtsein: Es gibt eine Frau auf Erden wie Sie. Eine Königin und ein Mensch. Ein Kind und eine wunderschöne Frau. Darf ich Ihnen jetzt sagen, daß ich Sie liebe? Ich erschrecke nicht vor dem Wort. Es kommt ganz leicht und selbstverständlich aus meiner Feder. Es ist die Liebe, die ich empfinden soll, und das ist immer auch die Liebe, die man empfinden darf.

Erschrecken auch Sie nicht! Es ist ja nur ein Blatt, das Sie in Ihren Händen halten, aus der Ferne zu Ihnen geflattert. Ich werde Sie nicht wiedersehen – das weiß ich unerschütterlich. Nun kann ich mich in dem Abend, der mir noch bleiben mag, mit jenem Frieden umschauen, den das Leben braucht, wenn die Kunst in all ihrer Macht erblühen soll.

Der Himmel, unter dem ich jetzt lebe, hat über dem höchsten Urbild der Menschheit geleuchtet. Ihn versuche ich zu gestalten mit meiner letzten Kraft. Davon will ich leben, daran will ich sterben. Seine Lehre und seinen Tod dichtet meine dramatische Legende. Zu keiner Zeit haben Künstler etwas Besseres wollen können. Ich dringe nicht in den höchsten Kreis – ich will mich erst legitimieren. Dann kommt eine andere Welt. Aus dieser möge Sie noch ein Werk erreichen. Bitte, sagen Sie mir auch etwas von Ihrem Ergebnis. Ich bleibe für immer Ihr Alexander Panadelphos.« –

Oda Marie antwortete ihm bald. »Nun habe ich Sie wie in einem gerahmten Bilde – ich danke Ihnen dafür. Wir dürfen nicht zerflattern – wir müssen klar werden und uns finden. Von Ihnen habe ich es längst erwartet, denn Sie sind im Grunde stark. Bei mir ist es jetzt erst dazu gekommen. Ich habe meine Kinder von Gertrud Adlersfeld geholt und lebe für meine Kinder. Wo, ist mir gleich – es kann auch Nordstad sein. Arvid ist viel auf Reisen – er überläßt mir die Kinder. Sie sind das Band, das zwischen uns besteht, zwischen uns als Menschen, wenn Mann und Frau längst nicht mehr da sind.

Nichts ist so fest, wie mit sieben Siegeln verschlossen, wie die Seele eines Kindes. Aber wenn ich den Schlüssel nicht finden könnte, wäre ich nicht wert, Mutter zu sein. Ich finde ihn. Ich bin eine lebhafte, tätige und, wenn es sein muß, auch fröhliche Person geworden. Sie würden mich nicht wiedererkennen. Wie Sie mit Ihrer Dichtung ringen, ringe ich damit, das Vertrauen meiner Kinder zu gewinnen. Sie haben viel versäumt – ich auch. Aber es muß uns beiden gelingen. Dichten sie Ihren Christus – ich will erreichen, daß meine Kinder nicht einschlafen können, bevor ich sie geküßt habe. Wir müssen das Leben zwischen Ernst und Spiel halten. Wir müssen uns dem Leben unentbehrlich machen. Es ist mir ebenso wichtig, daß meine Kinder mich als Spielkameraden brauchen, wie daß ich in ihren Herzen Mitleid mit den Schwachen und vornehme Gesinnung wecke. Wir werden Freunde. Das ist ein unermeßliches Glück. Die kleinen Seelen wissen nicht, wie ich auf sie wirke, und darum eben ist es eine Wirkung. Ich umgebe sie nur mit Schönheit. Ich lehre sie bei jeder Kleinigkeit sehen und hören. Ihr ganzes Gefühlsleben muß ein mir vertrautes Instrument sein. Heute hatte ich die große Freude, daß Marie Mathilde eine Mozart-Sonate noch einmal hören wollte. Erik hat gestern aus freien Stücken einen blinden Bettler beschenkt.

Das Volk? – Das rauscht so fern! Mir ist, als ob ich es nie gesucht hätte. Vielleicht wissen wir, wenn wir ehrlich sind, gar nichts vom Volk. Jedenfalls wissen wir erst dann etwas davon, wenn wir unsere Kinder kennen.

Ich freue mich im Innersten auf Ihr Werk. Indem ich schon meine beiden Hände darauf lege, sage ich Ihnen, daß ich Sie liebe, Alexander Panadelphos. Jetzt ist es auch mir erst ein klares, durchleuchtetes Gefühl. Ich werde Sie nie vergessen. Ihre Schwester Oda Marie.«

*

In dem Nordstader Schloß waren die Wege, die ein Werdender gehen sollte, fest gezeichnet. Oda Marie fürchtete hier von jedem Menschen, daß er falsche Steine in ihren Bau tragen könnte. Gertrud v. Adlersfeld hatte recht: man hatte keinen Sinn für bewußte Erziehung. Die Liebe blieb ein Spiel, der Ernst ein Deckmantel. Man verwöhnte mit seelischer Unverschämtheit die Kinder des Kronprinzen. Wenn Oda Marie ihr Veto einlegte, so galt sie als Freudenstörerin. Ein kleiner Prinz und eine kleine Prinzessin hatten so und so zu leben, zu lernen, gekleidet zu sein. Vom König bis zum Stallburschen hielt man an hohlen Traditionen fest. Das Kindische aber war es, wonach Kinder am liebsten griffen – Oda Marie mußte auf ihrer Hut sein.

Wenn sie nicht ihr letztes Fiasko erleben wollte, blieb ihr nur übrig, mit ihrer Aufgabe allein zu sein. Königin Ortrud, die sich plötzlich als liebevolle Großmutter entpuppte, um der Mutter entgegenwirken zu können, war nicht fähig, Oda Maries Entschluß zu ändern. Vergebens beriet sie mit ihren Getreuen. Weder Bischof Jonas noch Kaplan Schönwetter wußte das »Recht des Landes« gegen das Mutterrecht durchzusetzen. Oda Marie verbrach ja nichts an dem kleinen Thronfolger. Sie wollte weiter nichts, als ihn ans Meer mitnehmen, ihn und sein Schwesterchen.

Oda Marie erfuhr, daß die Königin ihren Widerstand aufgegeben hatte. Auch Arvid, der den Frühling in Paris verlebte, erklärte sich mit dem Uebersiedelungsplan einverstanden. Aber er riet plötzlich zur Sparsamkeit und wünschte, daß Oda Marie wieder das Schloß im Wallalande bezöge, weil es so viel Geld gekostet habe. Er fürchtete, daß sie den Bau eines neuen Schlosses verlangte, und wollte sich dagegen wehren, denn er hatte in Paris große Spielverluste erlitten. Auch ging er eben mit dem Plan um, einer reizenden Pariser Schauspielerin ein Rokokoschlößchen bei Fontainebleau zu bauen. Oskar Löwenstern, der ihn nach Paris begleitet hatte, machte sich aufs neue um seinen Herrn verdient. Er weckte Arvids Sparsamkeit. Aber die Befürchtungen der beiden Männer wurden von Oda Marie zerstreut. Sie teilte Arvid mit, daß sie überhaupt an kein neues Schloß denke und das im Wallalande verkaufen wolle. Sie sei an der Westküste gewesen und habe dort ein altes Fischerhaus entdeckt, sehr schön und geräumig. Solches Haus entspreche vollkommen ihren Wünschen. Sie und die Kinder könnten nirgends besser aufgehoben sein. Ihr »Gefolge«, nach dem Arvid gefragt, bestehe wieder aus der Baronesse Adams, der Zofe Sophie und Herrn Gottlieb Bengt, dem neuen Lehrer der Kinder.

Arvid erklärte sich einverstanden. Er bezahlte das Rokokoschloß der Schauspielerin mit dem Erlös aus dem Schlosse Oda Maries. Eine Bedingung stellte er noch: daß Dr. Pelle Kroß die Kinder jede Woche einmal besuchen solle. Er müsse auch immer telephonisch erreichbar sein. Oda Marie stimmte zu: sie sah in Arvids Bedingung eine väterliche Zärtlichkeit, die ihr wichtiger war als jeder Liebesbeweis für ihre Person.

Herr Gottlieb Bengt, der neue Lehrer der Kinder, stammte von der Westküste, an die Oda Marie übersiedeln wollte. Er hatte der Kronprinzessin diesen Rat gegeben. Gottlieb Bengt besaß einen Charakter, der von dem der Nordstader völlig verschieden war. Er hatte nicht die hellen, heiteren Augen, nicht die roten, runden Wagen und das blonde, weiche Haar. Er war ein herber, hagerer und dunkler Mensch. Man sah ihm den armen Fischerssohn an. Man spürte auch, daß Gottlieb Bengt lange in Amerika gelebt hatte, denn er besaß das versteint lebendige Wesen eines Mannes, der sich drüben durchgesetzt. Der Kronprinzessin war er von einem bedeutenden Gelehrten in Nordstad empfohlen worden.

Es stellte sich zunächst heraus, daß Gottlieb Bengt recht gehabt, als er sein Heimatdorf empfohlen hatte. Keine Provinz des Reiches pflegte eine so wahre Verehrung der Kronprinzessin, wie die Küste der armen Heringsfischer. Diese Leute hatten in ihren Häuschen außer dem Kruzifix einen billigen Oeldruck Oda Maries. Sie waren halbe Deutsche – das machte etwas aus. Aber sie fühlten auch ganz unpolitisch, daß ein ringender Mensch in der fürstlichen Frau lebte. Doch die Alten waren leichter zu erkennen als die Jungen. Der Ortsvorsteher, ein hoher, wetterharter Greis mit weißem Rundbart, war Bengts Vater. Sie ähnelten sich, aber der Alte hatte kein Amerika in der Seele. Er war fromm und eng, er lebte ein großes, stilles Leben – ebensolches Sterben mußte einst zu ihm kommen. Oda Marie blickte unentschlossen von dem Vater auf den Sohn. Wo offenbarte sich die Volkskraft, die sie suchte? Zeiten und Generationen reichten sich die Hand. Jedenfalls war hier eine mächtige Kraft vorhanden, die in Nordstad fehlte.

Das Meer war im Frühling noch stürmisch, die Abende blieben kalt. Man mußte am offenen Herdfeuer sitzen, wenn man wie ein Segel durchweht vom Strande kam. Die arme Baronesse Adams verstummte ganz und wickelte sich in sämtliche Mäntel, die sie mitgenommen hatte. Auch die Kinder zitterten in dem gewaltigen Ansturm wie blasse Pflänzchen auf einem Felsenvorsprung. Aber sie hingen leidenschaftlich an Gottlieb Bengt – der Mutter entglitten sie wieder. Sie liebten sie nur noch wie eine große Schwester. Daß sie bei allem mittat, weit hinausschwamm, ruderte, am Strande kleine Fische briet – das alles gefiel den Kindern. Aber schon hörten sie ihre Erzählungen abends nicht mehr gern. Sie erzählte Märchen. Was sollten ihnen jetzt Märchen? Gottlieb Bengt wußte andere Geschichten. Der war bei den Cowboys gewesen in Amerika, der hatte wilde Pferde mit dem Lasso eingefangen. Ein halbes Jahr hatte er unter Indianern gelebt, unter richtigen Indianern, und die Geschichte von dem schrecklichen Büffel, dem Gottlieb Bengt in der Prärie allein gegenübergestanden, vergaßen die Kinder nicht. Oda Marie ging es allmählich ebenso wie ihnen. Sie hörte auch bewundernd zu. Sie fühlte sich plötzlich aus einer blassen Ideenwelt gekommen, untüchtig, verträumt. Jetzt begriff sie vieles, woran sie einst gescheitert war. Zuweilen glaubte sie sogar ein neues, nie gesehenes Bild von Arvid zu erblicken …

Diese Erkenntnis, die sie im Innersten wankend machte, trieb sie oft stundenlang allein ans Meer hinaus. Das Meer verstand ihr Leid, ohne daß sie es auszusprechen brauchte. So sichtbar herrlich, unbegreiflich war das Leben. Vielleicht nur nicht das Leben einer Frau.

Ein wunderlich schmerzendes Wirrsal umfing Oda Marie. Sie hatte einst so klar und scharf zu denken gewußt. Jetzt fluteten die Mächte ihres Daseins ineinander. Am Meere wurde alles zum Meer. Einst hatte sie um Arvid, um das Volk gekämpft. Jetzt wurde ihr die Macht über ihre Kinder zweifelhaft. Sie war eine Frau. Warum hatte sie sich so »männlich« täuschen lassen? War sie es nicht, die das Glück von sich stieß? War sie es nicht, die um alles ringen mußte, was ihr schon gehört hatte?

Sie stand wie ein steinernes Bild am Meer; das dünne, weiße Gewand flatterte an ihrem schmalen Körper wie ein Segel. Sie war müde und zugleich so wach. Ihre weit geöffneten Augen sogen sich an der dunklen, uferlosen Ferne fest. Sie glaubte ihr Lebenswerk hierher getragen und plötzlich verloren zu haben. Nun flog es in den Sturm hinaus oder lag vielleicht zerbrochen zwischen den Atomen des Sandes. Ihre schwellende Brust dehnte sich. Ihr vereinsamter Schoß ersehnte den Titanen. Dann erschauerte sie plötzlich und wandte sich ab. Sie mußte ins Haus zurück, zu ihren Kindern. Sie mußte den Geschichten Gottlieb Bengts lauschen.

Heute sprach er nicht von Fahrten und Abenteuern. Die Kinder waren enttäuscht. Sie spielten in einem Winkel mit Muscheln. Oda Marie saß neben Gottlieb Bengt am flackernden Feuer. – »Haben Sie das Buch von Alexander Panadelphos gelesen?« fragte sie ihn. – Er lächelte verlegen. »Wenn Sie mich fragen – ja, Frau Kronprinzessin.« – »Sie haben mir nichts darüber gesagt. Es hat Ihnen gewiß nicht gefallen?« – »Offen gestanden – es hat mir nicht gefallen, Frau Kronprinzessin.« – »Sie sind wohl zu verschieden von dem Dichter.« – »Das mag sein. Dafür danke ich Gott.« – »Warum? Ich hatte gedacht, daß auch Sie dieses Buch lieben würden. Es zeigt doch so viel Anbetung für den großen, heroischen Geist. Es glaubt doch so fest an eine höhere Bestimmung des Menschen.« – »Tut es das? Vielleicht. Aber was nützt uns das? Wozu druckt man solche Bücher? Herr Panadelphos erfindet ein Leben, er teilt uns Gedanken mit, die nicht bewiesen sind. Das hat gar keinen Wert. Das verwirrt einen nur.« – »Sie sind Amerikaner, Herr Bengt.« – »Nein, Frau Kronprinzessin! Ich bin ein Europäer und fühle, daß solche Bücher auch in Europa keinen Wert mehr haben. Sie sind nämlich unlogisch. Ihre Tendenz ist falsch.« – »Dichtungen haben niemals eine Tendenz.« – »Doch, doch! Die Tendenz ist eben ihr Dichter. Der fordert zur Gefolgschaft auf. Ich bitte Sie, denken Sie doch an Goethe! Goethe war gewiß ein schöner, normaler Mensch. Der durfte so viel erfinden und schwärmen, weil er mit beiden Füßen auf der Erde stand. Ich kenne Herrn Panadelphos nicht, aber ich wette, daß er krank ist oder unglücklich. Seine Begeisterung ist Sehnsucht. Sein Glaube schielt nach dem Himmel. Er macht sich selbst etwas vor.«

Gottlieb Bengt bemerkte, daß seine Herrin traurig wurde. Ihr schönes Antlitz war fahl und alt. Sie fröstelte am warmen Feuer. Da lenkte er rasch ein: »Ich verstehe übrigens nichts von Kunst. Ich will überhaupt keine Kunst. Ich glaube ans Leben.« – Oda Marie zog den seidenen Schal fest um ihre schmalen Schultern. Dann erwiderte sie mit erschöpfter Stimme: »Geben Sie mir das Buch zurück! Mir ist es jedenfalls lieb. Es war der Grund, daß ich Panadelphos ernst zu mir gerufen habe. Er hat mich mit der verbannten Königin gemeint, Herr Bengt.« – »Er hat Sie gemeint, ja – aber er hat Sie nicht geschildert.« – »Sie hätten mich wohl anders geschildert, nicht wahr?« antwortete Oda Marie, indem sie ihre Füße, Wärme suchend, dem Feuer näherte. »Aber Sie sind kein Dichter.« – »Gott sei Dank!«

Die Kinder ließen ihre Muscheln fallen und kamen heran. »Mama! Laß doch den Herrn Bengt wieder erzählen! Herr Bengt hat eine Geschichte vom Sioux-Häuptling angefangen, der von einem elektrischen Strom getroffen worden ist! Das war so lustig! Erzählen Sie doch weiter, Herr Bengt!« – Oda Marie fühlte sich wieder beiseite geschoben. Es traf sie wie ein kalter Strahl, aber sie gehorchte. Auch sie wollte von dem Sioux-Häuptling hören. Er war durch den elektrischen Strom getötet worden, stellte sich bald heraus. Die Kinder fanden die Geschichte trotzdem lustig.

Erst als Bengt geendet hatte, wandte sich Oda Marie noch einmal zu ihm: »Glauben Sie nicht an den großen Menschen der Zukunft? An den gegenwärtigen kann man doch nicht glauben.« – »Er ist der einzige, an den ich glaube, Frau Kronprinzessin. Nur die Gegenwart zeigt uns, was Größe ist. Wir können uns nur in dem Leben bewähren, das wir erleben.« – »Aber wir scheitern doch an ihm. Sind nicht gerade die Besten gescheitert?« – »Trotzdem! Man muß das Positive sehen. Auf das, was überhaupt empor will. Wenn wir hundert Verbrecher haben, haben wir auch tausend Arbeiter. Die Kirche ist ein notwendiges Uebel, aber die Industrie ist grandios.« – »Die Industrie dient dem Kapitalismus.« – »Ach, jeder will ja Kapitalist werden. Im Grunde ist es gar kein idealer Wettkampf, sondern ein praktischer.« – »Glauben Sie denn … Aber ich will nicht weiter fragen. Sagen Sie mir nur, Herr Bengt, ob Sie auch mich für gescheitert halten?« – »Nein, Frau Kronprinzessin! Das tu' ich nicht. Sie haben sich aber nicht durchgesetzt, weil Sie es nicht wollten. Weil Sie immer nur suchten und fragten. So sind die Deutschen. Ich sehe Sie vor mir als eine Frau, die alles besitzt und nichts genießt.« Ein wehes Lächeln kam auf das bleiche Antlitz Oda Maries. Sie blickte scheu auf ihre Kinder. Die aber sahen sie mit einem Ausdruck an, als ob sie Gottlieb Bengt recht gäben.

*

Am nächsten Morgen drehte sich der Wind. Rauher Nordwest kam vom Meer her. Da verbot Oda Marie den Kindern, zu baden. Sie weinten und trotzten – als sie aber der Mutter entwischt waren, konnte auch Gottlieb Bengt sie nicht halten. Sie lief ins kalte Toben hinaus. Endlich brachte der Lehrer sie zurück. Er beruhigte Oda Marie – wenn der Wille in den Kindern so stark sei, könnten sie keinen Schaden erleiden. Nach dem Mittagessen aber fieberten die Kinder. Ihren schwachen Körpern war zu viel zugemutet worden, sie schienen ernstlich krank zu sein. Da rief die geängstigte Mutter den Dr. Pelle Kroß. Er kam und machte Gottlieb Bengt Vorwürfe. Fast gerieten die Männer aneinander. Oda Marie vermittelte; die Vorschriften des Arztes wurden genau befolgt. Dies war aber nur möglich, bevor die Kinder verstanden hatten, um was es sich handelte. Sie sollten nicht mehr baden, nicht mehr rudern und barfuß laufen, solange der Nordwestwind wehte. Vermummte, kränkliche Großstadtgeschöpfe waren sie wieder. Da jammerten sie und haßten den Dr. Pelle Kroß. Bengt wußte ihnen nicht zu helfen. Oda Marie aber kämpfte nun wieder um die kleinen Seelen. Doch was war jetzt der Ersatz, den sie ihnen brachte? Fürs Baden, fürs Rudern und Muschelnsammeln am Strand? Märchen wagte sie nicht mehr zu erzählen – da holte sie die Schönheit ihrer Dichter herbei. Aber auch vor denen blieben die Kinder stumpf. Schließlich versuchte Oda Marie es mit ihrer letzten Waffe, mit Musik. Doch wenn sie am Klavier saß, seufzten die Kinder: »Nicht doch, Mutti! Wir wollen schlafen.«

In Erik war das Beste geknickt. Die Mutter fühlte es. Er hatte plötzlich seine Grenze gesehen – er ahnte nun, was er geerbt hatte. Stumm saß er im Lehnstuhl, und seine Augen bekamen den Ausdruck, den Oda Marie in ihren traurigsten Stunden hatte. Er starrte aufs Meer hinaus, als ob von dort etwas Unmögliches kommen müßte. Nicht aufzurütteln war sein müder Geist. Plötzlich lehnte er sich an die Mutter und fragte sie zum erstenmal: »Wo ist Papa?« Er mußte einen furchtbaren Zusammenhang ahnen. Er fragte, als ob er schon wüßte, daß er für immer gefesselt war.

Gottlieb Bengt wich dem verstörten Blick der Mutter aus. Mit harter Miene trat er vor das Haus, als wollte er sich erkundigen, ob der Wind sich drehen würde. Da ging Oda Marie zu ihrer Tochter. Marie Mathilde fieberte noch, aber sie war besser gelaunt als Erik. Sie spielte an einer Waschschüssel. In der Schüssel befand sich Seewasser, worin das Kind kleine, schimmernde Fische verwahrte. Gottlieb Bengt hatte sie ihr zwischen den Klippen gefangen. Oda Marie freute sich an diesem Spiel. So konnte Marie Mathilde doch das Meer auch in der Stube genießen. Als die Mutter sich ihr näherte, bemerkte sie aber erschrocken, daß kein Wasser in der Schüssel war. Die Fische befanden sich trotzdem darin. Sie lagen zappelnd auf dem Trockenen, und Marie Mathilde sah ihren Qualen lächelnd zu. – »Aber, Tildchen! Was tust du denn da? Die armen Fischchen verdursten ja! Warum hast du denn das ganze Wasser fortgegossen?« – »Weil ich mal sehen wollte, wie lange sie es aushalten, Mama!« – »Pfui, Tildchen! Das darfst du doch nicht! Das ist grausam! Das ist ganz schrecklich für die armen Fischchen! Sieh doch nur, wie sie zappeln und sich quälen! Das eine ist bald tot! Gib ihnen augenblicklich Wasser!« – Marie Mathilde stampfte mit dem Fuß auf. »Nein!« – »Warum nicht?« – »Ich darf auch nicht baden!« – Oda Marie starrte ihre Tochter an. Das hübsche Gesichtchen hatte in diesem Augenblick einen furchtbaren Ausdruck. Irgend etwas von letzter Rache war darin und von der Grausamkeit eines Despoten, der vor Jahrhunderten nackte Bauern gepeitscht hatte. Oda Marie wandte sich von ihrer Tochter ab. Die ganze Welt drehte sich ihr – es rief sie plötzlich hinaus mit langhin hallender Stimme. Indem ihr Blick noch einmal Erik streifte, der wie ein altes Männchen verstummt im Lehnstuhl hockte, trat sie mit ihren toten Füßen vor das Haus. Dort tobte noch immer der Nordwest. Dort traf sie Gottlieb Bengt, der eine Frage an sie richtete: »Wohin gehen Sie, Frau Kronprinzessin?« – Sie antwortete: »Ich will noch ein wenig wandern! Das Grauen muß fort!« Die letzten Worte verstand der Lehrer im Windessausen nicht mehr.

Oda Marie ging zum Strande hinunter. Dort lag ein Fischerboot. Es war nur klein und hatte seinen Anker aus dem Schlamm gerissen. Was wollte Oda Marie in dem Boot? Sie wußte es nicht. Sie spürte nur, daß sie plötzlich darin saß, die Ruder ergriff und ins Unendliche hinausfuhr. Auch jetzt kam sie mit ihrer Frauenkraft nicht weit. An hundert Meter etwa – dann warf die Brandung ihr Boot an einen Felsblock. Immer wieder stieß das kleine Fahrzeug an den Granit, immer wieder wurde es von der Flut zurückgezogen. Dann zerschellte es. Ein Frauenkörper trieb zwischen den Planken. Ruhig war sein bleiches Antlitz, über das ein schmaler Blutstreif lief. Oda Marie gehörte nun dem Meere. Sie schwamm umher, bis die Männer vom Lande kamen und holten, was dem Lande gehörte.


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