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Siebentes Kapitel.

Arvids Aufenthalt in Udde dehnte sich über die beabsichtigte Zeit aus. Der Prinz setzte seinen königlichen Eltern in Nordstad die Heilsamkeit dieser Wochen auseinander, ohne zu ahnen, daß Oskar Löwenstern schon den besten Boden für ihre Zustimmung geschaffen hatte. Wie man in Nordstad Arvids Briefe las, wußte der sonst so Scharfsichtige nicht. Im Banne Oda Maries konnte er nicht darauf kommen, daß Selma Löwenstern an Frau Sörensen, die Kammerfrau der Königin, berichtete, und daß von dieser frommen Intrigantin alles über die Gräfin Kühlhorn-Wetterstein zu Bischof Jonas kam. Der Bischof aber galt bei der Königin, was Jakob Kadmus beim König galt. Arvid nannte man in Nordstad schon verlobt, als er noch mit der ganzen Last des Unausgesprochenen neben Oda Marie herschritt. Er konnte sich der Prinzessin nicht erklären. Sonst hatte ihm nie das rechte Wort vor Frauen gefehlt – vor dieser blieb er stumm.

Dennoch wurde ihr Wesen ihm gegenüber von Tag zu Tag herzlicher. Er zweifelte oft, ob sie sich einem Manne überhaupt anders zeigen konnte als kameradschaftlich. Sie war in aller Züchtigkeit frei, sie hatte nicht die Hemmungen einer von Eltern »behüteten« Tochter. Immer wieder fürchtete Arvid, daß ihre Fähigkeit, Menschen zu durchschauen, ihn selbst zu sehr durchschaute. Dann überraschte sie ihn wieder mit einer unschuldigen Gläubigkeit, die nichts von seiner Welt wußte. In solchen Augenblicken erfüllte sie sein Ideal von Frauenbildsamkeit. Aber auch in dieser Erkenntnis blieb er ruhelos. Oda Marie hatte ihn gelehrt, ehrlicher vor sich selbst zu werden. Wenn er sich prüfte, mußte er sagen, daß ihre Gläubigkeit immer seines Vertrauens wert sein würde. Ein Mädchen wie Oda Marie wollte in der Ehe Gefährtin, nicht Sklavin sein. Ein fernes, hohes Bild, an das er schon als Knabe nicht mehr geglaubt hatte, verwirklichte sie Arvid. In seinen stillsten Stunden rettete er sich zu ihr und konnte doch nicht glauben, daß das Verlorene wieder einzuholen war.

Aber er baute leidenschaftlich auf ihre Sympathie. Das war in Wahrheit seine Erholung in Udde. Das gab ihm den schönsten Sommer seines Lebens, dessen Ende nicht auszudenken war. Wenn er irgendwo Bundesgenossen gefunden hätte! Aber Löwenstern konnte ihm hier nichts sein. Oft bereute Arvid, ihn überhaupt nach Udde mitgenommen zu haben. Er sah auf Oda Maries Schwestern. Aber auch die waren nichts anderes als Spielkameraden. Eine »Partei« mit ihnen zu bilden, war unmöglich. Womit am Nordstader Hofe jede Beziehung anfing, das war in Udde nicht zu erreichen. Die bürgerlichen Freundschaften Oda Maries für sich arbeiten zu lassen – dazu konnte Arvid sich noch weniger entschließen. Er fand die rechte Sprache nicht, um das Vertrauen einer Hanne Thyssen oder Lotte Kluckhuhn zu gewinnen. Diese harmlosen Menschenkinder gingen neben ihm her und waren doch meilenweit von ihm entfernt. –

Das Erntefest kam. In der Mischung von Prostestantismus und Heidentum, die in Udde herrschte, war es das Hauptfest, das man beging. Die wolkenlosen Augusttage, die dem großen Gewitter gefolgt waren, begünstigten es. Am meisten freuten sich die jungen Mädchen auf das Tanzen im Freien. Arvid aber hegte die stille Hoffnung auf einen wunderbaren Sommernachtstraum, der alle Konflikte lösen und das verborgene Gefühl sprechen lassen würde. Er liebte die Feste – sie füllten in Nordstad sein halbes Leben aus. In der »gesunden« ländlichen Ruhe fürchtete er zu erschlaffen. Wenn er sich vor Oda Marie in seiner ganzen Art entfalten konnte – dann hatte er gewonnen. Sie schien es zu ahnen. Sie vermied das Alleinsein mit ihm. Nie waren sie wieder ans Meer geritten, und wenn ein Ausflug unternommen wurde, kam stets ein gemeinsamer mit der ganzen Gesellschaft zustande. Plötzlich aber veranlaßte Arvid, was ihn bisher erbost hatte. Er rief Oda Maries Gespielinnen im Park zusammen und beriet mit ihnen ein großes Programm für das Erntedankfest. Darauf verstand er sich. Die Jugend sollte eingreifen. Vollmond würde sein – da mußte auf der Wiese in phantastischen Kostümen getanzt werden. Ueber den See sollten erleuchtete Blumenboote fahren und ein Fackelzug durch ›Deutsch-Freiland‹ dem Herzog huldigen. Gegen den letzten Punkt des Programms wehrten sich die Prinzessinnen. Sie kannten ihren Vater. Doch Arvid überredete sie, vom Grafen Löwenstern begeistert unterstützt. Ein Rausch kam über die jungen Gemüter, je näher das Fest heranrückte. Auch Oda Marie wurde davon ergriffen. Mit verwundertem Lächeln sah Herzogin Mathilde dem Treiben der Jugend zu. Sie hieß Arvids Eingreifen gut. Es war der beste Klang, den sie aus Nordstad kannte. –

In glühende Farbstreifen zerfließend, verweilte die Sonne, bevor sie sank. Feierlich gekleidet versammelten sich die Leute von ›Deutsch-Freiland‹. Auf einer Waldwiese, die von hohen Bäumen umstanden war, fand der Gottesdienst in jedem Jahre statt. Zum Erntedankfest, am Weihnachtsabend, zu Ostern und zu Pfingsten. Wenn die Männer mit ihren Frauen und Kindern versammelt waren, trat Herzog Karl aus dem Kreise der Seinen auf die Wiese hinaus und predigte als froher, suchender Mensch. Auch heute geschah es. Ein Lebensmärchen umschimmerte des Fürsten weißes Haupt. Was er, die Abendsonne im Antlitz, sprach, war seine Wahrheit, für jeden anderen unbezweifelbar. »Vater der Welt, den wir glauben, ohne zu wissen, kennen, ohne zu sehen – nimm den Dank unserer Herzen! Du hast dich im Segen unserer Arbeit offenbart! Auf Erden stehst du, und der Himmel wölbt sich über dir als Schutzdach! Du bist unser Fernstes und Höchstes und unser Nächstes auch, denn du bist in uns! Du lebst ist uns, wenn wir dir Leben geben können! Wir wollen es, Vater! Nicht umsonst sollen uns Früchte reifen aus zerstampften Aeckern, Häuser erstehen, wo Moräste gewesen sind! Wir bitten dich nicht: verlaß uns nicht, denn du bleibst ja in unserem Willen! Du führst uns nicht in Versuchung, solange wir für dich leben, Gottmensch, und unser tägliches Brot gedeiht, wenn wir dich haben, den Vater, den Sohn und den heiligen Geist! Amen!«

Herzog Karl trat zurück und küßte Oda Marie. Dann umarmte er, wie nach kurzem Besinnen, seine Frau und die anderen Kinder. Arvid blickte er nur an. Mit ernsten Augen gab er ihm die Hand. Bald verteilte sich die Gemeinde im Walde. Die herzogliche Familie mischte sich unter die Kolonisten. Gertrud und Elisabeth eilten auf Lotte Kluckhuhn und Rose Kestner zu. Arm in Arm suchten sie Hanne Thyssen und neckten die einsam ins Abendrot starrende mit Liebeskummer. Als Oda Marie sich suchend nach Arvid umblickte, kam Graf Löwenstern auf sie zu. Wie ein eifriger Hofmarschall meldete er: »Königliche Hoheit sind schon ins Schloß zurückgekehrt und kleiden sich um – ich eile auch dorthin – Hoheit werden gewiß schon erwartet!« – Jetzt besann sich Oda Marie, die immer noch unter dem Eindruck ihres Vaters stand: »Ach ja, wir müssen wohl die Kostüme anlegen? Um 7 Uhr fängt ja der Tanz an. Ich werde es meinen Schwestern sagen.« –

Grüne Dämmerung lag über der Waldwiese. Der Himmel hatte ein klares Stahlblau. Noch zuckten die Flämmchen der Gestirne schwach – es war die Zeit zwischen Licht und Dunkel. Im Schatten der Bäume hatten sich die Zuschauer gelagert. Man wartete schweigend – es herrschte eine fröhliche Spannung, wie ›Deutsch-Freiland‹ sie noch nicht gekannt hatte. Als man lange in das Dunkel des Parks geblickt, sah man plötzlich ein Funkeln zwischen den Stämmen, und eine leise, lustige Musik näherte sich. Da reckten die Menschen, wie nach einem längst erträumten Leckerbissen, die Köpfe Da leuchtete es in den trüben Augen, als ob nun doch noch etwas käme, was ebenso viel Recht auf sie hatte wie Pflicht und Arbeit. Endlich sprangen sie aus dem Park auf die Wiese hinaus. Kinder mit bunten Laternen, Jungen und Mädchen, weiße Perücken auf den Köpfen und in zierlichen Rokokokostümen. Ihnen folgte die Musik – das war die Vereinskapelle von ›Deutsch-Freiland‹, deren derben Gestalten das Kleid des achtzehnten Jahrhunderts nicht stand. Nun kamen die Paare. Als erstes Prinz Arvid und Prinzessin Oda Marie. Ihnen folgte Graf Löwenstern mit Prinzessin Gertrud – der Adjutant hätte lieber mit Lotte Kluckhuhn getanzt, deren schwarze Augen so reizend unter der Perücke lachten, aber die Rangordnung der Hofbälle steckte ihm im Blute. Lotte nahm den sechsten Platz ein. Hinter dem Grafen kam freilich ein gewaltiger Abstand, denn mit der Prinzessin Elisabeth mußte Doktor Sydow tanzen. Den stärksten Eindruck machten Arvid und Oda Marie. Der Prinz aus Nordstad fand sich durch sein Kostüm mit der Epoche zusammen, zu der er eigentlich gehörte. Sein Adelsstolz wurde anschaulich, das Souveräne des Absolutismus, der nur noch im einzelnen lebte und in der Allgemeinheit abgestorben war. Arvid trug das seidene Schäferkleid der galanten Zeit wie jene Vergangenen, die über die Revolution triumphiert und vor dem Schafott getanzt hatten. Doch seine duftige Grazie wäre nichts ohne die Schönheit der Dame gewesen. Auf dieser abendlichen Wiese, im Kleide der Vergangenheit, sah man erst, daß Oda Marie die schönste Prinzessin war. Sie entfernte sich heute von ihrem Vater, den sie noch nie verlassen hatte. Ihre Anmut lebte unter einer Verzauberung, die von Arvid kam, dem wunderbaren Gast. Die Schäferin tanzte mit dem Schäfer, indem sie vor ihm floh, von instinktiver Angst gepackt, und in herzlichem Vertrauen immer wieder zu ihm zurückkehrte. Wenn sie ihm fernstand, klagend oder trotzend, begriff man ihren Schmerz und wurde traurig – wenn sie auf den Freund wieder zueilte, glückbefeuert, fühlte man ihre Freude. Das war Jugend, vornehme, fürstliche Jugend. Ganz von selbst wurde der Tanz Arvids und Oda Maries ein besonderes Schauspiel: Die anderen Paare versuchten erst gar nicht mitzutun. Sie standen als bewundernde Zuschauer herum. Dem Phantasietanz ließ Graf Löwenstern, der Maître de plaisir, ein Menuett folgen. Jetzt taten auch die anderen mit. Den Tanz des Schäferpaares hatte das Publikum mit entzücktem Schweigen hingenommen. Nun aber, bei den allgemeinen Tänzen, wagte man sich heraus. Man applaudierte so begeistert, daß der Herzog seine Kolonisten nicht wiedererkannte. Menuett, Gavotte, Sarabande, Contredanse – alles hatte Löwenstern den steifen Deutschen einstudiert. Dann aber krönte das Ganze, wie ein Ansturm der Gegenwart, ein Walzer. Das zweite Wunder des Erntedankfestes geschah – die Männer von ›Deutsch-Freiland‹ sprangen auf und tanzten mit ihren Frauen.

Arvid vermied es, immer wieder mit Oda Marie zu tanzen. Er fühlte sich nun doch von Löwenstern beobachtet. In einer Vision, die ihn peinigte, sah er plötzlich die ganze Kabale von Nordstad vor sich – die Kühlhorn-Wetterstein, die beiden Pfaffen und Frau Sörensen, bescheidene Kammerfrau, am mächtigsten von allen. Aergerlich schüttelte Arvid diese Erinnerung ab – hier war er ja frei, hier war er Mensch. Er sah Oda Marie mit dem ungefährlichen Doktor Sydow tanzen und engagierte nun, was sonst noch jung und hübsch war. Plötzlich stand der Unermüdliche auch vor Male Petzold. Die Bildhauerin war weder jung noch hübsch – dennoch hatte sie Arvid gefallen. Er besaß den Instinkt für die verborgene und stärkere Frauenschönheit, das Temperament. Male Petzold errötete, als Prinz Arvid auf sie zukam. Unwillkürlich strich sie ihr straffes, braunes Haar zurück, um hübscher zu erscheinen. – »Wir haben uns nur ein einziges Mal in einer anderen Situation gesehen, mein Fräulein,« sagte Arvid lächelnd. »Im Feuer – nicht wahr? Als wir einige Kolonistenkinder ins Freie expedierten?« – »Jawohl!« lautete Male Petzolds Antwort. »Dafür können wir heute auch tanzen!« – »Ja, das wollen wir! Ich glaube, Sie tanzen am besten von allen Malliner Damen!« – »Nächst Oda Marie!« – »Selbstverständlich nächst Oda Marie!«

Als Arvid den ganzen Walzer mit Male Petzold durchgetanzt harte, stand er plötzlich vor Oda Marie. Sie hatte zugesehen und nickte den Erhitzten freundlich zu. »Tanzt sie nicht prachtvoll, Arvid?« – »Ganz famos! Ich glaube, so kann nur eine Künstlerin tanzen!« – »Das ist es eben!« – »Ach was! Ach redet doch nicht so!« Mit dieser plötzlichen Gefühlsäußerung, die ihre herbe Innigkeit enthüllte, machte sich die kleine Bildhauerin los und lief in den Park. Arvid lachte. Doch Oda Marie sagte ernst: »Das ist ein wundervoller Mensch. Ich muß dir von ihrer Lebensgeschichte erzählen – dann verstehst du sie besser. Du weißt doch, daß sie die Spielsachen für unsere Kolonistenkinder macht? Sie ist auch eine begabte Bildhauerin, aber zu künstlerischen Arbeiten kommt sie kaum noch. Vor Jahren wurde Male Petzold von einem Maler, mit dem sie verlobt war, betrogen, im Leben und in der Kunst. Da befiel sie ein schweres Nervenleiden. Vorher soll sie ein blühendes Geschöpf gewesen sein. Nach ihrer Genesung glaubte sie nicht mehr an die Kunst, wie sie an das Leben nicht mehr glaubte. Sie ging zu armen Leuten und half mit ihren kleinen Mitteln, so gut sie konnte. Dann hörte sie von meinem Vater. Das gab ihr wieder Mut. Sie kam zu uns. Sie half uns an allen Ecken und Enden. Statt ihrer Bildhauerarbeiten machte sie nur noch Spielsachen. Das sind auch Kunstwerke in ihrer Art – du hast sie ja bei Grönvolds gesehen. Langweilt dich das alles auch nicht, Arvid?« – Der Vetter hatte, in Oda Maries Anblick verloren, zugehört. »Jetzt müßte ich eigentlich böse sein – du traust mir wirklich nur das Oberflächlichste zu. Nein, nein – ich bin nicht böse. Ich kann's ja gar nicht werden, Oda Marie. Und wenn ich nichts von dieser Erzählung gehabt hätte, als daß meine liebe, schöne Cousine endlich du zu mir sagt …!« – Oda Marie fuhr zusammen. Sie sah errötend zu Boden – dann kam ein reizendes, demütiges Lächeln auf ihre Züge. Sie erwiderte: »Nun ja, Arvid. Einmal mußte es ja sein. Ich kann eben nicht wie bei Hof mit einem Menschen reden, den ich gern habe.« – Er nahm ihre Hand. Sie aber entzog sich ihm. »Nun komm! Die anderen sind schon weit voraus! Wenn wir uns nicht sputen, sehen wir den Korso der Blumenboote nicht mehr!« – »Aber freilich! Um des Himmels willen! Ich habe ja das Kommando!«

Sie liefen durch den dunklen Park zum See hinunter. Die Blumenboote warteten schon. Der Mond war aufgegangen, als gehörte auch er zum Programm. Im Schatten des Ufergeländes lagerten sich die älteren Festteilnehmer. Arvids Boot fuhr voraus. Er stand im Kiel, auf ein Ruder gestützt – seine dunkle Gestalt, vom Mondenschimmer abgehoben, führte den Korso. Oda Marie legte die Arme auf das Blumenkissen des Bords und blickte ins Wasser. Zur Silberstraße der Mondspiegelung leitete Arvid die Fahrt – er ließ sie von den Booten durchkreuzen und kommandierte immer wieder Begegnungen, so daß zwei Fahrzeuge stets im Licht waren. Aus dem Dunklen ins Helle, aus dem Hellen ins Dunkle – Lachen und Rufen bei lustiger Musik – die Jugend spielte ihr schönstes Spiel. Man bewarf sich mit Blumen, bis man müde wurde. Da löste sich der Korso auf. Einige Boote landeten, andere suchten das jenseitige Ufer auf. Zu diesen gehörte Arvids Boot. Er hatte das kleinste gewählt, und Oda Marie war sein einziger Passagier. Wie glücklich machte ihn jetzt die Freiheit von Udde, die einer jungen Prinzessin nirgends Spione nachsandte. Er war mit ihr allein. Er konnte die Geliebte in dieselbe Schilfbucht steuern, aus der sie ihm am ersten Tage entgegengekommen war.

Oda Marie hatte etwas Geängstigtes. Das plötzliche Du-Sagen, das Arvid entdeckt hatte, lastete auf ihr. Sie wußte, daß sie nun den Weg zu ihrem früheren Leben nicht mehr zurückfand. Sie hatte sich verraten, ohne Verrat an irgend etwas. Aber ihr innerster Ernst blieb wach – sie wollte auf der Hut sein. Noch glaubte sie Arvid nicht, wie sie ihm glauben mußte. Sie dachte an die Warnung ihres Vaters.

»Wollen wir landen, Oda Marie?« fragte der Vetter, den Zauberblick seiner graublauen Augen unablässig erprobend. »Hier ist die hübsche Anhöhe unter den Eichen. Wir haben für die anderen genug getan – nun, denk' ich, können wir uns ein bißchen erholen.« – »Erntedankfest«, sagte Oda Marie mit dem leisen Spott, der zuweilen einen fremden Ton in ihr Wesen brachte. – Er sah sie fragend an. So hatte er am wenigsten Macht über sie. Er fürchtete diesen Ton und wollte sie lieber auf den schwärmerischen der romantischen Nacht bringen. Er half ihr beim Aussteigen. Rasch löste sie aber die Hand von ihm und eilte voraus. Unter den Eichen warf sie sich nieder. »Drüben,« sagte sie halblaut, »drüben saßen Sie auf der Bank, als wir uns zum erstenmal sahen.« – »Welcher Sie?« fragte Arvid empfindlich. »Den Mann kenn' ich wirklich nicht mehr.« – »Nein, nein, Arvid. Verzeih mir! Ich versprach mich.« – »Ich glaube, du hast dich schon oft mir gegenüber – versprochen.« – »Das liegt an dir. Darf ich das sagen?« – »Gewiß. Ich weiß ganz gut, daß es an mir liegt. Aber ich denke, jeder soll sich so geben, wie er ist. Ich würde sonst pathetisch werden, verlogen, maskiert – lauter Eigenschaften, aus denen du dir gewiß nichts machst.«

Sie saß zurückgelehnt und blickte auf den schimmernden See. »Glaube mir nur, Arvid, daß ich dich gern so sehen würde, wie du bist.« – Er hörte diese leisen, ein wenig zitternden Worte und rückte ihr näher. »Was hindert dich?« fragte er. »Ich will es dir sagen: Deine Erziehung hindert dich. Begriffe, die du dir nicht selbst erworben hast, sondern die dir gegeben wurden. Daß ich deinen Vater verehre, weißt du. Aber er ist alt und du bist jung. Du wirst deine eigenen Erfahrungen machen müssen – das muß jeder Mensch. Ihr Malliner seid Fürsten, Herzöge sogar aus altem Geschlecht – aber ihr revoltiert gegen euch selber. Hast du nicht von Kindheit auf einen Widerwillen gegen alles bekommen, was Kronen trägt? Sag' ehrlich! Du mißtraust unserer ganzen Klasse. Aber unsere Individuen wirst du so nicht kennenlernen.« – Sie sah ihn jetzt an. Es war ein schwerer und banger, aber offener Blick aus ihren großen, dunklen Augen. »Ich glaube an meinen Vater – er ist einer der wenigen Menschen, an die man in jeder Lage glauben kann. Ich habe ihm immer wieder recht geben müssen. Was heißt denn Fürst sein? Das Schicksal seines Volkes lenken und teilen. Die Komödie der ›Hochgeborenen‹ spiele ich nicht mehr mit. Ich will mich nicht von jedem Nähmädchen beschämen lassen. Ich will achten und geachtet werden. Davon bringt mich niemand ab, Arvid.« Er schwieg eine Weile. Er blieb in ihren Anblick verloren, aber er hatte ihre Worte erfaßt. »Es ist wunderbar, wie alles, was wo anders Schulmeisterei würde, bei dir zur Schönheit wird. Von dir könnte ich alles noch einmal hören. Durch dich würde ich erst wahr werden. Ja, es kommt auf die Menschen in den Fürsten an. Glaubst du, daß ich das nicht unterschreibe? Glaubst du, ich weiß nicht, wieviel Gecken und Lumpen in unseren Schlössern wohnen, wieviel Gänse und Dirnen? Meinst du, das weiß ich nicht?!« – Er packte ihre Hand. Sie ließ sie ihm – sie saß ganz still, wie ein banges Kind, und lauschte. – »Ich habe gesucht wie du! Und mehr als du, denn ich bin schon durch einen großen Teil des Lebens gelaufen! Das ist es, Oda Marie! Darum solltest du auch auf mich hören! Du bist jung und ich bin jung! Das Leben, das kommen soll, hängt von uns ab! Wir dürfen nicht träumen und schwärmen – wir müssen handeln!« – Noch einmal entzog sie sich seinem Willen. »Glaubst du, daß ich nur träume und schwärme? Du verstehst mich nicht.« – »Dann verstehst du auch mich nicht! Man hat dir vielleicht erzählt, daß ich in Nordstad einige Tollheiten begangen habe! Ich bin im Munde gewisser Leute! Das leugne ich nicht! Aber man soll mit Oskar Löwenstern rechten, nicht mit mir! Wo er steht – das begreifen die Leute! Wo ich stehe – das wird ihnen später erst klar werden! Das wollt' ich dir einmal sagen, Oda Marie! Kennst du Shakespeares ›Heinrich den Vierten‹? Mit Falstaffs Freund, mit dem Prinzen Heinz – mit dem halt' ich's! Kronprinz bin ich nicht, und mein Bruder Johann ist von anderem Schlage – aber ich weiß, daß ich meine Jugend genießen muß, um in das rechte Alter hineinzuwachsen!«

Jetzt sah sie ihm voll Liebe in die Augen – zum erstenmal. Sie glaubte ihm jetzt. Plötzlich griff sie nach seiner Hand. Er aber zog ihre Hand ans Herz. »Nicht so, Oda Marie,« flüsterte er mit bittenden Augen. »Ich glaube, wir werden uns nicht mehr trennen, aber wir werden auch nicht in Udde bleiben! Laß mich aussprechen, was ich fühle, was mich umhertreibt, seit Wochen schon …!« – »Arvid!« Sie wollte aufstehen, aber die Kraft verließ sie. Er konnte den Arm um sie legen und ihre junge Schönheit an sich ziehen. »Oda Marie … du mußt mir glauben … du mußt mir glauben, daß ich dich liebe … Ich stehe ganz unten – gewiß – und lange nach dir und bitte dich – aber du wirst nicht fortgehen, du wirst mich nicht zurückstoßen, jetzt, wo ich sein will, was du forderst. Ein Mensch will ich sein, der sein Glück findet. Komm mit mir nach Nordstad, Oda Marie – ich will deine Schönheit in Pracht und Freude kleiden. Meine königliche Prinzessin. Man soll dich immer so sehen, wie du dich heute offenbart hast – auf der Wiese – beim Tanz! Wovor erschrickst du?« – »Immer? … Arvid, Arvid – Tanz ist selten.« – »Aber du verstehst mich? Du verstehst mich?« – »Ich bin auch keine königliche Prinzessin! Ich fürchte mich vor deinen Eltern und vor ihrem großen Hof!« – »Weil du sie nicht kennst! Aber du wirst sie kennenlernen! Und mich kennst du jetzt, Oda Marie! Sag' ja! Sag' ja! Sonst kann ich ja nicht leben!« – Er warf den Kopf in ihren Schoß. An diese Schwäche, die ihr seine Stärke enthüllte, hatte sie nicht geglaubt. Er mußte im Innersten noch ein Unverdorbener sein. Da umfing sie sein Sehnen – da nahm sie ihn auf in ihrer ganzen herrlichen Glut. Aus ihrer Seele erblühte der Schwur der Ewigkeit – aus seiner das Glück des Besitzers.

*

Um Mitternacht noch saßen die Eltern Oda Maries im Zimmer des Herzogs beisammen. Die Verlobten hatten sich der Mutter anvertraut, und diese konnte mit dem großen Geheimnis nicht allein bleiben. Sie war zu ihrem Gatten geeilt. Weinend hatte sie ihm alles erzählt. Lange schwiegen nun die Eltern. Die Herzogin war glücklich, aber sie erwartete mit Bangnis, was der alte Malliner antworten würde. »Er hat Macht, Mathilde – das hab' ich immer gewußt. Ich kenne die Nordstader – besser vielleicht als du. Was sie wollen, erreichen sie. Es kommt nur darauf an, daß sie mal was Gutes wollen. Fahr' nicht auf, Liebste – ich will deiner Familie nicht zu nahe treten. Selbstverständlich hattet ihr tüchtige Kerle. Auch dein Schwager hat sich seine Seite Weltgeschichte geschrieben. Aber die neue Zeit bekommt euch Nordstadern nicht gut. Die Seefahrer und Rauhbeine von einst haben weiche Glieder bekommen. Ihre Weichheit fürchte ich, offen gestanden, mehr als ihre Härte. Arvid kenn' ich ja nicht genug, und du ersiehst vielleicht aus meiner Sorge, daß ich sein Zusammenkommen mit Oda verstehe.« – »Karl,« erwiderte die Herzogin, indem sie den Arm um den Hals ihres Gatten legte, »wir kennen unser Kind – das ist die Hauptsache. Sie wird das Gute nach Nordstad bringen und Gutes dort empfangen. Wir müssen sie ja mal hergeben, und wir geben sie gewiß für ihr Glück her.«


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