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Sechstes Kapitel.

Als Arvid und Oda Marie auf Schloß Udde zuritten, sahen sie einen Wagen mit Reisegepäck davorstehen. Soeben verabschiedete sich Jakob Kadmus von der herzoglichen Familie. Er wandte sich mit einem erfreuten Lächeln zu den Reitern: »Freue mich herzlich, auch von den jungen Herrschaften noch Abschied nehmen zu können!« – Arvid verhehlte seine Mißstimmung schlecht. »Ich dachte, Sie wären längst in Berlin, Exzellenz?« – »Doch nicht, Königliche Hoheit – ich benutze den Mittagszug. Der Morgen war zu schön in Udde. Ich habe mich an grünen Bäumen delektiert – an grüne Tische komme ich noch früh genug. Aber ich darf doch die Zuversicht auf meine europäische Rundreise mitnehmen, daß Königliche Hoheit einen großen Gewinn bei Ihrem Landaufenthalt erzielen werden?« – Arvid sah den Ministerpräsidenten halb ironisch, halb verwundert an. »Ist Ihnen das so wertvoll, Exzellenz? Wenn Sie in Berlin über Flottenfragen und in Paris über Zollkonventionen verhandeln?« – Jakob Kadmus neigte seinen grauen Kopf. »Ich fühle zu jeder Zeit als Diener meines Königs.« Dann wandte er sich mit undurchdringlichem Lächeln zu Oda Marie: »Hoheit haben einen schönen Morgenritt unternommen?« – »Es war sehr schön, Exzellenz. Wir waren am Meer.« – »Ja, ja, die liebe Jugend … Ach, es gibt doch nichts Schöneres als Jugend an einem Sommermorgen!« Jakob Kadmus wandte sich nach dieser überraschenden Gefühlsäußerung noch einmal zur Herzogin und küßte ihr die Hand. Nachdem er dann Händedrucke ausgeteilt hatte, stieg er in den Wagen. Herzog Karl begleitete ihn zum Bahnhof. Mit erneuter Indignation konstatierte es Graf Löwenstern – ein Ministerpräsident wurde auf Udde höher geehrt als ein Königssohn.

Als der Wagen davongerollt war, blieb die herzogliche Familie noch eine Weile in der Halle. Jetzt schritt Oda Marie auf ihren Vetter zu – der Streit, der den Morgenritt verdorben hatte, schien ihr leid zu tun. »Wie ist eigentlich Jakob Kadmus? Man weiß nie, ob er es ernst meint.« Arvid freute sich, daß sie ihn gerade nach dem Staatsmann fragte, in dessen Schatten er sich immer fühlte. »Meinen Sie seinen Charakter oder sein Talent? Ich glaube, daß sein Charakter ebenso wie sein Talent für einen Politiker paßt.« – »Das verstehe ich nicht recht.« – »Ich meine, man kann sich ebensowenig auf ihn verlassen, wie man sich unbedingt auf ihn stützen muß.« – Oda Marie errötete und sah zu Boden. »Sie werden mich nun gewiß für sehr dumm halten, aber auch das kann ich nicht begreifen.« – Arvid lachte. »Es ist wirklich nicht sehr tiefsinnig gemeint. Sagen wir, Jakob Kadmus ist ein genialer Mensch mit allen möglichen Tugenden und Fehlern.« –

Der nächste Tag wurde von einer schweren Hitzwelle bedrückt. Ein Gewitter hing in der Luft, wollte sich aber nicht entladen. Man konnte nicht viel unternehmen. Da Arvid keine Lust zum Reiten hatte, spielte er mit den Prinzessinnen Tennis und konstatierte, daß die jungen Damen besser spielten, als er es sich vorgestellt hatte. Aber lange konnte man es auch auf dem Tennisplatz nicht aushalten. Arvid zog es vor, mit den Mädchen im Park zu promenieren. Aergerlich wußte er auch bei der lähmenden Gewitterglut Oda Marie in »Deutsch-Freiland«. Indem er sich mit ihren Schwestern beschäftigte, kühlte er ein gewisses Rachegefühl. In »Deutsch-Freiland« wollte er sie nicht aufsuchen. Er verstand ja nichts von den »hohen Zielen und Aufgaben«. Bald wurde er der Mittelpunkt einer übermütigen Gesellschaft. Gertrud, Elisabeth und Karl Ludwig, aber auch Hanne Thyssen, Rose Kestner und Lotte Kluckhuhn waren dabei. Graf Löwenstern entschloß sich jetzt, die Ebenbürtigkeit der jungen Damen anzuerkennen, um ihnen den Hof machen zu können. Merkwürdigerweise gefiel ihm Lotte Kluckhuhn am besten, obwohl sie die Tochter des bedenklichen Schulmeisters war. Aber von ihren schwarzen Augen kam der Graf nicht los. Er nippte an ihrer köstlichen Frische wie an einem seltenen Trunk. Tolle Streiche wurden unter den alten Parkbäumen ausgeheckt. Der wilde Karl Ludwig verleitete die Mädchen zur Respektlosigkeit gegen den Adjutanten. Prinz Arvid war natürlich ihre Partei. So scholl der lustige Lärm trotz der wachsenden Gewitterschwüle bis in die Fenster des Schlosses. Herzogin Mathilde ruhte auf ihrem Diwan. Sie lauschte lächelnd, wenn die Lachsalven zu ihr herüberklangen. Heimlich grollte sie ihrem Gatten, der die Würdigste der Jugendlust, Oda Marie, wieder bei anstrengender Arbeit hielt.

Brandig ging die Sonne unter. Ihr Nachschein war ein schwefliges Gelb, und als es frühzeitig dunkel wurde, sah man, daß das Gewitter sich endlich zusammenziehen wollte. Aber Stunden vergingen bei fernem Wolkenmurren und Wetterleuchten. Die herzogliche Familie speiste abends in einem Zimmer, dessen Breitseite auf den Balkon des Schlosses hinausging. Eine leise Beklommenheit wollte heute nicht von der Tischgesellschaft weichen. Man sprach im Flüsterton und lachte, wenn darauf aufmerksam gemacht wurde. Das seltsame Gemisch von Bedrücktheit und Sehnsucht, das ein nahendes Gewitter bringt, herrschte in allen. Man sah durch die beiden Balkontüren auf die Parkwipfel hinaus, die sich im sausenden Winde bewegten. Man fühlte die Schwere in den Gliedern mit der Lähmung der Natur verwandt. Wenn ein Wetterleuchten das nächtige Dunkel erhellte, zuckte man zusammen, und sobald ein dumpfes Grollen aus der Ferne hörbar wurde, nickte man, als ob etwas Unabwendbares sich näherte.

Die Gräfin Stempel, sonst eine schweigsame, etwas melancholische Dame, wurde in ihrer Gewitterangst beredt. Sie begann Gespenstergeschichten zu erzählen, die nicht gerade zur Erheiterung der Stimmung beitrugen. Graf Löwenstern aber war Spiritist und griff das willkommene Thema auf. Schließlich mußte der Herzog mit seinem gesunden Menschenverstande dazwischenfahren – seine nervöse Gattin bekam schon Schwindelanfälle. Karl Ludwig wurde so aufgeregt, daß er zum erstenmal keinen Pudding nahm. Als die Tafel aufgehoben, wurde, trat Oda Marie auf den Balkon hinaus. Arvid folgte ihr. Sie befanden sich kurze Zeit allein. Noch immer fiel kein Regentropfen aus dem sternlosen Dunkel. Trocken und scharf umblies der stauberfüllte Wind die heißen Gesichter. – »Das Gewitter wird stark werden,« meinte Arvid. – »Halb wünscht man es, halb fürchtet man sich davor.« – »Fürchten Sie ein Gewitter, Oda Marie?« – »Ich nicht – im Gegenteil. Ich bin sehr froh dabei. Aber meine Mutter kann es nicht vertragen.« – »Sie sind jetzt gesund?« – »Warum fragen Sie das? Ich war nie krank.« – »Nun, Sie erwähnten doch gestern, daß Sie in Aegypten wegen Ihrer Gesundheit gewesen seien?« – »Oh, das ist lange her. Davon weiß ich nichts mehr.« Oda Marie legte ihre Hand auf Golos dunklen Kopf. Der Bernhardiner war ihr, wie überall, auch auf den Balkon gefolgt. Etwas Starkes und Dürstendes, unmittelbaren Zusammenhang mit der Natur hatte er, als er so dasaß, mit seinem offenen Maul und die schimmernden Augen ins Dunkel gerichtet. – »Es will nicht kommen«, flüsterte Arvid nach einer Pause. – »Es will gebeten sein,« erwiderte Oda Marie. – Er lächelte sie an, aber sie blieb ernst. – »Bei uns oben beten die Pfarrer in den Kirchen bei jeder großen Dürre,« sagte Arvid nach einer Weile. – »Das kann ich nicht verstehen. Wenn der Glaube da ist. Sonst würde es ja nicht sein.« – »Aber was nutzt denn, physikalisch genommen, der Glaube, Oda Marie?« – Jetzt lächelte sie. »Wer betet, Arvid, hebt sich über das Physikalische hinaus.«

Der Herzog trat auf den Balkon; Oda Maries Geschwister folgten. »Kinnings, wir wollen Petrus nicht länger zukucken – hetzen läßt sich der Mann nicht,« meinte Herzog Karl, nachdem er eine Weile auf die schwankenden Bäume geblickt hatte. »Das Dunnerwetter kann ganz gehörig werden. Na, es ist ja ein Segen nachher. Auf den Feldern liegt nichts – das ist die Hauptsache. Kommt – hier draußen kriegt man bloß Staub in die Lunge – wir wollen in die Halle hinunter, Schach spielen, lesen – und dann zeitig ins Bett.« – Man folgte dem Geheiß und versammelte sich in der Halle. Aus dem Schachspiel wurde aber nichts, denn die Köpfe waren zu müde. Der Herzog rauchte seine Pfeife und las volkswirtschaftliche Zeitschriften. Gertrud und Elisabeth nützten das Schlafengehen der Mutter, um selbst zu verschwinden, und auch Karl Ludwig hatte Gelegenheit, sich mit einem spannenden Geschichtenbuch in sein Zimmer zu stehlen. Oda Marie zeigte Arvid die Bilder, die sie aus Palästina mitgebracht hatte. Als der Herzog das Zeichen zum Aufbruch gab, folgte man als ob man schon lange darauf gewartet hätte.

Noch immer blieb es schwarz und still draußen. Arvid spürte eine quälende Unruhe. Seine Glieder wehrten sich schmerzend gegen ihre Erschlaffung. Löwenstern, der todmüde aussah, fragte ihn, ob er ihm noch zur Verfügung bleiben solle. Doch Arvid legte auf den Grafen keinen Wert mehr und schickte ihn zu Bett. Er selbst konnte sich noch nicht niederlegen. Als im Schlosse alles still geworden war, machte er einen Versuch, in den Park hinauszugehen. Sobald er aber vor das Portal trat, schleuderte ihm der Wind eine solche Ladung Staub ins Gesicht, daß ihm der Atem verging. Arvid begab sich in sein Zimmer zurück. Sünlund, der Kammerdiener, zog ihm die Stiefel aus und kleidete ihn in seinen Pyjama. Dann mußte auch er den Prinzen allein lassen. Arvid warf sich aufs Bett. Er stöhnte. Welche fürchterliche Beklommenheit! Wenn nur erst das Gewitter käme! Und Oda Marie in all dem brandigen Schimmer, sobald er die Augen schloß. Oda Marie …

Aus dem wirren Traumschlaf, in den er verfallen, wurde er durch einen gewaltigen Donnerschlag aufgeschreckt. Er setzte sich auf und starrte zum Fenster hinüber. Endlich! Draußen herrschte schon das große Durcheinander. Nun stürzte der Regen, nun folgte Blitz auf Blitz. Arvid zog seine Wildlederschuhe an und eilte zum Fenster. Wie prachtvoll war das.

Arvid starrte mit seinem verzückten Menschenwahn in die großen, entfesselten Elemente. Er glaubte, sie noch heftiger anfeuern zu können. An die Gefahr, die ihre Schönheit der irdischen Wirklichkeit brachte, dachte er nicht. Da kam ein Donnerschlag, mächtiger als alle vorangegangenen. Arvid fuhr entsetzt zurück. Die Fenster klirrten, der Blitz mußte in nächster Nähe niedergefahren sein. Mehrere Minuten verstrichen – Arvid sah und lauschte. Da hörte er in dem himmlischen Aufruhr einen bangen, bittenden Erdenton. Das war eine Glocke. Das bedeutete Feuersgefahr. Der Blitz hatte gezündet. Aber wo? Am Schlosse konnte es nicht sein. Hinter den Parkwipfeln rötete sich der Himmel. Von »Deutsch-Freiland« tönte die Glocke her. Es brannte in Herzog Karls Kolonie.

Schon wurde es im Schlosse lebendig. Schritte hasteten den Gang entlang, Türen wurden geschlagen. Ein aufgeregtes Fragen und Antworten hörte Arvid – er wollte nicht länger zurückbleiben. Da es warm war, blieb er in seinem Schlafanzug und eilte auf die Treppe. In der Vorhalle begegnete er dem Herzog. »Bleib ruhig im Schloß, Arvid! In der Kolonie brennt's! Wir wissen noch nicht, wo!« – »Wenn du wünschest, daß ich den Damen beistehe, bleibe ich, Onkel! Sonst verfüge über mich!« – Der Herzog sah seinen Neffen erstaunt an – dann eilte er voraus. »Komm also mit, wenn du Lust hast! Es scheint schlimm zu sein!«

Sie schritten mit einem Gefolge von Schloßbeamten durch den feuchtwarmen Park. Als sie in die Kolonie hinaustraten, fanden sie vollständige Verwirrung. Kestner, der Oberverwalter, stürzte auf den Herzog zu: »Drei Häuser brennen! Philipps, Roses und Schraders! Bei Schraders hat's eingeschlagen! Weiß der Teufel – die Spritzen sind schon da – aber der Kasten brennt wie Heu!« – »Ist die Frau 'raus? Wo sind die Kinder?« – »Ich denke doch, Herr Herzog –« – »Kestner, das müssen Sie wissen!« – So schnell sie konnten, eilten sie hinüber. Den Herzog beunruhigte das Schicksal der Schraders. Sie waren die Hinterbliebenen seines besten Freundes. Endlich stand man vor der Brandstätte. Alle Deutsch-Freiländer waren herbeigeeilt. Gespenstisch liefen verstörte Gestalten durcheinander. Als sie den Herzog sahen, faßten sie sich. »Wo ist die Frau? Wo sind die Kinder?« fragte Herzog Karl nochmals. – »Ich – habe sie gesehen!« – »Wo?« – »Ich hab' sie nicht gesehen!« – »Zum Teufel! Denkt ihr bloß an euch?!« – »Da ist sie ja! Da kommt sie ja! Mit den Jüngsten!« – Aus dem dicken Qualm, der aus der Haustür drang, brach jetzt ein bleiches, notdürftig bekleidetes Weib. Halb wahnsinnig vor Angst schleppte sie ihren Kleinsten in den Armen. – »Wo sind die anderen, Frau Schrader? Ist noch jemand drin?!« – »Herr Herzog, mein Peter! Meine Irma, mein Ludwig!« Diese Worte waren ein furchtbarer Beweis. – »Los, Leute! Holt die Kinder!« – »Ich gehe selbst noch mal!« – »Sie bleiben, Frau Schrader!« – »Herr Herzog, erst müssen wir Rauchhelme haben! Es geht nicht ohne Rauchhelme!« – »Esel! Dazu macht ihr jeden Monat Uebungen? Wir dürfen keine Zeit verlieren! Ich gehe selbst!«

»Nein, Onkel!« Plötzlich stand Arvid vor dem zornigen, alten Mann. Er hielt ihn mit beiden Händen fest. »Du nicht! Ich brauche keinen Rauchhelm! Mit 'ner gesunden Lunge kommt man auch so durch! Ich hole die Kinder!« – Bevor man ihn festhalten konnte, war der Prinz schon in das Haus geeilt – Rauchwolken schlugen über ihm zusammen. Entsetztes Schweigen lastete auf allen. Der Herzog stand, ein plötzliches Verantwortungsgefühl im Herzen, wie gelähmt. Frau Schrader kniete bei ihren Jüngsten. Als Arvid eben verschwunden war, kam ein kleines Menschenwesen herbeigeeilt, eine fast männlich gekleidete Frau, die, ohne zu zaudern, dem Prinzen in das brennende Haus folgte. Selbst in diesem Augenblick hatte die plötzliche Gefolgschaft Arvids etwas Komisches. »Wer war das?« fragte der Herzog. – »Fräulein Petzold, unsere Bildhauerin!« antwortete Pastor Thyssen. – »Male Petzold! Bravo! Aber wir müssen Arvid zurückholen!« – »Da ist er schon! Er hat zwei Kinder!« Kluckhuhn, der Schulmeister, rief es. Der Blick, mit dem er den Prinzen empfing, war anders als der, mit dem er ihn im Schloß betrachtet hatte.

Wirklich trat Arvid aus dem Hause. Wie Frau Schrader hielt er zwei Kinder in den Armen. Das dritte, ein beherztes Mädel, hielt sich an Male Petzolds Hand. Rasch schob der Prinz die Kleinen ihrer Mutter zu. Jubelrufen umgab ihn. Es war eine Huldigung, die erste, die dem Nordstader auf Udde zuteil wurde. »Junge!« rief der Herzog und öffnete seine Arme. Arvid warf sich lachend hinein. »Das war 'ne Leistung! Ich gratuliere! Macht ihr da oben öfter so was?« – »Wenn sich Gelegenheit bietet! Wir sind ja keine schlechten Turner, Onkel!« Arvid achtete auf die herandrängenden Kolonisten nicht – er sah Oda Marie auf sich zukommen. Aus dem Herzen hatte er für die bedrängte Frau gehandelt, aber sein Verstand hatte nur sie herbeigewünscht. Sie sollte ihn sehen. Rauchgeschwärzt, umjubelt, blutend. So bewies er seine Tüchtigkeit. Er sah es – sie war mit ihm zufrieden. – »Arvid!« rief sie, seine Hand ergreifend. – »Aber ich bitte Sie, liebste Cousine!« – »Sie bluten! Kommen Sie! Wir müssen für Sie sorgen!« – »Eine Schnittwunde – weiter nichts! Ich habe da oben ein Fenster eingeschlagen!« – »Drüben ist ein Brunnen!« – Sie ging mit ihm hinüber, während der Herzog bei der Brandstätte blieb. Jetzt funktionierten die Spritzen, und die ländliche Feuerwehr tat ihre Schuldigkeit. Das Schradersche Haus brannte völlig nieder, aber die Nebenhäuser konnten gerettet werden. Endlich ließ auch das Gewitter nach. Es regnete nicht mehr, und alles vergrollte in fernem Wetterleuchten. Schon strich die reine Gottesluft über das schwelende Unheil hin. Die Gemüter beruhigten sich allmählich. »Ich gehe zur Frau Herzogin!« rief Pastor Thyssen. – »Tun Sie das, mein Lieber! Grüßen Sie sie schön! Na, wie fanden Sie meinen Neffen?« Mit einem an ihm neuen Stolz richtete Herzog Karl diese Frage an Schulmeister Kluckhuhn. – Der nickte mit seinem dunklen Gesicht. »Das war eine Tat. Um ihretwillen werde ich für Prinz Arvids Benehmen meiner Tochter gegenüber keine Rechenschaft fordern.« – Der Herzog sah den vierschrötigen Mecklenburger verblüfft an. »Sind Sie des Teufels? Was ist denn das für eine Sache? Wie kommen Sie darauf?« – »Des Teufels bin ich nicht, Herr Herzog. Und wie gesagt – es sei vergeben und vergessen. Im Park hat der Prinz gestern abend meine Tochter an sich gerissen und geküßt.« – »Wahrhaftig? Na, Kluckhuhn – es werden vergnügte junge Leute gewesen sein.« – Das zerfurchte Gesicht des Schulmeisters rötete sich. »Herr Herzog, auf alle Fälle ist meine Tochter zu schade dafür! Wenn mehr passiert wäre, hätt' ich sie umgebracht! Aber der Prinz hat sich 'rausgepaukt! Das mein' ich! Solche Tat … Herr Herzog, nichts für ungut –!« Herzog Karl hatte Kluckhuhn den Rücken gewandt. Sich halb noch einmal nach ihm umwendend, erwiderte er: »Nein, nein! Sie haben ja recht. Aber die Tat, nicht wahr? … Ihr habt mir wieder mal die Stimmung verdorben.«

Der Herzog wandte sich zu Frau Schrader. Er tröstete sie – bald sollte sie ein schöneres Haus haben. Ihr verstorbener Mann habe auch schon immer darauf gehofft. Dann bemerkte der Herzog, daß bei den Kindern das kleine Fräulein Petzold kniete und die immer noch Verängstigten tröstete. »Sie sind ja auch im Feuer gewesen!« rief Herzog Karl und legte seine breite Hand auf den Scheitel der Bildhauerin. Die stand schnell auf und verlor in der plötzlichen Nähe des verehrten Mannes ihre Energie. – »Ich danke Ihnen im Namen des Verstorbenen,« sagte der Herzog. »Orden verleihe ich nicht. Aber wenn ich Ihnen einen Kuß geben darf?« – Ehe sie sich's versah, hatte der Herr von Udde schon seinen Mund auf Male Petzolds herbe Stirn gedrückt. – »Ich danke auch schön, Herr Herzog!« rief sie mit aufleuchtenden Augen. Die Umstehenden lachten.

Nun kehrte Oda Marie vom Brunnen zurück. – »Wo ist Arvid?« fragte Herzog Karl. – »Er hat mir endlich gehorcht und ist ins Schloß gegangen, Vater. Er war doch ganz erschöpft.« – »Ja, ja, Oda. Ich denke, wir können die Leute jetzt auch allein lassen. Du mußt dich umziehen, und mich fröstelt ein bißchen. Wir trinken einen steifen Grog. Kinder, war das eine Nacht!«

Arm in Arm wanderten Vater und Tochter durch den Park. Schon schimmerte das Frühlicht hinter den Bäumen. Die Sterne am entwölkten Himmel wurden blaß; leise Vogelstimmen grüßten den Morgen.

»Ein merkwürdiger Mensch, dieser Arvid,« sagte der Herzog nach einem Schweigen. »Ich habe ihm solche Leistung, offen gestanden, nicht zugetraut. Und du, Oda?« – Das junge Mädchen sah vor sich hin. »Ich weiß nicht recht, Vater. Ich war bisher immer im Zweifel ihm gegenüber.« – »Hast du dich viel mit ihm beschäftigt?« Herzog Karl glaubte, daß seine Tochter ihn nach dieser Frage anblicken würde. Aber noch immer blieben ihre Augen gesenkt. – »Für mich ist solch ein Mann sehr interessant,« erwiderte sie ausweichend. – »Gewiß, mein Kind, solchen kanntest du wohl noch gar nicht. Im allgemeinen lohnt sich die Bekanntschaft auch nicht. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich habe Arvid unrecht getan.«

»Er gefiel dir zuerst nicht?« – »Nein, Oda! Ich kenne die Jungens. Die ganze Welt und nichts gehört ihnen. Aber manchmal offenbart sich eben das edle Blut.« – »Vater, ich glaube, in Arvid kämpfen zwei Naturen. Die weniger gute bewirkt, daß man der guten unrecht tut. Er steht sich selbst im Licht. Aber man kann zufrieden sein …« – »Daß er überhaupt zwei Naturen hat? Die anderen haben meistens bloß eine?« fragte der Herzog lachend. – »Das ist es, Vater. Man weiß jetzt, daß etwas Großes in ihm steckt. Er hat einen ungewöhnlichen Mut bewiesen. Ich glaube auch, die richtige Auffassung vom fürstlichen Beruf.« – Oda Marie war in Feuer geraten. Aus ihren Worten sprach Bewunderung und etwas anderes noch, was Herzog Karl nie aus dem Munde seiner Tochter vernommen hatte. Es legte sich ihm in aller Freude schwer aufs Herz. Indem er mit einer gewissen Unruhe in den grauenden Morgen blickte, sagte er, Oda Maries Hand streichelnd: »Na ja! Du siehst jetzt einen Helden in ihm. Das tut ihr Mädels gern. Er hat auch eine große Bravour bewiesen – ganz gewiß. Aber wer weiß, ob die kleine Petzold nicht ebensolche Bravour gehabt hat. Um die hat sich kein Mensch gekümmert.« – »Ich gehe heute nachmittag zu ihr.« – »Recht, mein Kind. Auf alle Fälle laß dir gesagt sein, daß bei einem jungen Nordstader alles Erziehung ist. Gute Erziehung – weniger gute Erziehung. Heute war's die gute.«

Oda Marie antwortete nicht. Jetzt sprach ein alter Mann zu ihr, nicht ihr Vater. Sie hörte ihm nur halb zu. Sie dachte an Arvid.


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