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Achtes Kapitel.

Im Mai des nächsten Jahres fand in Udde die Hochzeit Oda Maries und Arvids statt. An einem Sonntagmorgen desselben Monats stieg das junge Paar in der deutschen Hafenstadt zu Schiff, um nach Nordstad zu fahren.

Das Meer war ruhig, ein sanftes Gleiten wurde die schöne Fahrt. Arvid und Oda Marie gingen bis zum Kiel. Dort setzten sie sich und blickten in die Weite. Möwen, begleiteten den Dampfer. »Die kommen in dein neues Vaterland mit,« sagte Arvid. – Oda Marie schwieg. – »Woran denkst du, Liebling?« – Sie strich sich lächelnd über das Gesicht. »Ach, ich ärgere mich über mich selbst. Niemand kann doch aus seiner Haut heraus. Ich hab' es zu tief ins Blut bekommen.« – »Was denn, Kind?« – »Du kennst mich, Arvid. Alles muß so sein, wie ich es fühle – sonst kann ich nicht ja sagen. Als wir uns hierher setzten, da war es wundervoll, ruhig und richtig. Aber daß da drüben schon mein neues Vaterland sein soll – dazu konnte ich nicht ja sagen.« – Arvid lächelte. »Kindskopf. Wird ja auch nicht verlangt. Du hast den Ehrlichkeitsfanatismus deines Vaters. Tut mir übrigens leid, daß ich mit meiner harmlosen Vermutung deine Stimmung gestört habe.« – Sie sah ihn an, konnte ihm aber keine Gekränktheit anmerken. »Du verstehst mich doch?« fragte sie bittend. »Mir liegt nur daran, daß das Wichtigste nicht so hingesagt wird …« – »Pardon, liebes Kind – ich erinnere mich nicht, eine Phrase gebraucht zu haben.« – »Arvid – was es für mich heißt, zu deinen Eltern zu kommen – Heimatsrecht zu erwerben –« – »Aber um des Himmels willen, Liebste! Wohin gerätst du wieder! Immer gleich das schwerste Geschütz! Wir wissen doch beide, wie wir's meinen! Ich denke, die Lösung wird die sein, daß unsere poetischen Möwen nicht nach Nordstad mitkommen, sondern mit dem nächsten Dampfer umkehren, wenn die Passagiere Futter auswerfen!«

Sie zwang ihre Erregung nieder und ließ ihre Hand in der seinen. – »Du bist aber nervös, armes Kind,« sagte Arvid nach einer Pause. »Das ist ganz natürlich. Dein erster Abschied von zu Hause …«

Oda Marie schwieg eine Weile und sah in die dunkelblauen Furchen hinab, die der Kiel in das Wasser schnitt. Dann sagte sie ablenkend: »Ich will dir sagen, was mich so angegriffen hat. Es war mir noch nie zum Bewußtsein gekommen, wie unsereiner beobachtet wird. Es bleibt ein Problem für mich, daß das Leben eines Fürsten sich in Persönlichkeit und Allgemeinheit teilt.« – »Ich denke, deine Ueberzeugung ist es, alles Persönliche der Allgemeinheit zu opfern?« – »Versteh mich recht, Arvid! Was wir aus uns selbst machen – das muß uns selbst gehören. Das ist unser Menschenrecht. Aber was wir dann geworden sind – das müssen wir der Allgemeinheit opfern – opfern, ohne uns zu verlieren, denn unser Ich ist unzerstörbar, und wir können immer wieder zu ihm zurückkehren.« – »Was willst du also damit sagen? Ein bißchen deutlicher, wenn ich bitten darf, meine kleine Philosophin.« – »Ich möchte nur mit dir einig sein. Man arbeitet doch, damit der Lohn nach dem Verdienst ist, nicht wahr – sonst hätte es gar keinen Wert zu arbeiten.« – »Gewiß …« – »Es hat für mich etwas tief Beschämendes, plötzlich vor einer allgemeinen Anerkennung zu stehen, die ich nicht verdient habe. Ich mißtraue den Gefühlen schließlich und halte sie nur für Masken der Kaltherzigkeit.« –

Nachmittags tauchte die Küste des »neuen Vaterlandes« auf. Eine merkwürdige Spannung bemächtigte sich Arvids. Er wußte, welche Erwartung drüben herrschte. König und Königin, das ganze Volk harrten auf dem blauen Ufersaum – Oda Marie war der Inhalt einer Millionenempfindung. Arvid hatte das Gespräch mit seiner Frau vergessen. Sein Arm zitterte in dem ihrigen – sie sah ihn fragend an. In ihrem Gemüt schien mehr Bangigkeit als Freude zu herrschen. »Merkwürdig,« sagte Arvid leise – »wie ruhig noch alles ist. Als ob wir auf einem Heringsfänger nach Hause kämen. Aber ich wette, in zwei Minuten wird die Königsschaluppe gesichtet.«

Er hatte richtig vermutet. Nach kurzer Wartezeit bemerkte man am Horizont ein weißes Motorboot, und dumpfe Kanonenschläge erklangen von der Küste her. Jetzt belebte sich Oda Marie. »Deine Eltern,« flüsterte sie. – »Du kennst sie ja.« – »Mir ist es trotzdem, als sähe ich sie zum erstenmal.« – Die Königsschaluppe fuhr dem Dampfer nur bis Ortrudslust entgegen – dieses Schloß war der Sommersitz der Königin an offener See. Hinter ihm begann das Wattenmeer, das in den Hafen von Nordstad leitete. Das junge Paar sollte zunächst in Ortrudslust aussteigen, sich dort für den Einzug vorbereiten und am nächsten Vormittag von dem Staatsschiff in die Hauptstadt gebracht werden. Bald legte die Schaluppe an der Breitseite des Dampfers an. Oda Marie sah den König und die Königin wieder – auch Prinzessin Gunhild, Arvids Schwester, war gekommen. Neben dieser erblickte sie einen kränklich aussehenden Herrn in Zivilkleidung, etwas älter als Arvid und ihm ähnlich – das mußte Johann, der Kronprinz, sein. Er war seines leidenden Zustandes wegen nicht zur Hochzeit gekommen. Oda Marie kannte ihn noch nicht. Rasch eilte sie an Arvids Arm die Schiffstreppe hinunter. König Erik hob seine Schwiegertochter in das schwankende Boot. Die Mannschaften der Schiffe riefen Hurra. Der hohe weißbärtige Monarch hatte etwas durchaus Gewinnendes, wenn man auch in seine hellen Augen niemals recht hineinsah. Nach Udde hatte König Erik gar nicht gepaßt, und neben Herzog Karl war sein Wesen der Schwiegertochter oft zur Pein geworden. Sie hatte sogar ängstlich geforscht, ob Arvid auch innerliche Aehnlichkeit mit dem Vater hatte. Jetzt empfand sie beim Anblick des galanten alten Herrn nur herzliche Rührung; sein warmer Empfang erfreute sie, und sie löste sich ohne Sträuben aus seiner Umarmung. Königin Ortrud war herb und still. Ihr welkes Gesicht zeugte von einem schweren Frauenleben. Sie stand neben ihrem Gemahl, als ob es Königsrollen auf der Bühne darzustellen gälte. Oda Marie aber hielt nichts von Arvids Mutter zurück – sie begrüßte sie zärtlicher als den Vater, denn sie ahnte, daß an dieser Frau etwas gutzumachen war. Dann gab sie dem Kronprinzen die Hand. Sein hageres, blutloses Gesicht war ernst und feierlich, dennoch fühlte Oda Marie sich zu ihm hingezogen. Es war etwas an ihm, das ein tieferes Kennenlernen lohnte.

Eine spitzig dunkle Dame, in jeder Geste und in jedem Wort zeremoniell, wurde Oda Marie vorgestellt. Gräfin Kühlhorn-Wetterstein hatte etwas Gotisches, eine gleichsam architektonische Strenge. Da Arvid aber besonderen Wert auf die Oberhofmeisterin seiner Mutter legte, zeigte sich Oda Marie sehr freundlich gegen sie. Prinzessin Gunhild tat ihr wohl – sie verkörperte die sportliche Jugend Nordstads. Sie war Protektorin vieler Tennis- und Skiklubs. Ihr jünglingshaftes Wesen kam Arvids Frau nicht nahe, aber es hatte wenigstens das Zuverlässige einer Natur. Oskar Löwenstern wurde von seiner Gattin, der Palastdame der Königin, begrüßt. Eine elegante, bizarre Frau sah Oda Marie – ihre Bewegungen hatten schlangenhafte Anmut. Vor solchen Frauen wurde sie stets unsicher, denn sie fürchtete ihre Neigung ebenso wie ihre Feindschaft.

Man schritt zum Schlosse Ortrudslust hinauf. Oda Marie bewunderte den graziösen Marmorbau über der blauen See und sah die Königin zum erstenmal lächeln. Das Entzücken der jungen Schwiegertochter tat ihr wohl. Sie freute sich, daß der König, der nicht gern in Ortrudslust war, dies hören mußte. »Nicht wahr, es ist schön, liebes Kind?« sagte sie mit ihrer matten Stimme. »Es ist mir lieb, daß du unser Land zum erstenmal an dieser Stelle betrittst.« Ihre Worte kamen Oda Marie lange nicht aus dem Sinn. In all dem Glanz drückten sie auf ihr wie etwas namenlos Trauriges. Als ob sie einen fremden Strand betreten hätte, der wie ein Schicksal wartete, fühlte sie sich. Jetzt erst fiel ihr der Abschied von Udde aufs Herz. Rasch blickte sie auf Arvid und suchte Trost. Aber er bemerkte ihre Regung nicht. Er fragte die Gräfin Löwenstern nach Menschen, die Oda Marie nicht kannte.

Man übernachtete in Ortrudslust. Am nächsten Vormittag lag »König Sigurd«, das Staatsschiff von Nordstad, am Fuße der Schloßtreppe. Oda Marie wäre am liebsten in Ortrudslust geblieben. Sie fürchtete die große Stadt und sehnte sich nach Zurückgezogenheit. Vor Arvid beherrschte sie sich. Sie sah ihn im Banne seiner Heimat: so fremd ihr vieles war – sie verstand doch diese Regung in ihm. Ihm mußte es viel sein, mit seiner jungen Frau von allen Großen des Landes in die Hauptstadt eingeholt zu werden.

Diese Erwägung beruhigte Oda Marie. Sie sah wieder einen Halt für ihr Empfinden. Sie wollte zu all den Tausenden hinüber, deren Schicksal das ihrige wurde. Wenn sie vielleicht die Mittlerin zwischen Nordstads Fürstenhaus und Volk war, stellte man ihr eine große Aufgabe. Froh und aufrecht stand sie neben Arvid auf dem hohen Prunkschiff. Bewundernde Blicke umgaben sie. Arvid sah plötzlich seinen Bruder an, der still und ernst war, ohne den gewohnten sarkastischen Zug. Da zog Arvid plötzlich die Hand seiner Frau zum Munde und drückte einen heißen Kuß darauf. Oda Marie sah ihn betroffen und mit dankbarem Lächeln an.

Sie fuhren in den Hafen von Nordstad. Ein Wald von bunten Wimpeln leuchtete im Winde. Alle Schiffe hatten geflaggt. An einer Parade von Kriegsschiffen und an einer Handelsflotte verschiedener Nationen kam man vorüber. Ein Hoch in vielen Sprachen klang aus Matrosenkehlen herüber. Boote begleiteten das Staatsschiff. Auf der Mole harrten die Behörden, und hinter ihnen stand unübersehbar, bis tief in die Stadt hinein, die Volksmenge. »Fünfzigtausend Fremde sind in Nordstad,« flüsterte Arvid. »Löwenstern hat es mir eben erzählt.« – Oda Marie nickte, ohne die Zahl zu verstehen. Nun sah sie doch die Majestät der Masse. Ein Warten und Drängen, ein Summen und Rufen, ein Leuchten und Funkeln. In die Stadt hinein zogen sich zwei schimmernde Bänder – das war die Königsgarde, die Spalier bildete, bis zum Schloß. Oda Marie war von dem mächtigen Schauspiel so betäubt, daß ihr erst kurz vor der Landung bewußt wurde, was auf ihre Sinne einschlug. Sobald das Schiff den Hafen erreicht hatte, waren Kanonenschüsse abgefeuert worden. Unablässig donnerten die Geschütze in dem taumelnden Glanz. Als »König Sigurd« aber Anker warf, verstummten sie. Oda Marie sah verwirrt auf Arvid. Er stützte sie, und etwas Weiches, Mitleidsvolles kam auf seine Züge. »Nun komm, Liebling! Nun müssen wir aussteigen – es hilft dir nichts. Herr Milenius wartet schon – der Bürgermeister von Nordstad. Er will uns begrüßen.«

Durch seine Ironie hoffte Arvid sie gefaßter zu machen. Sie schritt an seinem Arm über die Brücke. Geblendet sah sie auf das tausendgestaltige Bild. Der König bemerkte sofort, wie Arvids Frau auf die Nordstader wirkte. In diesem Augenblick vergaß er, daß sein Thronerbe ein kranker Junggeselle war. König Erik betrachtete Arvid als Kronprinzen, Oda Marie als die künftige Königin.

Jetzt hatten alle das Schiff verlassen. Man war vor die Häupter der Stadt gelangt. Bürgermeister Milenius war ein beleibter Mann mit dunklem, kugeligem Kopf; ein dicker Schnurrbart gab ihm Aehnlichkeit mit einem Seehund. Er wurde in der Erregung heftig, seine Huldigungsrede hatte etwas Anklagendes. Oda Marie, in Arvids Landessprache nicht geübt, erschrak anfangs – dann aber merkte sie, daß die scheinbare Strafpredigt aus begeisterten Schmeicheleien bestand. Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Aber ihr freundlicher Dank befriedigte Herrn Milenius – er trat entzückt zurück. Oda Marie konnte, einen prachtvollen Rosenstrauß in der Hand, den Galawagen besteigen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Arvid und seine Frau, König und Königin, Kronprinz Johann und Prinzessin Gunhild – Minister und Behörden schlossen sich an. Der vergoldete Wagen des jungen Paares wurde von der Leibwache eskortiert. Oda Marie sah die Purpurreiter mit den Stahlhelmen und den blanken Schwertern wie Ritter aus vergangener Zeit – sie wirkten nicht als Maskerade auf sie in all dem gesteigerten Leben. Auch die Gegenwart hatte Märchenkräfte. Und draußen sah sie nur in lachende Augen voll Lust und Liebe – tausend Schulkinder standen Spalier und warfen mit ihren kleinen Händen Blüten in den Wagen. Ein Herzenston kam aus jungen Kehlen – Gesundheit, Lebenshoffnung! »Ach, Arvid, die Kinder! Was habt ihr für wunderbare Kinder!« Oda Marie flüsterte es ihrem Gatten zu. Der mußte in seiner goldstrotzenden Uniform ziemlich steif sitzen und hob unablässig die Hand an seine Bärenmütze. – »Sieh nicht nur die Kinder an, Liebling!« erwiderte er flüsternd. »Das ist ja selbstverständlich. Du mußt das Volk ansehen, die Bürger, die Fremden – die dürfen nicht umsonst Hoch rufen. Grüß' doch – ich bitte dich!«

Oda Marie erschrak ob dieser Versäumnis. Plötzlich wurde sie gewahr, daß nicht nur auf der Straße Tausende sich drängten – auch an allen Fenstern, auf allen Balkonen, sogar auf den Dächern standen Menschen und riefen und winkten. Girlanden schmückten die Häuser – Fahnen wehten an hohen Masten. Ueber allem aber leuchtete der wolkenlose Frühlingshimmel. »Prachtvoll,« murmelte Arvid. Er hatte ein ganz rotes, aufgedunsenes Gesicht und feuchte, unstete Augen. »Das ist eine Kundgebung. Nur in Nordstad möglich. Aber die Leute haben auch ein Wetter. Es ist merkwürdig – es gibt ein richtiges Königswetter, Oda Marie – darin wird uns der Himmel bei keiner Gelegenheit untreu.« – Sie lauschte betroffen – er sprach plötzlich in anderem Ton als sonst. Aber er bemerkte ihre Regung nicht. »Grüße doch, grüße, mein Kind! Das ist das Hoftheater! Da steht mein Freund Mosson! Dem muß ich eine Extrafreude machen! Dem nicke ich zu! Bon jour, Mosson! Das vergißt er mir nie!« Oda Marie sah einen großen, bartlosen Mann begeistert seinen Hut schwenken. Trotz dem flüchtigen Eindruck hatte sie bemerkt, daß er etwas Unsympathisches hatte. »Ein Schauspieler?« fragte sie. »Was ist das für ein schönes Denkmal?« – »König August der Dritte! Mein hochseliger Urgroßvater! Jetzt kommen wir gleich zum Schloß!« – Oda Marie sah einen mächtigen Bronzereiter auf gebäumtem Pferde. Ein Genius mit Palmenwedel und ein antiker Krieger geleiteten ihn. Die Sonne tauchte das Denkmal in goldiges Licht. Doch Oda Marie erinnerte sich, auf welche Weise Arvids Ahnherr gestorben war. In einer niedrigen Hafenspelunke hatte man ihn ermordet. Arvid wußte nicht, wie gut Oda Maries Geschichtskenntnis war, und daß diese Tatsache immer einen besonders grausigen Eindruck auf sie gemacht hatte. Das pompöse Reiterdenkmal des ermordeten Königs in all dem Volksjubel entsetzte sie. Arvid sah sie bleich werden, schob den Zufall aber auf Ueberanstrengung. Er streichelte ihre Hand. »Nun fahren wir ins Schloß! Nun freu' dich, Liebling! Nun kommst du in Ruhe und Sicherheit!«


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