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Neuntes Kapitel.

Das königliche Schloß in Nordstad war ein berühmtes Baudenkmal der Barockzeit. Die prachtliebenden Vorfahren König Eriks hatten italienische Meister berufen, und aus der Geschmacksvereinigung der Auftraggeber und Beauftragten war ein wundersames Gemisch entstanden. Die Phantasie des Südens trat in den herben nordischen Raum. Sie wagte sich gleichsam nur an notwendigen Stellen hervor. Stets blieb der strenge Ernst gewahrt. Wie in dem Park, dessen Alleen nicht französisch gestutzt waren, spürte man in den Sälen und Zimmern Natur. Oda Marie empfand Bewunderung für das prachtvolle Schloß. Der Vergleich mit Udde brauchte nicht erst geweckt zu werden – er drängte sich ihr auf. Arvid war ein Kind dieses Schlosses, wie sie ein Kind des freien Landes war. Aber sie dankte ihrem Vater zu viel Selbständigkeit, um sich in den majestätischen Räumen einsam zu fühlen. Sie verstand und liebte echte Kultur. Hier sprach alles so lebendig zu ihr, daß in ihrer Seele mehr Bewegung herrschte, als die Menschen der Umgebung vermuteten.

Menschen freilich fehlten ihr – nur die Dinge waren echt und schön. Noch hatten die Dinge Kraft genug, ihr zu genügen. Der Inbegriff des Menschlichen blieb ihr ja Arvid. Von ihrer Liebe getragen, erzog sie sich zur Hoffnung. – Die Wohnung, die dem jungen Paar angewiesen worden, befand sich an der Wasserfront. Das Königsschloß in Nordstad hatte eine notwendige und charakteristische Lage – es herrschte zu Wasser und zu Lande. Ein breiter Strom, der in das Meer floß und den Hafen bildete, trennte die Altseite der Stadt von der neuen. Seit Jahrhunderten dominierte im alten Teil das Schloß, hinter dem sich der Dom erhob und ein mittelalterliches Gewirr von Gassen. Der dem Dom zugewandte Park war nicht groß und schlief mit seinen uralten Bäumen, als ob da hinten ein Asyl der Vergangenheit wäre. Großstädtischer Verkehr war nur jenseits des Stromes in der Neustadt. Ein ehrfürchtiges Verhältnis, wie zu etwas Heiligem, durch die Zeiten Ragendem, behielt die moderne Stadt zu dem Königsschloß. Auf dem Kaiufer war die große Promenade Nordstads. Hier zeigte sich das bunte Leben der Weltkinder. In ihrer frohen Beweglichkeit, die viel geheime Not übertünchte, wanderten sie am Ufer hin und her. Zwischen ihnen und dem stillen Königsschloß floß der Strom; weiße Schwäne zogen wie Wachtposten durch das Wasser. Es war eine Gewohnheit des Nordstaders von Kindesbeinen auf, am Geländer zu stehen und zu den efeuumrankten Fenstern des Schlosses hinüberzublicken. Er lebte ein rätselhaft flüchtiges Leben und kombinierte gern, wie die Königsmenschen drüben leben mochten. Der Majestät ihres Heims traute er alles Edle und Dauernde zu. Nur schade, daß König und Königin alte Leute waren. Sie fühlten nicht mehr mit, was die Jugend wünschte. Kronprinz Johann war unpopulär. Ein kranker Thronfolger in Nordstad! Ueber diesen furchtbaren Widersinn kam der ärmste Fischhändler an der Kaitreppe nicht fort. Man scheute sich vor dem bleichen, frauenfeindlichen Prinzen, der einst nach Eriks Königskrone greifen würde. Heimliche Wünsche ließen ihn sterben, vor der Zeit. Und dann? Dann kam Arvid, der schöne Arvid. Wie oft hatte man ihn gehaßt, wie oft hatte man sich über ihn lustig gemacht. Aber man liebte ihn auch. Er hatte Kraft – die liebte man am meisten. Nun hatte er sich eine junge Frau in das Königsschloß geholt. Eine junge, wunderschöne Frau, die mit ihrem Lächeln Reichtümer austeilte. Man sah sie selten, aber man vergaß ihren Anblick nicht mehr.

Oda Marie war eine Fremde. Doch das Mißtrauen zerflog vor ihrer Anmut. Die Nordstader dachten: in einer jungen, schönen Frau leben alle königlichen Möglichkeiten. Darum bekam ihr Blick auf das Schloß wieder Inhalt. Man wußte, daß Jugend hinter den verhüllten Fenstern wohnte. Man stellte sich zwei dunkle, sehnsüchtige Augen vor, die auf die neue Stadtseite blickten.

Arvid fiel es bald auf, daß seine junge Frau soviel allein war und am Fenster auf die Neustadt blickte. Er war Nordstader genug, um die Gewohnheit seiner Landsleute der Gattin gegenüber unwürdig zu finden. Unbestimmte Eifersucht regte sich in ihm. Er fühlte Wünsche in Oda Marie, die nicht an seiner Person hafteten. Um sie zu bekämpfen, wählte er den falschesten Weg. Als Oda Marie wieder einmal am Fenster stand, trat Arvid plötzlich hinter sie und ergriff ihre Hand. Sie wandte sich erschrocken um. »Was tust du denn hier, Liebste? Frau Sörensen erzählt mir, daß du stundenlang am Fenster stehst, während ich im Klub bin oder Dienst habe. Es soll schon vorgekommen sein, daß du den Empfang der Königin darüber versäumt hast. Langweilst du dich so? Muß man besser für dich sorgen? Aber ich dachte, du hast an deiner Musik genug Zerstreuung. Ich wagte es gar nicht, dir mehr Sport oder Gesellschaft vorzuschlagen.« – Oda Marie trat an seinem Arm in das Zimmer zurück – der Vorhang schloß sich über dem Fenster. Leise Verstimmung zeigte sich auf den Zügen der jungen Frau. »Wir spielen ja täglich Tennis, Arvid. Das Gesellschaftliche möchte ich nicht noch vergrößern – unser Oberhofmarschall hat ohnehin schon ein langes Programm. Laß mir das bißchen Alleinsein. Ich habe so viel in mir zu ordnen. Und Frau Sörensen – wie kommt es, daß Frau Sörensen dir von meinen Gewohnheiten erzählt? Sie ist Kammerfrau der Königin – es wäre mir nicht einmal lieb, wenn meine eigenen Dienstboten von mir zu dir gingen.«

Diese Zurückweisung war energischer, als Arvid sie erwartet hatte. Auflehnung der Fremden gegen üble Traditionen seiner Heimat verletzte Arvid, weil sie ihn beschämte. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und er löste sich von Oda Maries Arm. Sie sah ihn bittend an: »Habe ich nicht recht, Arvid?« – Er ging im Zimmer umher. »Nein, liebes Kind, du hast unrecht! Und ich möchte die Gelegenheit nicht vorüber lassen, ohne über mancherlei mit dir zu sprechen!« – »Was gibt es denn zwischen uns, wozu die Gelegenheit erst kommen mußte? Sprechen wir nicht über alles miteinander?« – »Doch nicht. Ich fürchte mich, offen gestanden, davor. Ich will dein Bestes, aber ich weiß nicht, ob du mich verstehst.« – »Ich will dich immer verstehen und alles, was dich umgibt, Arvid. Du weiß ja, daß ich uns für viel zu abgeschlossen halte. Eigentlich sind wir Fürsten Gefangene. Ich will später ganz energisch in das Leben drüben hinein. Aber bevor ich es anpacke, muß ich die Menschen, um die es sich handelt, kennen. Ich bin vorläufig auf die Beobachtung am Fenster angewiesen. Was hast du dagegen?« – »Du bist keine Kleinbürgerin, Oda Marie. Du weißt nicht, daß die Gewohnheit, am Fenster zu stehen, einer königlichen Prinzessin widerspricht.« – »Ich stehe weder als Kleinbürgerin noch als königliche Prinzessin am Fenster. Aber wollen wir über diesen Streit nicht lachen, Arvid?« – »Ich weiß nicht, ob er so lächerlich ist.«

Er sah jetzt, daß ihr schönes Gesicht traurig wurde. Von diesem Anblick ergriffen, legte er den Arm um sie. »Liebling! … Ich nehme dir nicht gern, was dich freut – aber ich will doch dein Bestes! Ich sehe dich in einer Gefahr – die müssen wir unschädlich machen!« – »Gefahr?« – »Komm da aufs Sofa und hör' mich an. Ich will ganz offen gegen dich sein. Ich habe mich nach allen Seiten informiert – dein Erfolg in Nordstad steht außer Frage – da kannst du ganz ruhig sein.« – »Erfolg?« – »Nun ja – der Ausdruck ist dir wohl nicht fein genug? Ich meine natürlich: du hast dir die Herzen erobert – man bewundert dich. Aber um so mehr möchte ich dich vor Fallstricken bewahren. Du verstehst mich nicht? Jeder prominente Mensch hat doch seine Feinde. Daß ich sie habe, ist selbstverständlich – ich rechne mehr damit, als mit Freunden. Du bist meine Frau – du teilst nicht nur die Annehmlichkeiten meines Standes mit mir. Man bewirbt sich um dich, und die Ablehnung, die du den Unsympathischen zuteil werden läßt, genügt, um sie zu deinen Feinden zu machen.«

Oda Marie hatte aufmerksam zugehört. »Gewiß,« sagte sie nickend. »Das mag wohl sein. Aber man kann nicht darauf achten, wenn man wirklich etwas zu tun hat.« – »Kind! …« – »Liebster Arvid – sind das königliche Sorgen? Man muß eben einsam sein unter den vielen.« – »Das sind wieder die großen, allgemeinen Begriffe – mit denen fängt man im praktischen Leben nichts an. Du bist mir etwas so Hohes und Empfindliches, daß ich dich nach allen Seiten hin decken möchte. Jetzt machst du endlich ein Gesicht, als ob du mich verstehst. Ja, Oda Marie. Du hast mir übelgenommen, daß ich auf Frau Sörensen gehört habe? Meine Spionin ist sie nicht.« – »Ich halte sie auch nicht dafür. Der ganze Begriff fällt für mich fort. Aber ich halte Frau Sörensen für einen minderwertigen Menschen. Sie ist scheinheilig und käuflich. Sie bewirbt sich um Dinge, die für sie unerreichbar sein müßten.« – »Ganz gewiß! Unterschreibe ich vollkommen! Du hast einen prachtvollen Blick! Es freut mich direkt, daß du die Sörensen so rasch erkannt hast! Das kann von großem Nutzen für dich sein!« – »Aber sie ist doch kein Faktor, Arvid!« – »Laß dich warnen, Oda Marie! Ich kenne Beispiele, wo ein Ministerpräsident um die Gunst einer Kammerfrau gebettelt hat, wo eine königliche Prinzessin durch sie vor dem Zorn ihres Vater gerettet wurde!« – »Du willst doch nicht damit andeuten, daß Jakob Kadmus oder deine Schwester –« – »Ich nenne keine Namen! Frau Sörensen ist auf alle Fälle kein Dienstbote für dich!«

Oda Marie näherte sich dem Fenster. »Um sie menschlich zu werten,« flüsterte sie, »dazu fehlt ihr aber alles. Ich kann nur einen Dienstboten in ihr sehen, wie in der Gräfin Kühlhorn die Oberhofmeisterin und in Herrn Schönwetter den Schloßkaplan.« – Arvid folgte ihr. »Ruhig Blut, mein Kind. Es handelt sich um Menschen, die wie eine Phalanx um die Königin herumstehen.« – »Arvid, du sprichst von deiner Mutter.« – »Gewiß. Aber ich sehe sie als meine Mutter nur jedes Jahr zwei-, dreimal. So bin ich aufgewachsen. Das ändert man mit schönen Worten nicht. Man mißtraut mir und traut mir dadurch das Richtige zu. Du bist vor Mißtrauen geschützt – selbstverständlich. Deine ganze Persönlichkeit schützt dich davor. Aber man könnte dich plötzlich anders behandeln, als ich es dulden würde. Man könnte auf dich herabblicken. Das muß unter allen Umständen verhindert werden.« –

Sie stand an das Fenster gelehnt und sah ihm klar in die Augen. »Was verlangst du denn von mir?« – »Warum attachierst du dich nicht mehr an meine Mutter? Sie ist eine der vornehmsten Frauen, die es gibt – wahrhaft religiös und gebildet. Aber ich habe es von der Kühlborn-Wetterstein, daß du nur bei ihren Empfängen mit ihr zusammentriffst.« – »Das wäre ein Vorwurf, wenn ich ihn verdiente. Glaubst du denn, ich habe nicht zuerst deine Mutter gesucht? Im Anfang war es so, wie du mir in Udde gesagt hast. Aber dann kam plötzlich etwas zwischen uns, als ob das Schöne und Echte nicht sein sollte. Ich glaube, ich bin ihr etwas – aber sie fürchtet sich vor dem, was ich ihr sein könnte.« – »Sehr gut! Ausgezeichnet! So ist meine Mutter! Aber dann laß es doch dabei bewenden! Die Hauptsache ist doch, daß man weiß, du gehörst zu ihr!« – » Man soll es wissen? Wer, Arvid?« – »Diese unschuldige Frage ist sehr spitzfindig – nimm mir's nicht übel! Du mußt doch mit deinem scharfen Verstande schon gemerkt haben, daß es an unserem Hofe zwei Parteien gibt, zwei Gruppen möcht' ich sagen, die sich unaufhörlich bekämpfen, natürlich mit den sublimsten Mitteln? An der Oberfläche merkt man nichts – die ist wie das Meer bei Windstille. Aber unten, in der Tiefe, da jagen und beißen sie sich – da wird fortwährend einer zugrunde gerichtet.« – »Sind das Konflikte, mit denen das Volk etwas zu schaffen hat?« – »Bewahre, das sind ganz persönliche Konflikte. Aber da es sich um König und Königin handelt, gehen sie natürlich auch das Volk an.« – »Dazu wird mein scharfer Verstand nicht reichen, Arvid. Ich bin der Ueberzeugung, daß man erst mit sich selbst fertig sein muß, bevor man zum Volke geht.« – »In Utopia, liebes Kind. Du wirst doch bemerkt haben, daß die Beziehungen meiner Eltern – wie soll ich das ausdrücken –, daß ihr Zusammenleben erkaltet ist? Sie führen eine höchst moderne Ehe – sie kennen und bekämpfen sich. Danach richtet sich alles. Man hält zum König oder zur Königin. Das bildet die beiden großen Parteien. Für eine von ihnen muß man sich entscheiden!« –

Oda Marie ging an Arvid vorbei in den Hintergrund des Zimmers. Es dunkelte schon. Er sah, daß sie sich auf das Sofa niederließ und plötzlich das Gesicht in die Polster barg. Ihr Körper zuckte. Weinte sie? Rasch war er neben ihr. »Oda Marie – ich bitte dich! Womit habe ich dich beleidigt?« – Sie entzog sich ihm. »Jetzt nicht,« stieß sie hervor. »Jetzt hast du mich nicht beleidigt! Jetzt bist du ja hier! Aber in Udde – da hast du mir nichts gesagt! Da hast du ganz anders von deinen Eltern gesprochen!« – »Jawohl! In deiner Umgebung!« – »Ja, Arvid!« – »Als wir uns fanden! Ich glaube, daß ich da gesprochen habe, wie ich sprechen mußte!«

Nach diesen Worten ließ Arvid Oda Marie allein. Als er in sein Arbeitszimmer trat, sah er, daß Sünlund, sein Kammerdiener, soeben eine neue, mit Blumen gefüllte Vase auf den Schreibtisch stellte. »Was soll das?« herrschte Arvid ihn an. »Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten, ein Geschenk ohne meine Zustimmung anzunehmen?« – »Königliche Hoheit mögen gnädigst verzeihen – ich dachte, eine so kostbare Vase –« – »Das ist ganz gleichgültig! Du hast davon auszugehen, daß die Gewohnheiten meiner Junggesellenzeit nicht mehr gelten! Von wem ist denn die Vase? Anonym natürlich?« – »Es liegt ein Brief dabei, Königliche Hoheit.« – Als der Prinz nicht antwortete, entfernte sich Sünlund. Die Vase nahm er nicht mit. Auf dem Korridor sagte er sich, daß sein Herr wohl wieder Aerger mit der Frau Prinzessin gehabt habe. Da tue ihm der Blumengruß ganz gut. Arvid öffnete inzwischen den Brief. Er enthielt nur die Worte: »Im Namen der verlassenen Punschseelen, die nur trauern, nicht zürnen. O Jugend! Jugend! Wieviel Feinde hast du doch!« Es war Asta Karlssons Hand. Eine kluge, aber freche Person. Die anderen hatten nicht unterschrieben – das wagten sie nicht. Also ein Gruß aus Grimms Keller! – Welche Unverschämtheit, ihm den ins Schloß zu schicken! Glaubten sie vielleicht, daß er jetzt noch Beziehungen zu ihnen unterhalten würde? Sie wußten doch, daß alles zu Ende war. Er hatte es ihnen durch Löwenstern sagen lassen. Jegliche Verbindung sollte aufhören. Es war ein peinlicher Zufall, daß sie den frechen Versuch gemacht hatten, als er ….

Arvid ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer umher. Zuweilen warf er einen halb bösen, halb sehnsüchtigen Blick auf die Blumen. Diese stummen Boten erzählten viel. Aber er durfte sie hier nicht stehen lassen. Er mußte Sünland unbedingt den Befehl geben, die Blumen zu vernichten, die Vase zu verschenken. – Asta Karlsson, Ethel Night, Panadelphos, Maurice Mosson … Arvid kam von Erinnerung zu Erinnerung. Am nächsten Tage stand die Vase auch noch auf dem Schreibtisch. Sie blieb darauf, als die Blumen aus Grimms Keller längst verwelkt und von Sünland durch königliche Treibhauspflanzen ersetzt waren. –

Oda Marie bewahrte Treue gegen sich selbst. Als Arvid sie im Zorn verlassen, verzagte sie nicht. Sie überlegte. Sie wollte ihn wirklich verstehen, nicht ihm Vorwürfe machen. Das forderte die neue Umgebung. Arvids Mutter als Haupt einer Partei zu sehen, war ihr unmöglich – aber sie suchte sie auf, um im besseren Sinne zu ihr zu gehören. Erstaunt sah die Königin zu so ungewohnter Stunde Oda Marie eintreten. Diese bemerkte, daß ein erfreutes Lächeln auf das welke Gesicht der Königin kam. »Liebe Mutter, ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich hätte diesen Besuch schon viel früher wagen sollen.« – Die Königin umarmte sie. »Ich freue mich sehr, Oda Marie. Wer hat dich denn dazu veranlaßt?« – Oda Marie wollte antworten, sah aber plötzlich die Gräfin Kühlhorn-Wetterstein, die das Kabinett nicht verlassen hatte. Da tat sie ihren ersten Diplomatenzug: »Ich allein habe mich veranlaßt.« Ihr befremdeter Blick auf die Oberhofmeisterin irritierte diese nicht – sie blieb, und die Königin schickte sie nicht fort. »Unsere gute Sörensen berichtet mir, daß du immer allein seist,« sagte Arvids Mutter, nachdem man sich niedergelassen hatte. »Das tut mir leid. Arvid darf ja seine Pflichten nicht vernachlässigen, das hat er früher schon genug getan. Aber den Klub könnte er als junger Ehemann doch aufgeben. Es schadet entschieden der Reputation, wenn er seine junge Frau der Langenweile überläßt. Nicht wahr, liebe Wetterstein?« – Auf das Pergamentgesicht der Gräfin kam ein Lächeln, das unheimlich wirkte, denn die Augen blieben finster und erloschen. »Ohne Zweifel, Majestät.«

Oda Maries Mut war gesunken. Aber sie faßte sich. »Arvid überläßt mich nicht der Langenweile, liebe Mutter – im Gegenteil, ich werde mich ihm nicht mehr so widmen können wie sonst. Es drängt mich zur Arbeit. Er überläßt es mir auch, wie ich mich beschäftigen will.« – Die Königin sah ihre Oberhofmeisterin an. »Ich staune, liebes Kind. Was für eine Arbeit meinst du denn?« – »Hoheit verzeihen gnädigst, daß ich mich untertänigst einmische – aber Hoheit wenden einen Ausdruck an, der für die Gemahlin des Prinzen Arvid etwas ungewöhnlich ist,« bemerkte die Gräfin mit Stockschnupfenstimme. – »Sie dürfen sich nicht nur auf gewöhnliche Ausdrücke bei mir gefaßt machen, Exzellenz,« erwiderte Oda Marie. »Aber dir, liebe Mutter, will ich jetzt sagen, um was es sich handelt. Ich möchte mich möglichst bald in allen sozialen und charitativen Einrichtungen betätigen.« – »Pardon, liebes Kind. Diese Absicht ist sehr löblich. Aber du brauchst das Wort ›sozial‹ – das wende doch bitte nicht an. Du möchtest in aristokratischen Kreisen Protektrice werden – nicht wahr?« – »Gewiß; aber sozial und aristokratisch widersprechen sich doch nicht? Ich habe nicht sozialdemokratisch gesagt.« – »Du bist auch in Nordstad.« – »Ja, ich bin nicht mehr in Udde. Meine Wirksamkeit muß ich hier erst gewinnen. Ich freue mich darauf. Das Feld ist tausendmal so groß.« – »Wirklich?« – »Ich bilde mir natürlich nicht ein, daß man auf mich hier gewartet hat. Ich zweifle auch nicht, daß die sozialen Bestrebungen in diesem Lande sehr weit fortgeschritten sind. Aber sie brauchen um so mehr Arbeiter, nicht wahr – praktische Arbeiter. Das ist die einzig wichtige Protektion.«

Während Oda Marie sprach, fühlte sie, daß sie die Zügel schon verlor. Sie kam von ihrem eigentlichen Zweck ab. Die Mienen der Königin und der Gräfin reizten sie dazu. Arvids Mutter hatte den Ausdruck freundlicher Ueberraschung längst verloren, höher als je türmte sich die Schranke zwischen ihr und der Schwiegertochter. Der plötzliche Besuch schien ihr jetzt peinlich zu sein. In übler Nervosität begann sie gegen einen eingebildeten Angriff Schutz zu suchen. »Du wirst dich überzeugen müssen, liebes Kind, daß nichts verabsäumt worden ist,« sagte sie, ihren ängstlich-hochmütigen Blick nicht von der Gräfin lassend. »Unsere Wohltätigkeitsanstalten sind mustergültig – ich besichtige sie jedes Jahr. Selbstverständlich wird dir deine Tätigkeit nur in einem Umkreis möglich sein, der deiner Stellung entspricht.« – Oda Marie fuhr auf. »Verzeihung, liebe Mutter! Hängen denn persönliche Neigungen von unserer ›Stellung‹ ab?« – »Ganz gewiß! Keine königliche Prinzessin darf einen gesellschaftlichen Schritt ohne meine Zustimmung unternehmen! Du wirst also mit deinen Wünschen zu mir kommen müssen, liebes Kind, oder vielmehr zur Gräfin Kühlborn-Wetterstein, die sie mir vorlegen wird!« – Die Oberhofmeisterin nickte lächelnd. – Oda Marie rang mühsam nach Fassung. »Ich glaube noch nichts getan zu haben, liebe Mutter, das dem widersprochen hätte. Warum werde ich so mißverstanden? Den Umweg über eine Fremde wirst du mir hoffentlich ersparen?« – »Befehlen Majestät noch ferner meine Anwesenheit?« fragte die Gräfin mit hochgezogenen Schultern. – »Sie bleiben, liebe Wetterstein. Mäßige dich, Oda Marie – sonst kann ich dich nicht länger anhören!« – »Wohin sind wir denn geraten?« – »Ich weiß nur, daß du bei mir eingedrungen bist und mir Vorwürfe machst!« – »Ich will mir ja Wege von dir weisen lassen.« – »Ich habe sie dir gewiesen!« – »Dann bitte ich um Verzeihung, daß ich Ihre Majestät gestört habe!« –

An einem klaren Winterabend fand Löwenstern seinen Herrn allein im Arbeitszimmer. Er hatte beim Eintritt noch bemerkt, daß Arvid den Kopf in die Hände gestützt hatte. In einer Stellung einsamen Schmerzes war dieser Prinz noch nicht gesehen worden. Das Unmögliche wurde möglich. Arvid stand auf und ging erregt umher. »Nun wissen Sie ja, was Sie nicht wissen sollten!« stieß er hervor. – Der kluge Adjutant stand regungslos. »Noch weiß ich gar nichts, Königliche Hoheit. Ich fürchte auch, daß ich Ihr wahres Vertrauen längst verloren habe.« – Arvid blieb vor ihm stehen. »Das ist nicht wahr! Wie kommen Sie darauf? Ich vertraue Ihnen wie sonst, aber ich scheue mich vor Ihnen. Verstehen Sie denn das nicht? Sie haben doch die entscheidende Zeit mit erlebt! Sie müssen meinen Glauben an die Zukunft geteilt haben! Da ist es ganz natürlich, daß ich eine gewisse Enttäuschung vor Ihnen verbergen will – nicht wahr?« – »Enttäuschung, Königliche Hoheit?« – »Wollen Sie vielleicht mit einer Engelsmiene fragen, wer mich enttäuscht hat?! Sie wissen es wohl! Hier wissen es alle! Ich bin nicht glücklich. Das Unglaubliche ist da: ich habe geheiratet und bin nicht glücklich!« – »Das ist freilich horrend, Königliche Hoheit. Das erschüttert mich tief. Ich habe mich also nicht geirrt, als ich eintrat? Aber die Vorzüge der Prinzessin sind doch so groß –« – »Daß man sich mein Unglück nicht vorstellen kann? Ja, lieber Freund! Ich kann es selbst noch nicht glauben! Ich vergöttere meine Frau! Aber irgend etwas treibt mich von ihr fort! Wir verstehen uns nicht, wir reden verschiedene Sprachen! Sie steht lieber am Fenster und starrt auf den Pöbel drüben, als daß sie ihre heiligsten Pflichten erfüllt! Ich störe sie nur – sie zwingt sich fast, mit mir zu sprechen! Und warum?« – »Die Prinzessin ist bei Ihrer Majestät gewesen.« – »Ich weiß! Mit dem traurigsten Resultat! Meine Mutter und sie sind jetzt Feindinnen! Die Kühlhorn-Wetterstein haßt meine Frau! Ich hab' es der Sörensen angemerkt, daß der Bischof alles aufwenden wird –« – »Nicht doch, Königliche Hoheit! Das ist entschieden zu schwarz gesehen! Meine Frau ist vollständig orientiert und läßt mich jede neue Wendung wissen! Königliche Hoheit können ganz beruhigt sein!«

Dieser Hinweis wirkte auf Arvid. Er warf sich in einen Sessel. »Jedenfalls bin ich todmüde, Oskar. Ich möchte jetzt zu ihr gehen und weiß genau, daß ich sie in der ›Arbeit‹ stören würde. Diese verfluchte Arbeit! Sie liest schmutzige Folianten aus der Bibliothek, sie treibt nationalökonomische Studien, um die Geschichte unserer Arbeiter kennenzulernen! Eigentlich ist es ja rührend – dieses junge, wunderschöne Geschöpf! Aber wenn ich sie dabei finde – ich sage Ihnen, Oskar, ich bin meiner selbst nicht sicher! Ein schauderhafter Zorn kommt über mich! Ich möchte ihr die Bücher aus den Händen reißen! Und –!« – »Königliche Hoheit!« – »Ich tu's ja nicht! Ich geh' ja lieber gar nicht mehr hin! Ihr ganzes Wesen ist ein Vorwurf für mich! Als ob der alte Herzog vor mir säße! Was hast du aus meinem Kinde gemacht? Verstehen Sie, mit Grabesstimme, Heldenvaterton! Das heißt – sie redet ja kein Wort!« – Graf Löwenstern näherte sich dem Prinzen. »Darf ich ein offenherziges Wort wagen, Königliche Hoheit? Sie sind überreizt. Sie kasteien sich.« – »Was? Was soll das heißen?!« – »Rein geistig gesprochen! Selbstverständlich! Ihre Verehrung für die Prinzessin fordert zu viel von Ihnen! So viel Rücksicht auf eine Frau zu nehmen – ich bitte tausendmal um Verzeihung –, das ist ein fremder Tropfen in Ihrem Blut!« – Arvid wurde dunkelrot, lächelte aber. »Oskar, Sie sind unverschämt! Ich werde immer Rücksicht auf meine Frau nehmen!« – »Ganz gewiß! Aber Königliche Hoheit langweilen sich! Ist das nicht das treffende Wort? Ihr Kampf um die Stimmungen der Prinzessin bringt Sie aus der Bahn! Deshalb möchte ich dringend empfehlen: Lassen Sie die Prinzessin auf der ihrigen, kehren Sie auf unsere zurück!« – »Inwiefern denn? Inwiefern?« – »Nun, durch ganz harmlose Zerstreuungen – unschuldige Emotionen, an denen wir Männer die Welt haben, ohne den Frauen das Geringste zu nehmen!« – »Oskar – ich stehe wie ein dummer Schuljunge vor Ihnen! Was wollen Sie eigentlich von mir?« – »Der Abend ist so wunderschön! Kommen Sie doch wieder mal hinaus, Arvid! Es ist so lange her, daß wir unsere Inkognitowanderung gemacht haben! Harun al Raschid und sein Großwesir – wissen Sie noch? Die Posten unten sind gut dressiert! Niemand achtet auf uns! Kommen Sie! Drüben wartet das Leben!« – »Merkwürdig. Dasselbe meint Oda Marie.« – »So dürfen Sie es ganz gewiß meinen!« –

Nach wenigen Minuten schritten zwei Herren, den Hut ins Gesicht gedrückt und den Mantelkragen hochgeschlagen, über die Schloßbrücke zur Neustadt hinüber.


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