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Fünftes Kapitel.

Herzogin Mathilde kannte die Nordstader. Am Abend des ersten Tages schon saß Graf Löwenstern am Schreibtisch und schüttete seiner Gemahlin Selma, verwitweten Baronin Drontheim, geborenen Neumann, sein Herz aus. Er wußte, daß die hübsche, intrigante Frau gewissermaßen Zentrale dessen war, wovon man bei Hofe sprach. Lucie Neumann, eine ehemalige Variétésängerin, genoß in der Ehe die Freiheit, die sie ihrem Gatten gab. Wie fern sie sich aber in ihren Gefühlen gerückt waren, so nahe blieben sie sich in ihren Interessen. Indem sie einander die Karriere begünstigten, versöhnten sie ihre Herzen.

Nach einer ausführlichen Schilderung des Malliner Hofes wandte sich der Graf zu »Deutsch-Freiland« und gab Arvids Erzählungen wieder, als ob es sich um eigene Beobachtungen handelte. »Ein Schulbesuch steht uns noch bevor,« schloß er diesen Passus seines Briefes. »Da werden wir den Vorzug haben, einen ehemaligen Zuchthäusler als Lehrer der herzoglichen Jugend zu bewundern. Wenn Du diesen Magister mit dem schönen Namen Kluckhahn sehen würdest, sagtest Du auch gewiß: bei dem hört man noch die Ketten rasseln. Ist es nicht unglaublich, sich vorzustellen, daß ein Fürst von Prestige auf die Marotte kommt, seinem Vaterlande auf diese Weise zu nutzen? Durch Sanktionierung der revolutionären Brut? Ich kann mir nur vorstellen, daß dieses ›Deutsch-Freiland‹ ein Ende mit Schrecken nehmen oder als Hirngespinst eines Narren betrachtet wird. Ob es sich um einen ungefährlichen Narren handelt, das wage ich stark zu bezweifeln.

Die letzten Bemerkungen bitte ich Dich ganz unter uns zu lassen, liebe Selma. Nicht, als ob ich sie zu fürchten hätte – was kümmern uns Nordstader die Malliner? Aber ich möchte nicht vergessen, daß ich auf Udde Gast bin, wenn auch notgedrungen als Adjutant meines Herrn. Einige Sarkasmen über die kostbare ›Kolonie‹ kannst Du ja bei passender Gelegenheit Ihrer Majestät direkt zuführen – das nimmt sie gewiß nicht übel, und wer weiß, ob sie es im Interesse ihrer armen Schwester nicht gern hört. Du wirst das ja reizend machen. Aber wenn Du auch eventuell so weit gehen kannst, die Bauernprinzessinnen hineinzuziehen und den Empfang am Bahnhof, so bitte ich Dich, den Spott keinesfalls auf Oda Marie auszudehnen. Aus dreierlei Gründen, einer immer wichtiger als der andere. Erstens war Oda Marie nicht auf dem Bahnhof – zweitens hat ihre ganze Person einen unwiderstehlichen Charme – und drittens, höre und staune, interessiert sich Prinz Arvid dermaßen für sie, daß wir unseren berühmten weiten Blick bewähren müssen.

Ich möchte Dir deshalb folgendes raten: Der Königin sage, daß ich von Oda Marie entzückt sei, aber sage es mit Maß, sonst spricht es nicht genug für sie. Es muß auf meiner Seite Respekt bleiben. Was aber das wichtigste Resultat dieses Besuches, Arvids Gefühle, betrifft, so müssen wir beide einen Plan schmieden, der von enormer Tragweite sein kann. Für heute nur dies: ich habe Anzeichen, daß Arvid liebt. Das Wort kommt einem alten Nordstader schwer aus der Feder – aber in diesem Falle muß ich es anwenden. Ich habe den elektrischen Kontakt gefühlt. Du verstehst. Ein Einfluß der Malliner Verrücktheit auf ihn ist nicht zu befürchten. Sonst hätte Jakob, der große Fuchs, diesen Besuch nicht geduldet. Nein – es handelt sich nur um das Mädchen. Sie gefällt Arvid, und es ist wahrscheinlich, daß er sie nicht mehr losläßt. Daß diese Oda Marie für eine Heirat ersten Ranges bestimmt ist, bezweifelt man nicht, wenn man sie kennt. Wir müssen also mit ihr rechnen. Du kennst meine Prophezeiungen. Der Kronprinz ist wurmstichig – das ist für uns kein Geheimnis mehr. Ich glaube nicht, daß er den Thron besteigen wird. Dann ist Arvid der Mann am Steuer. Wir werden wohl gerade in die Jahre kommen, wo man ›etwas zurücklegen‹ möchte, wenn Oda Marie die Krone der heiligen Ortrud trägt. Wer ihr Manager gewesen ist, hat später einmal gewonnen. Aber zur Königin direkt selbstverständlich kein Wimperzucken. Ich rate Dir, die Sörensen zunächst zu orientieren, aber mit dem ausdrücklichen Befehl, zur Königin nur allgemein, deutlich dagegen zur Kühlhorn-Wetterstein zu werden. Das wird ja die geniale Kammerfrau bestens besorgen. Die Wetterstein bringt es dann zum Kaplan, und der läuft damit zum Bischof. So ist die wichtigste Instanz im voraus gewonnen, und die Königin findet, ohne im geringsten mißtrauisch zu werden, eine allgemeine Sympathie für das Mädel. Damit kommt es dann um so wirksamer zum König. Das ist natürlich alles Zukunftsmusik, aber Du weißt, ich habe mich in solchen Dingen nie geirrt. Nun lebe wohl, teuerste Selma – man soll nicht länger Licht an meinem Fenster sehen – deshalb schließe ich und gehe schlafen. Ich bleibe Dein Dich zärtlich verehrender Oskar Löwenstern.« –

Prinz Arvid fing am nächsten Morgen ein neues Leben an. Er glaubte ein richtiger Frühaufsteher geworden zu sein, fand aber, als er in den Garten hinunterkam, die Prinzessinnen Gertrud und Elisabeth schon beim Tennis. Oda Marie und ihre Mutter waren noch nicht zu sehen. Die leidende Herzogin ruhte vormittags. Oda Marie aber, so vermutete Arvid eifersüchtig, steckte gewiß schon in »Deutsch-Freiland«. Das Spiel der jungen Mädchen interessierte ihn nicht, er wollte reiten und begab sich mit Löwenstern zu den Ställen. Von einem sehr ländlichen Stallknecht geführt, kam man zu den Reitpferden. Hier traf man zu Arvids freudiger Ueberraschung Oda Marie. Der Prinz begrüßte seine Cousine mit einer Herzlichkeit, die ihr auffallen mußte. Sie konnte herausfühlen, daß er sich nach ihr gesehnt hatte. Errötend trat sie zu einer schlanken Fuchsstute. »Die ist gut!« rief Arvid bewundernd. »Was sagen Sie zu dieser Entdeckung, Löwenstern? Englisch Vollblut! Der Gaul hat sicher einen feinen Stammbaum!« – »Ja, das ist meine Diana,« sagte Oda Marie und legte ihre Arme um den Hals des Pferdes. »Die hab' ich noch keinem gegeben, aber ich möchte, daß Sie auch in Udde Vergnügen am Reiten haben. Wenn Sie Lust haben, nehmen Sie sie, Arvid!« – Der Prinz wurde ganz rot vor Freude. »Also um meinetwillen sind Sie so früh im Stall? Ich vermutete Sie bei den Kolonisten!« – Oda Marie ordnete an Dianas Mähne. »Dahin will ich erst später. Ich dachte mir, daß Sie nach dem Frühstück reiten wollen. Nehmen Sie bitte den Fuchs! Für Graf Löwenstern steht ein guter Wallach bereit.« – Arvid betrachtete das junge Mädchen. Wieder umschimmerte die Sonne ihr Haupt. »Ich möchte Ihnen einen Gegenvorschlag machen, Oda Marie. Besteigen Sie Ihre Diana selbst, und geben Sie mir irgendeinen anderen Gaul – ich werde mit jedem fertig. Kommen Sie mit! – es ist so wunderbar draußen. Heute erst mal das Vergnügen – dann die Pflicht.« – Oda Marie senkte lächelnd den Kopf. »Eigentlich lernt man es umgekehrt. Aber ich möchte Ihrem Wunsche nicht entgegen sein. Ich komme mit. Am besten wird es sein, Sie suchen sich selbst ein Pferd aus.« – Arvid ging schnell die Stände entlang. »Dieses bitte, wenn ich es haben darf!« sagte er, auf einen Rappen zeigend, der sofort stampfte und sich erregt nach dem Eindringling umsah. – Oda Marie erschrak ein wenig. »Mohr ist unser störrischstes Tier. Er wird eben erst zugeritten.« – »Um so besser. Dann kriegt er gleich was zu fühlen. Nur keine steife Suse.« Arvid trat sofort zu dem zornig hochsteigenden Hengst hinein und half dem Knecht beim Satteln. Bald wurde der böse Mohr sanfter. Bewundernd grinste der Knecht – was solche echten Reiterhände doch zustande brachten.

Während Graf Löwenstern seinen Wallach musterte, entfernte sich Oda Marie, um ihr Reitkleid anzulegen. In einer Viertelstunde wollte man sich am äußeren Schloßtor treffen. Als sie dann zu dreien die schattige Allee entlangritten, kam das richtige Morgenglück über Arvid. Wie lange hatte er es nicht empfunden! Dem Grafen wollte er heute die höfische Steifheit aus den Knochen bringen – er neckte ihn ohne Unterlaß. Löwenstern nahm es seinem Herrn nicht übel – er wußte ja, welcher guten Quelle dieser Uebermut entsprang.

Bis ins Dorf hinein ritten sie nicht, sondern bogen, von Oda Marie geführt, seitwärts in eine Chaussee ein. Diese Chaussee brachte sie zum Walde, aber auch dort lag nicht das Ziel, sondern die Prinzessin hatte ihre Begleiter durch die Mitteilung erfreut, daß man in einer knappen Stunde ans Meer kommen könne. Arvid hatte gar nicht gewußt, daß er seinem geliebten Element so nahe war. Nun fühlte er schon den großen Luftzug entgegenströmen und strebte mit doppelter Lust an Oda Maries Seite dem Ziele zu. Er freute sich darauf, sie am Meer zu sehen. Wie schön sie zu Pferde saß! Nicht wie eine geübte Reiterin, sondern wie ein Ritterfräulein aus alter Zeit.

Aus der stechenden Vormittagssonne kam man in den kühlen Buchenwald. Tief war der Blick in das graugrüne Heer der Stämme. Das Zauberspiel der Sonnenstrahlen tupfte den braunen Boden. Kaum hörbar trabten die Hufe über den weichen Moosteppich. – »Lieben Sie Musik?« fragte Oda Marie plötzlich. – Arvid fuhr auf und schlug einen Zweig zur Seite, der ihm den Weg versperrte. »Gewiß,« antwortete er zerstreut. »Aber ich höre eigentlich wenig.« – »Kennen Sie Schumann?« – »Schumann – nein. Von den deutschen Komponisten kenne ich nur Wagner. Tannhäuser ist sehr schön und Lohengrin – auch Tristan ist mir empfohlen worden. Den Ring des Nibelungen finde ich – offen gestanden – ein bißchen langweilig.« – Oda Marie lachte. »Da kann ich Ihnen nicht beipflichten, aber ich gestehe zu, daß ich für den Ring mehr Respekt als Liebe habe. Ueberhaupt liegt mir Wagner nicht ganz. Ich höre nie auf, das Genie zu bewundern, und das hindert mich irgendwie an dem musikalischen Genuß. Vielleicht ist mir das ganze Kunstgebiet der Oper fremd. Ich liebe Instrumentalmusik.« – – »Aber die Oper, liebste Cousine – unsere Oper in Nordstad ist glänzend. Und ein entzückendes Ballett.« – Oda Marie schwieg eine Weile – dann fragte sie: »Hören Sie niemals Symphonien?« – »Doch, zuweilen. Aber ich finde das alles ein bißchen zu lang … Ja, zum Teufel, Löwenstern, Ihr Wallach hüpft ja wie die dicke Petronelli, wenn sie in der ›Puppenfee‹ ihr Solo tanzt! Das ist ein Ehrenmitglied unseres Balletts – Sie können sie sich ungefähr vorstellen, liebste Cousine!« – Oda Marie lachte herzlich und fragte nicht mehr.

Jetzt lichtete sich der Wald; man kam allmählich auf die Sandhügel der Dünen. Noch war das Meer nicht zu sehen, aber sein Atem wehte den Reitern entgegen. Man mußte vorsichtig weitertraben – das Dünengelände war tückisch. Plötzlich sanken die Pferde in Sanduntiefen, und ein Gewirr von ausgedorrten Wurzeln stellte Fallen. Auch die Strandhaferbüschel boten keinen festen Halt, denn sie lagen lose umher und brachten die Hufe oft zum Rutschen. Plötzlich fiel Graf Löwensterns Wallach; der sonst so sichere Reiter erlebte die Schmach, über den Hals seines Rosses in den Sand zu fliegen. Arvid konnte sich nicht lassen vor Lachen, doch Oda Marie erschrak; die Rücksichtslosigkeit des Vetters war ihr peinlich. Der Graf rappelte sich schnell hoch und schien nicht gekränkt zu sein – sein Verkehr mit Arvid konnte offenbar noch mehr vertragen. Jetzt senkte sich die Düne steil hinab, um noch einmal hochzusteigen. Auf der Höhe sahen die Reiter endlich das Meer. Nun wurde auch Arvid still. Wie vor seinem höchsten Vorgesetzten machte er Front, indem er mit ernsten Augen in die blaue Weite blickte. Oda Marie hatte sich auf diese Ueberraschung gefreut. Sie beobachtete den Vetter. Er gefiel ihr jetzt mehr als zuvor. Arvids Ehrfurcht war echt, und mehr noch, sie zeigte seine Verwandtschaft mit dem Element, sein Aufblühen in allem, was es brachte. Ein Seefahrer war dieser Prinz, ein Abenteurer wohl mit dem großen Hafenwunsche. Lieb war ihr dieser Mannesschlag. Er trug sie weit von allen Pflichten fort, die sie in ihrer Heimat Leben nannte.

Plötzlich wurde es Oda Marie bewußt, wie intensiv sie ihren Vetter beobachtete. Etwas Neues und Seltsames trat in ihr Dasein. Es war nicht, wie sonst, ein leidender Mensch, den sie kennenlernen wollte. Nicht, um ihm zu helfen, suchte sie ihn, sondern um Zuflucht zu finden vor einer Macht, die stärker war als ihr bisheriges Leben. So geschah es, daß ihr Gesicht sich mit Röte überzog, als Arvid seinen Blick vom Meere fort auf sie richtete. Sie sah ihn nicht an, sondern ließ Diana zum Strande niedersteigen. In Arvids Augen leuchtete es – er hatte Verwirrung in Oda Maries Zügen gesehen. Er folgte ihr, und ein entzückter Ruf trieb Mohr, den Strand im Galopp zu erreichen. Graf Löwenstern blieb zurück, denn er wollte sich bei dem Abstieg nicht noch einmal in den Sand werfen lassen.

Das Meer war ruhig. Leise Brandung schäumte auf das glatte Ufer und benetzte die Hufe der Pferde. Die Tiere waren von dem anstrengenden Ritt heiß geworden. Sie empfanden die plötzliche Kühle als wohltuend und senkten schnaubend ihre Nüstern auf die bunten Wasserblasen. Wie gern hätten sie getrunken. Aber sie rochen das Salz und sogen die Erquickung nur in ihre Lungen ein. Langsam ritten Arvid und Oda Marie an dem eingefriedeten Riesen entlang. Immer wieder griff er mit nassen Fingern nach ihnen, aber er tupfte sie nur und faßte sie nicht.

An einer Stelle, wo die Düne dicht an den Strand herantrat, wurde Rast gemacht. Man stieg ab, ließ die Pferde grasen und lagerte sich. Graf Löwenstern verlor auch im Ton der Zwanglosigkeit, den die Herrschaften angaben, seine Hofmarschallrolle nicht. Er eilte geschäftig hin und her, breitete für Oda Marie seinen Mantel aus, den die Prinzessin annahm, um nicht unfreundlich zu erscheinen. Dann aber, nachdem er noch am gemeinsamen Frühstück teilgenommen, blieb Graf Löwenstern nicht auf der Raststelle. Er verhüllte seine Diskretion nur schlecht und sagte mit vieldeutigem Lächeln, daß er an diesem einsamen Strande nach »Verkalkungen« suchen wolle. Seine Lieblingsbeschäftigung sei Naturwissenschaft, besonders Mineralogie, fügte er mit einer Verbeugung gegen die Prinzessin hinzu. – »Wenn Sie für mich ein schönes Stück Bernstein finden, wäre ich Ihnen sehr dankbar, lieber Herr Graf,« sagte Oda Marie harmlos. »Ich lasse mir in ›Deutsch-Freiland‹ Bernstein für eine Halskette schleifen.« – Graf Löwenstern zeigte sich beglückt. Arvid aber rief, in den Sand gestreckt und die Hände unter dem Kopf faltend: »Dafür läuft Ihnen mein Freund Oskar bis nach der ostpreußischen Küste! Aber es tut ihm gut! Das Suchen nach Verkalkungen ist das beste Mittel gegen die Verkalkung!«

Bald sah man Graf Löwensterns dünne Gestalt in das Strandlicht hinauswandern. Schwarz hob sie sich vom Silberschimmer ab. Er bückte sich oft – mit leisem Lachen konstatierten es Arvid und Oda Marie. Als der Prinz ihm nicht mehr nachblickte, sah er seine Cousine an. Er füllte noch einmal die Becher mit Wein und trank ihr zu. »Schönen Dank für alles!« – Oda Marie sah ihn an. »Warum danken Sie mir?« – »Weil ich mich nach langer Zeit wieder einmal wohlfühle und das ohne Ihre Liebenswürdigkeit nicht der Fall wäre! Sie waren gestern und heute meine Begleiterin! Möge es so bleiben auf Udde!«

Die beiden letzten Worte fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. Oda Marie senkte die Augen. Sie trieb das alte Kinderspiel, mit der einen Hand in die andere Sand zu füllen und den feinen, kühlen Staub durch die Finger rinnen zu lassen. Arvid sah ihr zu. Der Seesand schien Goldstaub zu werden, denn das Funkeln eines Ringes mischte sich in ihn. »Ein schöner Ring,« sagte Arvid plötzlich. »Wohl ein Erbstück?« – Er konnte die lauernde Eifersucht in seiner Frage nicht verbergen. Sie blickte ihn lächelnd an. »Ja – der Ring gehörte meiner Großmutter. Sie hat ihn von der Königin Elisabeth von Preußen bekommen.« Oda Marie zog den Ring vom Finger und gab ihn Arvid. Während er ihn betrachtete, sagte sie ablenkend: »Ich kann mir denken, daß Sie sich am Meer am wohlsten fühlen. Gehören Sie eigentlich zur Marine? Sind Sie nicht der künftige Admiral Ihres Herrn Vaters?« – Arvid gab ihr lachend den Ring zurück. »Nein, liebste Cousine! Das traut mir mein Vater nicht zu. Kann ich ihm auch nicht übelnehmen. Als ich zwanzig Jahre alt wurde, hat er mich auf eine Reise um die Welt geschickt. Aber da hab' ich ihm zu sehr auf meine Art gelernt. Er hat es mir nie verziehen, daß ich in Indien das Golfspiel studiert habe, statt Land und Leute, und daß ich in Brasilien seltene Affen jagte, statt politische Beziehungen anzuknüpfen.«

Oda Marie lachte. »Das kann Ihnen Ihr Herr Vater doch nicht ewig nachtragen!« – »Tut er! Er trägt überhaupt immer nach! Na … Keine Kritik an Seiner Majestät. Was ich sagen wollte … Sie sind doch auch mal draußen gewesen? Wo die Sonne heißer scheint? Waren Sie nicht mit Ihrem Papa in Palästina?« – »Ja, Arvid. Das ist mir eine unvergeßliche Zeit. In Palästina und Aegypten war ich.« – »Aber aus religiösen – oder doch philosophischen Gründen, nicht wahr?« – »Das läßt sich nicht sagen. Mein Vater hatte einen äußeren Anlaß insofern, als er die zionistische Kolonie in Kleinasien kennenlernen wollte, und weil das ägyptische Klima mir guttat. Worauf es uns sonst noch ankam – der heilige Boden, die Erinnerungen –, das ist doch selbstverständlich.«

Arvid schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie führen eigentlich ein ganz merkwürdiges Leben. Als nur das – als junges Mädchen überhaupt. Ich kann mir vorstellen – Sie sind ganz anders aufgewachsen als unsere Prinzessinnen. Sie sind nicht nur das Kind, sondern auch die Schülerin Ihres Vaters. Seine Mitarbeiterin, sagt man. Da ergeben sich natürlich andere Voraussetzungen und Anschauungen.« – »Als wo?« – »Nun, als bei sämtlichen Höfen Europas, darf man wohl sagen. Sie lächeln?« – »Verzeihen Sie. Ich lächle, weil Sie bei uns wahrhaftig nicht an einem ›Hof Europas‹ sind.« – »Ich muß doch von Ihrer Familie ausgehen. Wir sprechen doch nicht aus uns, sondern aus Jahrhunderten. Uebrigens freut es mich, daß Sie mir das Nachdenken über Ihre Persönlichkeit nicht übelnehmen.« – Oda Marie richtete sich heiter zum Sitzen auf. »Und ich freue mich, daß Sie über mich nachdenken!«

Dieses Geständnis kam so naiv, daß es keinen Doppelsinn haben konnte. In Arvids straffe Züge stieg die Röte des Entzückens. »Haben Sie mir das nicht zugetraut? Hand aufs Herz, Cousine!« – Sie wehrte lächelnd ab. »Aber ich kannte Sie doch zu wenig. Jetzt kenne ich Sie schon besser. Und was Sie eben sagten: Wir sprechen nicht aus uns, sondern aus Jahrhunderten – das beschäftigt mich.« – »Ist es denn nicht so?« – »Ja, Arvid. Aber glauben Sie mir: alles, was mein Vater tut und worin er mich aufwachsen ließ, erkennt diese Wahrheit an.« – Arvid schwieg. – »Sie haben wohl viele Zweifel, nicht wahr? Ich habe es Ihnen gestern schon angemerkt, als wir in der Kolonie waren. Ich habe es Ihnen nicht verübelt, sondern im Gegenteil mich daran gefreut. Es ist viel ehrlicher, offen zu zweifeln, als aus Höflichkeit zu glauben. Für meinen Vater handelt es sich nur um Ueberzeugung.« – »Die braucht aber Zeit, liebe Cousine.« – »Ganz gewiß, Arvid. Ich nahm mir auch deshalb vor, Sie mit unseren Problemen in Ruhe zu lassen. Deshalb ritt ich heute mit Ihnen und freute mich darauf, Sie ans Meer zu führen.« – »Wie lieb Sie sind!«

Oda Marie schwieg. Sie sah zur Seite auf einen schimmernden Käfer, der über den Sand lief. Er wollte einen kleinen Hügel verlassen, aber Oda Maries Mädchenbangnis ließ das ablenkende Spielzeug nicht fort – immer wieder hielt sie ihre Hand als Mauer vor den kleinen Wanderer. Er konnte den rechten Weg nicht finden. »Was haben Sie eigentlich für Bedenken?« fragte Oda Marie, ohne aufzublicken. – »Gegen ›Deutsch-Freiland‹?« erwiderte Arvid überrascht. »Wollen wir nun doch davon sprechen? Gott, ich maße mir ja kein Urteil an. Aber bei aller aufrichtigen Verehrung für Ihren Vater – ob nicht in seinem ganzen System ein Irrtum liegt? Ich möchte vorausschicken, daß ich zu denen gehöre, die seine Bestrebungen ernst nehmen. Das tut man nicht überall, Oda Marie.« – Jetzt sah ihn die Prinzessin ohne Befangenheit an. »Ich weiß. Aber daran liegt meinem Vater nichts. Auch nichts an politischen Parteien, die sich seiner bemächtigen wollen. Er bietet beiden Seiten nicht die Hand. Er hat sein Werk aus eigener Ueberzeugung geschaffen. Wir wissen, daß wir von tausend Irrtümern der Entwicklung umgeben sind. Wir sehen täglich die Früchte der falschen Erziehung, die Erben des Lasters und die Unglücklichen, die nur sehnsüchtig sind. Wir haben das alles studiert, als ob es eine trockene Kathederweisheit wäre. Aber führt das die Menschheit weiter? Priester und Parteimänner vertrösten auf eine vage Zukunft. Mein Vater ist weder Priester noch Parteimann. Man faßt ihn ganz falsch auf, wenn man das von ihm denkt. Er will werktätig helfen.«

Oda Marie hatte rasch und sicher gesprochen. Ihr Wesen bekam nichts Dozierendes, sondern die Glut einer jungen Begeisterung. Arvid sah sie lange an. Einen Augenblick durchfuhr ihn sein hochmütiger Selbsterhaltungstrieb vor dieser gefährlichen Schwärmerei. Das war das leichte, bunte Leben, wie er es liebte, nicht. Da lauerten Ketten und Richtschwerter. Dennoch bannte es ihn, wie ihn nichts bisher gebannt hatte. Es weckte seinen Ehrgeiz, nicht verworfen zu werden, sondern mitzutun. So kam er in offenen Streit mit ihr und schien dadurch zu verlieren, was er eben gewonnen hatte.

»Theoretisch, liebe Cousine – ich meine philosophisch oder auch meinetwegen religiös –, da spreche ich Ihrer Richtung meine Hochachtung aus. Sie werden aber verstehen, was ich meine, wenn ich folgender Besorgnis Ausdruck gebe: Sie sind mir für all das zu schade!« – Oda Marie sah ihn mit ihren dunklen Augen fragend an. »Zu schade? Wofür?« – »Nun, um des Himmels willen – man kann sich doch nicht verhehlen, daß die Geschichte mit Undank enden wird! Daß Ihre Kolonisten durchaus nicht eines Besseren belehrt werden, sondern nur ruhig und ordentlich bleiben, solange sie sich genieren, und dann, nach ihrer Rehabilitierung, sich doppelt als Umstürzler bewähren werden! Das hat die Erfahrung immer wieder gelehrt! Die meisten entlassenen Gefangenen benutzen die Freiheit, um wieder ins Zuchthaus zu kommen!« – »Ja, Arvid – aber nur in der Welt, zu der das Reich meines Vaters nicht gehört!« – »Liebste Cousine – in Wahrheit muß es doch dazu gehören! Wo soll es denn sonst sein? Alles andere ist doch Phantasie!« – »Mein Vater prüft jeden Menschen, bevor er ihn aufnimmt. Es handelt sich gar nicht um das, was man Vorleben nennt. Darum sind auch die Bedingungen für alles Künftige andere. Wenn mein Vater gutes Material findet, weiß er, daß der Erfolg kommt. Er gibt den Gescheiterten freies Land, ohne die eiserne Kugel, die sie von den Staatsgesetzen mitschleppen. Wir leben natürlich nicht außerhalb der Staatsgesetze, und es geschieht nichts bei uns, was sie nicht dulden dürften. Welche Regierung kann sich dagegen wehren? Sie findet ja ihre verlorenen Söhne wieder und hat selbst inzwischen Zeit, sich würdiger auf sie vorzubereiten.« – »Gewiß, gewiß, Oda Marie! Aber lassen Sie das die Sache der Nationalökonomen sein! Der Professoren und bürgerlichen Intelligenzen, die seit Jahrhunderten in die richtige Schule gegangen sind! Ich kann mir nicht denken, daß das die Fürstenschule ist!«

Oda Marie stand nach Arvids letzten Worten auf. »Das können Sie sich nicht denken?« fragte sie flammend. Dann aber hörte sie selbst den fremden Klang ihrer Stimme und lachte erschrocken. »Aber was will ich denn? So muß es ja sein. Verzeihen Sie – ich wollte nicht mit Ihnen streiten. Fürstenschule – lieber Gott. Wir sind ja in ganz verschiedene gegangen.«

Auch er war aufgestanden. Sie sah ihn jetzt gekränkt. »So möchte ich unseren Disput nicht abschließen. Sie wollen Arbeiterin im Bienenstock sein – nicht Königin? Aber ich bin keine Drohne.«

Während Oda Marie ihn betroffen anblickte und nach einer Erwiderung suchte, kam Graf Löwenstern mit einem Beutelchen voll Muscheln und Bernstein zurück. Er übergab es der Prinzessin mit einer tiefen Verbeugung. Sein Lächeln, das Segen bedeuten sollte, traf bei ihr wie bei Arvid auf eisigen Widerspruch. Anfangs erschrak der kluge Adjutant, dann aber sagte er sich, daß solcher Zusammenstoß ebenso wichtig war wie ein Liebesspiel. Er ließ sich seine Beobachtung nicht anmerken, sondern machte diensteifrig alles zur Rückkehr bereit und folgte bald darauf auf seinem Wallach den schweigsamen jungen Reitern.


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