Rudolf Herzog
Hanseaten
Rudolf Herzog

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XV

Ein eigenwilliger Symphoniker ist der Tod. Oft läßt er ein Heldenleben in weltvergessenen Akkorden zerflattern, oft endet er eines stillen Menschen Dasein mit einem heroischen Finale. Wenn er die Geige hebt und die grimme Ironie über ihn kommt, wirbelt er die Lebensmelodien durcheinander und hängt an das Lied des einen den Schluß, den der andere erwartete. Und plötzlich wieder trifft er in rätselhafter Laune den einzigen Ausklang, welcher den Inhalt des Lebens, das in ihm verweht, wie ein Abbild erstehen und in seiner ganzen Treue Abschied nehmen läßt.

Als er im Winter dieses Jahres behutsam die Türe des Vanheilschen Hauses aufklinkte und leise auftretend die Treppen zur Wohnung des Hausherrn hinaufstieg, war die rätselhafte Laune in ihm, und er lächelte vor sich hin.

Martin Vanheil war in seinen Lehnsessel gebettet. Die Sprache, die er eine Zeitlang verloren hatte, hatte sich wieder eingestellt. Aber der Atem ging schwer und mühsam.

»Daß ihr mir – den Jungen nicht beunruhigt,« gebot er immer wieder. »Dummheit, das mit mir! Im Frühjahr – tanz ich mit euch allen – auf der Wiese.«

Frau Henriette, Erika und Marga saßen bei ihm, pflegten ihn und plauderten ihm vor. »Der Fritz – –« sagte der Alte, »Kinder, der Fritz! Nun arbeitet er – auf einer amerikanischen Werft. Gebt acht – was ich immer prophezeit habe.«

»Sprich nicht so viel, Vater, es strengt dich an.«

»Gott, habt ihr eine Ahnung! Freude – hat mich nie im Leben angestrengt. Meine Lebenslust, wißt ihr! Andere – müssen ein Paar Flaschen Wein trinken, um – das Stadium – zu erreichen. Habe ich – nie nötig gehabt. Ging immer ganz von selber.«

»Ja, Vater, du bist eine glückliche Natur.«

»Bin ich auch,« sagte der alte Vanheil, und es zog eine Verklärung über sein abgemagertes Gesicht. »Etwas – muß der Mensch doch sein.«

Frau Henriette legte ihm die Hände aufs Knie und sah ihn lange an.

»Du bist noch viel mehr, Martin. Du bist der beste Gatte und der liebevollste Vater.«

Der Alte blickte sie der Reihe nach an. Eine stille, feine Röte färbte sein Gesicht. »Ist das wahr? Bin ich das wirklich? Ich meine oft, ich hätte euch mehr – mehr bieten müssen. Seid ihr – wahrhaftig – mit mir zufrieden gewesen?«

Kaum konnten die Frauen noch an sich halten. Sie mußten ganz fest die Lippen schließen und die Hände ineinander krampfen. Und sie erhoben sich, als hätte nur derselbe Gedanke in ihnen Raum, und legten die Arme um ihn und brachten ihre Köpfe ganz nahe an den seinen.

»Ist das eure Antwort?« fragte der Alte. Und mit einer stillen Seligkeit fügte er hinzu: »Dann ist es eine schöne Antwort.«

»Du hast uns alle reich gemacht, Vater,« sagte Marga und streichelte sein dünnes Haar. »Wir können allen Armen und Unzufriedenen davon abgeben. Und wir werden für unser ganzes Leben genug übrig behalten, um nicht eine Stunde seufzen zu müssen.«

»So hatte ich es mir gewünscht,« murmelte der alte Vanheil, »genau so.«

»Schlaf ein wenig, Vater. Wir setzen uns einstweilen ins Nebenzimmer und schwatzen weiter.«

Und der alte Vanheil drückte sein Gesicht gegen die Polsterwandung und schlief friedlich ein.

Frau Henriette saß mit ihren Töchtern im Nebenzimmer. Die Augen quollen ihr über, und mit jeder Hand hielt sie eine Hand der Töchter.

»Er wird nicht wieder werden, Kinder, wir müssen auf alles gefaßt sein. Und ich habe ihn so lieb gehabt, daß ich es euch gar nicht sagen kann.«

»Mutter, Mutter, beruhige dich. Wir dürfen es ihm gar nicht zeigen, daß es nicht so fröhlich bei uns ist, wie er immer noch glaubt. Siehst du, Mutter, das muß unser Dank sein, daß wir ihn in dieser glücklichen Sicherheit – von uns gehen lassen.«

Frau Henriette wischte mit ihrem Tüchlein langsam die Tränen fort. Und sie sagte, als spräche sie zu sich selber: »Ich bin all' die Jahre seine Frau gewesen. Das kann kein Mensch außer mir wissen, was das heißt. All' das Helle und Sonnige, was in ihm war, habe ich immer zuerst von ihm erhalten, und es mußte sich erst bei mir widerspiegeln, bevor es zu euch Kindern kam. In ihm war kein Gedanke, der nicht auch in mir war; kein froher Gedanke. Die Geschäftssorgen durften nicht hinter ihm her die Stiege hinauf. ›Wenn ich dich und die Kinder sehe‹, sagte er, ›wäre es sündhafte Undankbarkeit, dem lieben Gott anders als lobsingen zu wollen. Lauf ans Klavier, spiel etwas so recht Heiteres. Schon die Kinder Israels tanzten um die Bundeslade!‹«

Ein erinnerungswarmes Lächeln glitt um ihren Mund. Und in der Erinnerung fand sie den Halt für die Gegenwart.

Die Töchter fühlten es und drückten ihr die Hand. Und sie gab den Druck fest zurück.

»Hast du deinem Mann telegraphiert, Erika?«

»Er wird um vier Uhr hier sein können, Mutter.«

Und die Tochter wollte nicht an Tapferkeit hinter der Mutter zurückbleiben und fügte von den eigenen Sorgen nichts hinzu.

»Arme Erika,« sagte Frau Henriette leise und blickte der Tochter ins Auge.

»Laß das jetzt, Mutter. Für alles das bleibt uns noch so viel Zeit, und für den Vater nur noch so wenig. Wenn er etwas von meinem Kummer erführe, würde er nicht ruhig sterben können. Da tritt alles andere zurück.«

Marga Vanheil nickte der Schwester zu. Sie kannte diesen Mut.

»Ich werde jetzt noch eine Stunde aufs Kontor gehen und die Geschäfte erledigen. Rochus wartet wohl schon auf mich. Sollte der Vater früher erwachen, so schickt mir gleich Bescheid. Oder wenn der Doktor wieder kommt.«

Als sie ins Privatkontor ging, folgte ihr der alte Rochus. Sie wies ihm den Stuhl ihres Vaters an, und sie saßen sich gegenüber und blickten durch das Fenster hinaus auf die Straße, ohne zu arbeiten. Dann machte das Mädchen eine Bewegung, und der alte Rochus schrak auf.

Ihre Blicke trafen sich und hafteten aneinander.

»Es wird heute zu Ende gehen, Herr Rochus,« sagte Marga. »Der Doktor hat uns auf den Abend vorbereitet.«

Der alte Prokurist erwiderte nichts. Die Brille war ihm beschlagen, und er nahm sie ab und putzte sie.

»Herr Rochus, heute abend werden wir noch einmal lügen müssen.«

«Ja, ja – ja, ja.«

»Wenn der Vater noch einmal nach dem Geschäft fragt, lassen Sie mich sprechen und machen ein unbekümmertes Gesicht dazu. Alles geht glänzend. Die Aufträge häufen sich, und – und –«

»Es ist schon gut, Fräulein Marga, Sie werden wie immer mit mir zufrieden sein.«

»Herr Rochus,« sagte Marga Vanheil nach einer Pause, »ich weiß, wie sehr das alles auf Ihr kaufmännisches Gewissen drücken muß. Aber denken Sie daran, daß Sie dem Vater damit den letzten Freundschaftsdienst leisten, und einen Dienst, der keinen schädigt. Er war ja auch immer Ihr Freund und immer sehr besorgt um Sie. Nicht wahr, da wird es leichter?«

Der Alte hakte die Brille ein. »Wie kann man überhaupt von mir sprechen! Und mein kaufmännisches Gewissen hat wirklich gar nichts zu melden, Fräulein Marga, denn das andere Gewissen, das des alten Menschen Rochus, der ein Freund Ihres Vaters sein durfte, das hat eine viel stärkere Stimme, und ich wollte, ich könnte ihr noch jahrelang folgen.« Und sie blickten wieder zum Fenster hinaus auf die Straße, die ein grauer Schnee bedeckte.

»So tief hat die Schiffahrt noch nie geruht wie in diesem Winter,« meinte Marga Vanheil.

»Wir werden große, neue Anstrengungen machen müssen,« entgegnete der Alte, »wenn Sie nicht vorziehen sollten, die Firma aufzulösen.«

»Die Firma des Vaters? Niemals!«

»Das hab' ich mir gedacht, Fräulein Marga. Das ist wie ein Vermächtnis.«

»Das ist ein Vermächtnis, Herr Rochus. Und wer es antritt, übernimmt damit des Vaters Sorge für die Mutter und für Erika. Sehen Sie, was für ein großes Vermächtnis Vater mit der Firma hinterläßt? Fritz schlägt sich auf eigene Faust durchs Leben. Aber Mutter und Erika und Erikas Kinder, die gehören dazu. Für die alle hat die Firma einzustehen.«

»Das sind sehr viele, Fräulein Marga. Nehmen Sie auch nicht eine zu große Aufgabe auf sich?«

»Herr Rochus,« meinte Marga Vanheil mit einem mutigen Lächeln, »haben Sie es nie verspürt, daß die Kräfte mit den Pflichten wachsen? Daß die Leistungen um so größer werden, je mehr Menschen gläubig von uns abhängen?«

»Ich habe,« erwiderte der alte Prokurist, »nie die Freude gehabt, für andere Menschen sorgen zu müssen. Das Glück, Frau und Kinder zu besitzen, habe ich nie gekannt. Denn es muß doch wohl ein großes Lebensglück sein, weil es zu allen Stunden so fröhlich machen kann, wie es Martin Vanheil gemacht hat. Aber von heute an, Fräulein Marga, werde ich es auch können. Denn ich werde mich für Sie und die Ihrigen mitsorgen.«

Er wandte ihr sein faltig gewordenes Gesicht zu, und aus den Falten huschte ein vergessener Schimmer von Jugend und breitete sich aus und glitt bis in die Seele des alten Kaufmanns und gab ihm Rüstigkeit und Spannkraft.

Am Nachmittag kam Erikas Gatte. Als er ernst und würdevoll zu Martin Vanheil ins Zimmer gehen wollte, bedeuteten ihn die Frauen, heiter zu sein. Das verwirrte ihn. Wie konnte man einem Sterbenden gegenüber heiter sein?

»Ihr scheint euch doch wohl nicht ganz der Bedeutung dieser Stunde bewußt zu sein,« meinte er mit gerunzelter Stirn.

»Weil wir uns so sehr ihrer Bedeutung bewußt sind, bitten wir dich um ein heiteres Gesicht.«

»Ich verstehe eure Welt nicht,« sagte der Offizier. »Aber da ich in eurem Hause bin, werde ich mich der Hausordnung fügen.«

Ja, es war Martin Vanheils ungeschriebene Hausordnung. Er lag eingebettet im Lehnsessel, und die Enkel, die man auf seinen Wunsch zu ihm gelassen hatte, spielten unbekümmert zu seinen Füßen. Die Kräfte schienen noch einmal zurückgekehrt zu sein. Die Stimme gehorchte, wenn auch nur schwachen Tones.

»Ah, der Herr Hauptmann,« begrüßte er sichtlich erfreut den Eintretenden. »Was macht der Kompaniedienst? Bekommt er gut?«

Der Hauptmann ergriff seine Hand.

»Danke sehr, Schwiegervater. Alles soweit in Ordnung. Aber ich freue mich, daß du weit besser aussiehst, als ich gedacht hatte.«

»Haben sie dir was geschrieben? Frauensleut' sind immer gleich ängstlich.«

Der Hauptmann besann sich schnell. »Nein, nein, sie haben nichts geschrieben. Gerade weil ich so wenig von dir hörte, dachte ich es. Und da doch der Weihnachtsurlaub dicht vor der Tür stand, nahm ich ihn ein paar Tage früher, kaufte mir eine Fahrkarte und – hier bin ich.«

»Schön von dir gehandelt,« sagte der alte Vanheil, und winkte ihm, daß er sich einen Stuhl näher heranzöge. »Siehst du,« meinte er, »jetzt kann ich dir auch sagen, – wie ich mich über dich gefreut habe – daß du mir auch dieses Jahr wieder – Frau und Kinder hier gelassen hast. Das war ein großes Opfer. Ich – ich hätt's nicht fertig gebracht. Schwächlicher Charakter, was? Aber du – du hast Sohnesliebe in den Knochen. Deine Frau und deine Kinder – haben mich sehr glücklich gemacht. Das – wird dir einmal vergolten werden.«

Über die Stirne des Hauptmanns flog eine dunkle Röte.

»Ich höre, du darfst noch nicht so viel sprechen, Schwiegerpapa. Wenn du willst, will ich dir lieber vom Dienst erzählen.«

Er hatte seine beiden Knaben aufgehoben, geküßt und sie mit einem Zeichen, daß sie sich ganz stille verhalten müßten, wieder niedergesetzt.

»Ei,« wunderte sich der alte Vanheil vergnügt, »ich darf nicht? Habe ich denn einen Vormund?«

Und die Frauen nickten ihm zu und riefen: »Uns alle!« »So–o? Dann werde ich mir–für heute mal– meine Freiheit zurückerbitten.«

Er fühlte es selbst, wie ihn das Sprechen anstrengte. Aber er wollte sich die Freude daran nicht nehmen lassen, und die Summe wurde zum Flüstern.

»Fritz geht es gut. Ausgezeichnet geht es dem Jungen. Sein letzter Brief–Marga, lies ihn doch mal vor.«

Zusammengesunken lag er zwischen den Kissen. Aber sein Ohr saugte jedes Wort auf, und seine Augen hatten glückseligen Glanz. Nur zuweilen murmelte er: »Der Fritz– –der Fritz– –!« während Marga las.

»Geliebte Eltern! Geliebtes Schwesternpaar!

»Dieser Brief wird um die Weihnachtszeit bei Euch sein. Ich sehe die urgemütliche Wohnstube mit den schwarzen Scherenbildern, die Großvater uns staunenden Kindern schnitt, rings an den Wanden, und Vater sitzt am Klavier und freut sich, daß seine ›Froonslüd‹ die alten Weihnachtslieder noch genau so schön können, wie er sie als Junge kannte. Nur mein edler Bariton fehlt. Und das ist für mich betrüblicher als für Euch. Aber ich singe kräftig aus der Ferne.

»Wie es mir sonst geht? Prachtvoll! Vater pflegte immer zu sagen: Der Mensch ist nur dann glücklich, wenn ihm noch was zu wünschen bleibt. Demzufolge muß ich mich kannibalisch glücklich fühlen, denn der Wünsche werden es täglich mehr. Vorläufig arbeite ich hier im südlichsten Kriegshafen der Union als Konstrukteur auf der Werft. Das ist nun schon meine zweite Stellung innerhalb eines halben Jahres, und ich hoffe, noch ein gutes Dutzend Stellungen zu absolvieren, bevor mich Amerika los wird. Denn meine Augen find, um mich eines Wortes unseres Schullehrers in Tertia zu bedienen, ›überall, Jung's, und nur der liebe Gott sieht mehr, denn der sieht ins Herz!‹ Die Herzen meiner amerikanischen Mitbürger und Mitbürgerinnen interessieren mich nicht, aber die Herzen und Seelen der Maschinen und Schiffskörper. Da bändle ich mächtig mit den Augen an, und es wird mit Gottes Hilfe manches bessere Verhältnis zustande kommen, das noch den Hamburger Hafen baß erfreuen soll.

Also mir geht's wunderlieblich und fein. Und dasselbe hoffe ich von Euch zu hören. Schreibt mir aber immer über das deutsche Konsulat in Neuyork, dem ich stets meine Adresse anvertrauen werde. Denn der Wege sind viele in Amerika, die von einer Werft zur anderen führen, und ich gedenke sie alle in Gesundheit zu laufen. Komme ich dann zurück zu Euch Lieben, so kaufe ich Euch dicht an der Elbe ein Schloß, wie es nur in den Märchenbüchern abgebildet steht, und mir reserviere ich nur eine kleine Stube, in der ich niedliche Panzerkähne von knapp zweihundert Meter Länge bauen kann. Damit will ich mich denn nach meinen fröhlichen Wanderjahren zufrieden geben.

Von Bob Twersten hatte ich nur ein einzigesmal Nachricht. Aber das lag an mir, weil ich noch nicht zum Antworten kam. Er sitzt auf einem Neuyorker Kontor und verkauft Baumwolle, was ihm wichtiger erscheint als mir. Sein höchster Wunsch gipfelt vorläufig darin, Kommis in einer Reederei zu werden. Seinem Briefe nach muß dieser Posten wohl direkt hinter dem des Präsidenten der nordamerikanischen Republik kommen. Es liegt alles nur daran, von welcher Seite man eine Sache ansieht. »Und nun wünsche ich Euch allen ein so idyllisches Fest, wie es nur im Hause Vanheil gedeihen kann. Eines aber kann ich Euch sagen: ich habe Euch ganz gewaltig lieb!

»In diesem Sinne bin ich alleweil und allerwegen Euer treuer Sohn und wohlgewogener Bruder Fritz.«

Des alten Vanheils Augen wanderten unablässig von einem zum anderen. In aller Augen wollte er die Freude an seinem Jungen lesen. Und die eigenen leuchteten ihm wie zwei Sonnen.

»Der Fritz – der Fritz!« murmelte er. »Kauft – ein Schloß – den ganzen – Hamburger – Hafen – der – Jung!«

Sein Kopf sank tief auf die Brust. Die Augen schlossen sich.

»Vater!«

»Bißchen – müde– –« murmelte er.

Nach einer halben Stunde öffneten sich die Augen wieder. Der Blick verschärfte sich langsam. Er erkannte seine Umgebung.

»Das ist ja – Rochus. Nun? Geschäft – all – right?«

»All right, Herr Vanheil.«

Martin Vanheil suchte die Tochter. »Erzähl mal – 'n bißchen – vom Geschäft – Döchting.«

»Das läuft am Schnürchen, Vater. Die nordische Linie von Bramberg und Co. hat sicher nicht mehr zu tun, als wir. Nicht wahr, Herr Rochus?«

Der alte Prokurist nickte eifrig.

»Sieh – mal an,« sagte Martin Vanheil. Und plötzlich lachte er ganz leise, sein altes glückliches Lachen. »Der Jung – auf dem besten Weg. Das Geschäft – in Blüte. Die Meinen alle – wohlversorgt. Jetzt müßt' man – sterben können.«

»Sprich nicht so etwas, Vater.«

»Martin –,« sagte Frau Henriette, legte ihm den Arm um die Schulter und küßte ihn auf den Mund. Hände und Lippen zitterten ihr, daß sie fast ihr gutes, mutiges Lächeln vergaß.

»Und diese – Musik!« fuhr Martin Vanheil fort. »Hört ihr sie? Wer spielt denn da nur – so herzerquickend? Das – klingt – wie das Finale – einer – göttlich heiteren – Symphonie ... Hört ihr auch – alle zu? – Von wem – ist sie nur? Das klingt mir – so bekannt. Die muß ich schon – selber – gespielt haben.«

Er saß aufgerichtet und hielt lauschend den Kopf vorgestreckt. Seine Züge belebten sich. Seine Augen strahlten. Und die um ihn standen, sahen, daß eine Weihe auf seiner Stirn lag. Die beiden Enkel hielten sich am Rock der Mutter und blickten auf den Großvater.

Und während er lauschte und lauschte, sagte er: »Nicht vergessen – Fritz – kabeln – Fröhliche Weihnachten – glückliches – neues – Jahr.«

»Vater, siehst du uns?«

»Alle – alle. Und die Musik – tut so gut. Die – beruhigt. Weiter – spielen ... Henriette!«

»Martin, mein guter, alter Martin!– –?«

»Lieber Gott,« seufzte Martin Vanheil und verschied in den Armen seiner Frau.– – –

Mit weicher Hand hatte Frau Henriette ihm den letzten Liebesdienst getan und ihm die Augen geschlossen. Nun hob sie den weißen Scheitel und blickte verstört ins Leere. Und Marga führte die Kinder zum Großvater, damit sie ihm noch einmal die Hand küßten, und übergab sie dem Hauptmann, der sie schnell in ihr Zimmer brachte.

Der alte Rochus trat vor. Er wollte dem alten Freunde noch etwas sagen, einen Dank oder ein Abschiedswort. Aber seine Kinnbacken arbeiteten so krampfhaft, daß er es unterließ. Da lächelte er ihm zu, und die Tränen rollten ihm über die Backen, als er ging.

Die Frauen waren mit dem Toten allein. Der Schmerz löste sich.

»Vater!« rief Erika und sank neben seinem Stuhle nieder. »Nun stürzt alles zusammen.«

Frau Henriette hielt den geliebten Mann noch immer umschlungen. Ihre heißen Tränen tropften auf ihn nieder.

»Ich sehe gar nichts mehr. O, Kinder, es ist alles so leer, so leer– – –«

Marga trat hinter Mutter und Schwester und schloß sie beide in ihr Arme. »Nicht verzagen, nicht verzagen! Habt ihr den Vater jemals verzagt gesehen? Sollen wir so schlecht von ihm gelernt haben? Wir halten zusammen, wir halten immer zusammen, als wäre er beständig unter uns. Mutter, Schwester, in allem Unglück wollen wir glücklich sein, daß wir einen solchen Vater hatten.«

»Gott segne dich, Martin,« stammelte Frau Henriette. Und sie bettete ihn weich in die Kissen, küßte ihn lange auf den verstummten Mund und ging wie eine sorgende Frau, die noch eine Pflicht zu erfüllen weiß, zum Klavier.

Nur eine Strophe spielte sie: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt ...« Und dann ließ sie sich mit Erika willig von Marga hinausführen, um den Kindern gute Nacht zu wünschen und die Anordnungen zu treffen zur Aufbahrung Martin Vanheils.

Marga aber kehrte leise in das Zimmer zurück. Und vor dem toten Vater kniete sie nieder und weinte lange und bitterlich in seine erkaltenden Hände.

Als sie sich erhob, war der furchtbare Druck, der ihr das Herz und den Kopf zusammengepreßt hatte, geschwunden.

»Siehst du, Vater,« sagte sie in der Stille, »ich muß dich ja jetzt ersetzen. Und wenn die anderen länger um dich weinen, so will ich unterdes arbeiten, damit ihnen ihr Weinen zu einer Feier werden kann und nicht zu einer Angst. Dazu bitte ich dich um deinen Segen.«

Der Arzt kam, und sie empfing ihn. Und die Leute kamen am späten Abend, die Martin Vanheil einkleideten und aufbahrten. Und sie blieb der Mutter zur Seite. Und als es Mitternacht geschlagen hatte und es endlich ganz still im Hause geworden war, saß sie mit der Mutter am Bette, auf dem der geliebte Tote lag, bis der Morgen heraufdämmerte; und die ganze Nacht sprachen sie während ihrer einsamen Totenwacht von den vielen Vorzügen dieses einen Mannes. – –

Was an Martin Vanheil sterblich war, lag eingebettet in dem Friedhofgarten, der draußen auf der Ohlsdorfer Heide die Menschen der Arbeit zu sich ruft aus den Toren der Stadt in ein Land der Poesie. Und unter der Schneedecke schliefen mit ihm die tausend bunten Blumen und Blütensträucher des Gartens den immer wiederkehrenden Ostertagen entgegen. Karl Twersten und Ingeborg Bramberg waren als die ersten im Trauerhause erschienen, und Twersten hatte an der offenen Gruft dem Jugendfreunde, der sich von Kindesbeinen an treu geblieben war, den letzten, herzlichen Abschiedsgruß zugerufen.

»Wenn Sie mich brauchen, Marga, meine Tür steht immer offen für Sie.«

»Und mein ganzes Herz,« fügte Ingeborg Bramberg hinzu. »Kommen Sie bald!«

Die ersten Tage waren in wehmütiger Trauer dahingegangen. Das Weihnachtsfest war vorüber. Und mit den ersten Tagen des neuen Jahres stellten sich die neuen Anforderungen des Lebens ein.

Am Familientisch saßen die Frauen und der Hauptmann mit blassen Gesichtern. Marga hatte ihnen die Bilanz des abgelaufenen Jahres erklärt, die ohne Gewinn abschloß. Nur die Summe, die durch die Beteiligung an der Kubaspedition eingekommen war, hatte die Firma über Wasser gehalten.

»Du hast noch eines vergessen,« sagte der Hauptmann. »Es ist mir überaus peinlich, darauf hinweisen zu müssen, aber es sind geschäftliche Dinge, die nun einmal keine sentimentale Behandlung vertragen. Der jährliche Zuschuß, der schon am ersten Oktober fällig war, fehlt in der Aufstellung. Willst du mir, bitte, dafür eine Erklärung geben?«

»Es ist dieselbe Erklärung,« entgegnete Marga, »die ich dir schon zum ersten Oktober schreiben mußte. Die Firma ist vorläufig nicht mehr imstande, die Summe für dich auszuwerfen. Und da du doch jetzt deinen Hauptmannsgehalt hast und schon in nächster Zeit den Generalstabszuschuß, so wirst du nicht schlechter gestellt sein als wir.«

»Ja,« sagte der Hauptmann, »das sind in der Tat dieselben Worte, die du mir schriebst, und es ist derselbe Irrtum. Ich habe mich vor Monaten deinem ausdrücklichen Wunsche gefügt, während der schweren Krankheit des Vaters die Angelegenheit ruhen zu lassen. Das – ihr werdet es einsehen – ist nun anders geworden. Ihr stellt mich einer vollendeten Tatsache gegenüber, die mir an den Lebensnerv geht.«

»Deine Einkünfte und unsere Einkünfte, lieber Schwager –«

»Nein, nein, solche Vergleiche kannst du nicht aufstellen. Ihr könnt so zurückgezogen leben wie ihr nur wollt, und kein Mensch wird etwas darin finden. Das ist bei mir anders. Ich stehe auf der Vorstufe zu einer großen Karriere, zu der ich Ellenbogenfreiheit brauche. Eine Dreizimmerwohnung mit einem Mädchen für Kinder und Küche ist eine Unmöglichkeit für mich. Ich habe direkte Repräsentationspflichten, um die ich bis heute mehr oder weniger herumkam, weil Frau und Kinder aus Gesundheitsrücksichten in der Seeluft weilen sollten. Und diese Entschuldigung läßt sich auf die Dauer nicht aufrecht erhalten.«

Erika hob den Kopf. Diese Auseinandersetzungen, und ob sie im höflichsten Tone vorgetragen wurden, beschämten sie aufs tiefste.

»Wir sind nie krank gewesen,« sagte sie leise, »weder die Kinder noch ich. Nur auf deinen Wunsch hin gingen wir so oft nach Hamburg und blieben so lange. Bei aller Liebe zu den Eltern und Geschwistern ist mir das nicht immer leicht gewesen.« »Ich weiß es, Erika. Aber ebenso gut weißt du, daß es um meinetwillen notwendig war.«

»Immer um deinetwillen – –.«

»Der vorwärts drängende Mann sieht diese Dinge unter einem anderen Gesichtswinkel.«

»Dann,« entgegnete sie mit zuckendem Mund, »wäre es für diese Männer besser, nicht zu heiraten, wenn sie in Frau und Kindern Hindernisse sehen.«

»Liebe Erika,« erwiderte der Offizier ruhig, »als wir heirateten, mußte ich annehmen, die Firma Vanheil sei eine der renommiertesten am Platze. Und auch du nahmst es an. Man brauchte nur deinen Vater sprechen zu hören –«

»Bitte,« sagte Marga Vanheil, »wir wollen den Namen des Vaters nicht in diese Unterhaltung hineinziehen. Er hat nie ein Wort gesprochen, das nicht die lauterste Wahrheit war.«

»Gewiß. Aber sein Optimismus sah alles in Gold. Und mit seinem Optimismus ist auch das Gold verschwunden.«

»Sprich nicht weiter,« sagte Erika. »Ich bin zu stolz, um mit dir im Kreise um die einzige Frage, die dich beschäftigt, herumzugehen. Du möchtest wieder frei sein. Das ist alles.«

»Ich möchte, daß von beiden Seiten unsere Abmachungen eingehalten werden. Das ist es.«

»Und da du hörst, daß sich die Grundbedingungen verschoben haben? Daß die Firma für absehbare Zeit die Belastung nicht mehr tragen kann?«

»Ich muß doch bitten, hier nicht annehmen zu wollen, daß ich eine Plünderung der Familie beabsichtige.« »Im Gegenteil! Du würdest freiwillig zurücktreten, wie die Verhältnisse liegen.«

Der Hauptmann schwieg. Mit zusammengezogener Stirn blickte er geradeaus.

»Das Wort ist nicht von mir,« sagte er endlich.

»Nein, es ist von mir.« Und Erika atmete tief. »Es ist von mir, wie es ja wohl Pflicht der Frau ist, dem Manne das Schwerste abzunehmen. O, du brauchst jetzt nicht mehr zu entgegnen. Ich werde die Kinder behalten und hier bleiben. Die Schritte, die zu unserer Trennung nötig sind, überlasse ich dir. Ich werde sie unter der Bedingung, daß ich allein die Kinder behalte, von vornherein gutheißen. Du wunderst dich über meine schnelle Bereitwilligkeit? Du hast mir ja Zeit genug gelassen, darüber nachzudenken, und an leisen Hinweisen hat es auch nicht gefehlt.«

»Erika –«

»Ich glaube, dies Thema ist nun erledigt. Ich bin seit Jahr und Tag deine Frau nicht mehr gewesen und bin es wohl im richtigen Sinne nie gewesen, sonst hätten diese beständigen Trennungen nicht stattfinden können. Wir wechseln nur das Wort aus. Aus Trennung – Scheidung.« Und mit jähem Aufwallen schloß sie erregt: »Lieber will ich doch in einer Dachkammer sitzen und mit dem Menschen, den ich lieb habe, glücklich sein, als in einem Repräsentationshaus und vergeblich auf das Kommen dieses eines Menschen warten!«

Der Offizier erhob sich.

»Es ist wohl besser, wir verschieben die Fortsetzung dieses Gesprächs auf einen anderen Tag.«

»Es ist wohl nicht mehr nötig, daß ich zugegen bin,« sagte Erika. »Wir wissen ja nun alles voneinander.« Einige Tage darauf reiste der Hauptmann in seine Garnison zurück. Die Scheidung, die schon so lange bestanden hatte, sollte eine dauernde werden. Im Herbst des Jahres war das lose Band zwischen den Gatten richterlich getrennt, und Erika erzog die Kinder in dem Hause, das allein auf der Welt ihre Heimat gewesen war. – – –

Wie kurz die Jahre sind, denen die Tagesarbeit Länge und Breite zumißt! Man kennt ihr Gleichmaß, das vom Gestern zum Heute langt und vom Heute zum Morgen, und kürzt es ab durch die Hoffnung auf das folgende Jahr und wieder auf das folgende. So tat auch Marga Vanheil. Seit sie, mit dem alten Rochus zusammen, als Inhaber der Firma Martin Vanheil in das Handelsregister eingetragen war, nahm ihr die Arbeit den Maßstab der Tage, und sie selbst nahm die Tage, die sich folgten, als dürres Land, das durchzogen werden mußte, um zur Oase zu gelangen. Je schneller es geschah, je weniger man nach rechts und nach links blickte, um so besser.

Ihrer rastlosen Arbeit gelang es, im ersten Jahre das Geschäft zu balancieren. Neue Kapitalsunterstützungen wünschte sie nicht, die auf Jahre hinaus den freien Blick behinderten. Ganz von unten begann sie unter der geschäftsmännischen Führung des alten Rochus und baute Stein auf Stein zum neuen Hause. Fast durchweg Stückgut war es, das zur Verladung kam. Aber sie zog selbst das Kleinste heran und behandelte den geringsten Kunden wie den größten.

Die beiden folgenden Jahre brachten einen Aufschwung. Karl Twersten, der den Blick nicht von den tapferen Bemühungen des Mädchens ließ, hatte ihr die Vertretung einiger größeren Reedereien des Auslandes verschaffen können. Das Kontor, in dem außer dem alten Rochus und ihr nur noch ein Buchhalter tätig gewesen war, füllte sich wieder mit rührigem Personal, Kapitäne und Auftraggeber gingen ein und aus, und Marga Vanheil saß bis in später Abendstunde im Privatkontor. Etwas vom Geiste des alten Vanheil mußte über sie gekommen sein. Denn wenn sie zum letzten Male die Feder eingetunkt und beiseite gelegt hatte, wenn der leinene Schreibärmel abgestreift war und sie vor dem kleinen Spiegel ihr Haar ordnete, horchte sie schon durch die geöffnete Tür ins Treppenhaus, um zu vernehmen, ob »dort oben« auch alles fröhlichen Sinnes sei und das alte Klavier die Kunde davon durch das ganze Haus trüge. Erst wenn sie die leisen Menuettklänge im Ohre auffing, war sie beruhigt, und sie beendete ihre Toilette mit einem mädchenfrohen Trällern, das sich seltsam in den Frachtbriefen und Konossementen des würdigen Raumes verfing.

Und wenn sie die Türe zum Wohnzimmer öffnete, stürmten Erikas herangewachsene Jungens auf sie ein und hingen sich in ihre Arme und zwangen sie, in den Reigen einzutreten und mitzusingen. Der ältere ging schon zur Schule, und der jüngere sollte im nächsten Jahre den Ranzen tragen mit Fibel, Schiefertafel und Griffelbüchse.

»Jungens, laßt eure alte Tante in Frieden!«

»Du bist gar nicht alt, du siehst nur so aus.«

»Was?« rief sie erstaunt. »Wahrhaftig? Ich bin schon eine alte Jungfer?«

»Ach nein,« verbesserte der ältere die Entgleisung des jüngeren, »er meint ja nur, du tust bloß so.« Am selben Abend stand sie vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers und betrachtete aufmerksam ihr Bild. Und sie fand in dem Spiegelglas ein großes, blondes Mädchen von kräftiger Gesichtsfarbe, dem noch immer das Staunen in den Augen saß. »Alte Jungfer?« wiederholte sie. »Ist das wahr? Ist es wahrhaftig schon so weit?« Und sie sah im Spiegel, wie ihre Lippen in komischer Angst murmelten. Und plötzlich blitzte sie ihr Bild hoheitsvoll mit den Augen an, und dann lachte sie ein ausgelassenes Mädchenlachen über die jähe Wirkung, und lachte noch, während sie in ihrem Mädchenbett unter den Decken lag.

»Alte Jungfer! Wer das konstatieren will – Na!«

Und sie reckte die Arme in die Kissen und ihr Lachen tropfte noch in den ersten Schlummer hinein. – –

Dennoch dachte sie während der nächsten Zeit häufig an das Wort zurück.

»Es ist Unsinn,« sagte sie sich. »Ich bin jetzt ein siebenundzwanzigjähriges unverheiratetes Mädchen. Und wenn ich siebenunddreißig wäre! Der Mann, der mich liebt, verliebt sich doch wohl in andere Eigenschaften als in meine Jahre. Als ich achtzehn Jahre war, was war ich da? Weder körperlich noch geistig so entwickelt wie heute. Es ist ja kindisch, mit der Unreife im Blut zu heiraten. Das ist ein berauschendes Geliebel, aber keine Vollehe; der Reiz, über die Stränge zu schlagen, statt mit seliger Gewißheit dasselbe zu wollen im Leben und Lieben.«

Und ein andermal sagte sie sich: »Viel, viel reifer sollten wir Frauen in die Ehe gehen. Nicht, wenn wir spüren, daß wir das Verlieben gelernt haben; wenn wir spüren, daß wir – Frauen sind! Können Kinder wieder Kinder erziehen? Und doch soll die Mutter für das Kind der Inbegriff aller Vollkommenheit sein. – Da glauben sie, der Ehering sei ein Wunderring. Wenn er sich zum ersten Male am Finger dreht, machte er aus einem Gänschen eine Frau von Lebenserfahrung. Ich sitze nun schon seit fünf Jahren auf dem Kontor der Firma Martin Vanheil und kämpfe mit Menschen und Dingen und sehe ihnen auf den Grund, um Werte für mich, die Meinen, die Firma zu gewinnen und uns allen die Lebensbedingungen zu schaffen. Und doch ist man in den Augen aller Gänschen, die einen Ehering tragen, nur eine alte Jungfer.«

Der Gedanke machte ihr Spaß, und sie blickte mit Stolz auf ihre schlanken, kräftigen Glieder.

»Ich bin nicht verweichlicht und weine nicht vor Rührung oder Sehnsucht, wenn ich ein Liebesgedicht lese. Aber ich spüre so viel, so viel Liebeskraft in mir!... ›Du tust nur so, als ob du eine alte Jungfer wärst‹, hat der liebe kleine Kerl gesagt. Ja, ich tue nur so, bei der Arbeit, bei der Betreuung von Mutter, Schwester, Neffen. Um mir diesen großen, geheimen Reichtum zu bewahren. Für wen –?«

»Für wen? – Und wenn kein Mensch danach fragte, so habe ich ihn doch und kann ihn verschwenden an hundert Menschen, die ich lieb habe, und ihnen glückliche Stunden damit bereiten wie mir selbst. Hurra, es gibt keine alten Jungfern! Darüber haben wir allein zu bestimmen! Es gibt nur ewig mißgestimmte alte Frauenzimmer, die nicht arbeiten wollen und einem auf die Nerven fallen.

»Heran an die Arbeit! Morgen laden wir den Dampfer ›Kalkutta‹. Fünftausend Tons.« –

Und wenn besonders köstliche Feiertagsstunden waren, lief sie zu Fuß den Hafen entlang, durchquerte die Stadt bis zum Alsterbecken und lief weiter, bis nach Uhlenhorst hinaus, bis zu Frau Ingeborg Bramberg, um mit der Freundin ihre Entdeckung zu besprechen.

»Sie haben recht,« sagte Frau Bramberg, »wer sich nicht selbst aufgibt und sich selber durch die Welt hilft, braucht das Alter nicht als häßlich zu scheuen. Man wird nie nutzlos auf der Welt. Und wer mit uns zusammen alt wird, freut sich, daß er in uns immer wieder seine Jugend sieht.«

»Das meine ich auch, Frau Ingeborg. Der Geschmack wandelt sich gar nicht. Er hält nur mit uns selber Schritt.«

»Und doch scheint mir,« fügte Frau Ingeborg lächelnd hinzu, »als ob Ihre Entdeckung im Grunde sehr, sehr viel Sehnsucht bedeute.«

»Sehnsucht? Nach wem?«

»Sie sind doch sicherlich hergekommen, um mir das zum – wievielten Male zu verraten?«

»Adieu!« rief Marga Vanheil lachend und stürmte hinaus.

Wie schön das war, die eigenen Kräfte zu spüren und zu wissen, daß es erprobte Kräfte seien. Wie schön das war, einen Feiertag zu genießen und zu wissen, daß er verdient sei. Wie tief sie da alle Quellen rauschen hörte, in sich selbst und in der Welt. Jedes Ding hatte ein anderes Gesicht, ein Sonntagsgesicht, und eigens für sie aufgesteckt. Und das schönste von allem war, ganz insgeheim zu fühlen, wie die im Tagewerk verbrauchten Kräfte sich erholten und erst langsam und immer mächtiger anschwollen und zurückströmten in den erschauernden Körper. Dann drängte es in Marga Vanheil, daß der Morgen käme und ihr neue Arbeit brachte, alle die Kräfte darauf loszulassen. Und sie wußte nicht aus noch ein vor erwartungsvoller Freude. –

Nun trabte auch der Kleine ihrer Schwester neben dem älteren Bruder in die Schule, und er plauderte schon, wenn er die Treppe hinunterstolperte, aufgeregt von den wichtigen Ereignissen, die seiner auf dem Schulhof und im Klassenzimmer harrten.

Das zeigte Marga Vanheil an, daß wieder ein Jahr vergangen war. Das fünfte, seit Robert Twersten von Hamburg Abschied genommen hatte und – von ihr. Und auch Fritz war nicht heimgekehrt. Etwas stiller wurde sie in den Feiertagsstunden, immer länger arbeitete sie im Privatkontor. Als sie wieder einmal, in der Sonntagsfrühe, ausgehen wollte, traf sie vor dem Hause den Briefträger. Sie sah die Aufschriften der Postsachen durch und gab sie ihm zurück. »Bringen Sie sie nur in die Wohnung.« Einen Brief behielt sie, und sie suchte sich in der Nähe eine der stillen Brücken, die über ein Fleet führen, und nur die hohen Giebel der Speicherhäuser schauten mit ihr in den Brief.

Er kam von Bob.

»Nun lebe ich seit einem Jahre wieder in Neuyork, das ich vor drei Jahren verließ, um nach Rio zu gehen. Weshalb ich Dir das schreibe? Ich weiß es nicht, und ich will mich auch nicht danach befragen. Vielleicht, weil man sich an keinem Platze der Welt so einsam fühlen kann wie in dieser Riesenstadt, in der der Mensch nur eine Rechenziffer ist. Vielleicht, weil ich heute am Hafen stand und lud ein Hamburger Schiff. Ich glaube oft, mein Gefühl hat stark abgenommen zugunsten des geschärften kaufmännischen Verstandes. Ob das ein Erfolg ist? Oft möchte ich noch einmal ein Junge sein.

Wenn mich mein Vater wiedersähe, würde er mit dem, was sein Sohn als Kaufmann geworden ist, zufrieden sein. Ich habe sogar in letzter Zeit einige Geschäfte auf eigene Faust gemacht, die sich gut rentiert haben. Was will das besagen? Das will ebensowenig besagen, wie die vorausgegangenen, furchtbaren Jahre, die man hier ›smarte amerikanische Erziehung‹ nennt. Man wird und ist. Und wenn man etwas geworden ist, merkt man, daß man das Beste vergessen hat.

»Als heute abend der Hamburger in See ging, hätte ich es gerne gemacht wie Fritz, als er als blinder Passagier auf die ›Ingeborg‹ kam. Und da fallen mir alle die Namen ein. Fritz, Frau Ingeborg Bramberg, der Vater. Ich möchte sie wohl wiedersehen.

Der weibliche Chef der Firma Vanheil wird lächeln über den gefühlvollen Kaufmann Robert Twersten. Sei unbesorgt, es ist nur eine Stimmung, und wenn mir morgen das Geschäft glückt, das ich plane, wird sie verflogen sein.«

»Nein,« sagte Marga Vanheil laut vor sich hin, »sie wird nicht verflogen sein.« Und sie butterte den Brief zusammen und barg ihn in der Tasche.

Von der Brücke herab schaute sie in das träge Wasser des Fleets, in dem sich die hohen Speichergiebel spiegelten. Aber die junge Frühlingssonne vergoldete alle die windschiefen Häuser und das schwarze Gewässer, und ihre Strahlen tanzten Ringelreihen. Das war so lustig, daß sie an sich halten mußte, weil sie es in sich aussteigen fühlte wie ein – wie ein – Juchhei!

Juchhei, das war ihr Hamburg! Juchhei, Bob Twersten hatte Heimweh! Juchhei, Bob Twersten hatte Fritz erwähnt und Frau Ingeborg Bramberg und seinen Vater Karl Twersten, und sie – sie nicht! Was das bedeutete? Das bedeutete keine Vergeßlichkeit, das bedeutete keine Ungezogenheit, das bedeutete – alles, was Weib in ihr war, rief es ihr zu – männliches Schamgefühl, vor einem Wort!

Zum ersten Male seit fünf Jahren lief sie die Alster entlang bis Uhlenhorst, ohne zu Ingeborg Bramberg zu gehen.

Dies war ihr Geheimnis.

Bob Twersten hatte nicht vergessen. Er kehrte heim. –


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