Rudolf Herzog
Hanseaten
Rudolf Herzog

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IX

Während des Monats Januar kam man in Hamburg nicht zur Ruhe. Der Tag behielt seine Bedeutung bei, aber die Abende stiegen im Wert. Heute übten sie hier, morgen dort ihre Herrschaft aus. Es war eine unaufhörliche Kette von Thronfolgen, und die Handelsfürsten, die Großreeder, die Leiter der machtvollen Schiffahrtsgesellschaften wie der regierenden Bankhäuser öffneten ihnen ihre Villen und Paläste. Allabendlich sammelte sich ein Wagenpark vor den erleuchteten Häusern, und die Träger althamburger Namen stiegen stolz wie die Träger von Dynastien die breiten Treppen hinan und führten ihre Damen, die schönen gesunden Frauen Hamburgs, schlankgliedrige Töchter Albions und dunkle exotische Blumen ferner Inselwelten durch die aufspringenden Portale. Ein Strom von Licht und Glanz, von Duft und Musik zog durch die Häuser der Großen. Man schöpfte aus dem vollen, und dieselbe Hand, die tagsüber hartnäckig um den kleinsten Gewinn gearbeitet hatte, gab leicht und frei die Summen für die Feste.

Angèle Twersten war nie glücklicher als in diesen Tagen. Ihre Zeit und ihr Denken waren ausgefüllt. Schon des Morgens beim Erwachen begannen die leidenschaftlichen Verhandlungen mit der neuen Zofe, die sich als Kostümkünstlerin erwiesen hatte und überraschende Kompositionen erfand. Ein halbes Dutzend Gesellschaftsroben genügten ihr, um dreißig Toiletten daraus herzustellen. Traf man doch allabendlich dieselben Menschen, einen Teil derselben Menschen wieder. Und nie durfte Angèle dieselbe sein.

Das war der Ehrgeiz ihres Lebens. Den einen Abend durch den anderen zu übertreffen. Bei jedem Fest als eine neue Erscheinung aufzutauchen. Nie in ihrer Nähe die Gewöhnung aufkommen zu lassen. Immer begehrenswert zu sein und jung zu bleiben.

Und wieder war es ihr gelungen, in diesem festereichen Januar. Der seltene Elfenbeinton der Haut, die das leiseste Vibrieren wiedergab, die dunkle Tiefe der Augen, die von der Freude einen feuchten Schimmer annahmen, ihr ganzes Wesen, das sich in jeder Sekunde erschöpfen zu wollen schien und so ausschließlich auf Weiblichkeit gestellt war, es zog die Blicke der Männer an und machte ihre Sinne lebendig. Und sie sah die Blicke und sie fühlte ihre Macht. Da war mancher, der glaubte, Frau Angèle Twersten habe seine Blicke insgeheim dankbar entgegengenommen. Und je mehr es wurden, die es glaubten, desto sicherer wurde ihr Spiel.

Auch das Twerstensche Haus hatte seinen großen Abend gehabt. Von Brambergs war Herr Theodor Bramberg allein erschienen. Frau Ingeborg hatte tags zuvor zu einer Freundin nach Lübeck reisen müssen.

»Ich möchte,« hatte sie Twersten geantwortet, »daß du dich an diesem Abend nur als Hausherr fühlst. Das bist du dir und deinen Gästen schuldig. Wie würdest du das können, wenn du mich in dem Kreise wüßtest? Sprich nicht, Karl. Das sind Ehrenschulden, die wir an unsere Freundschaft zu zahlen haben.«

»An unsere Freundschaft, Ingeborg?«

Sie strich über seine fragenden Augen.

»Ja, Karl. Denn die Liebe fragt nicht danach und ginge am liebsten mit dem Zaum durch. Einerlei, was sie anrichtete. Da müssen wir schon um unserer selbst willen auf die Freundschaft zurückgreifen.«

»Du hast recht, Ingeborg. Grüß mir das liebe alte Lübeck.«

Und Karl Twersten hatte Vorsorge getroffen, daß der Festabend in seinem Hause kein leeres Blatt blieb in der Geschichte der Hamburger Feste dieses Winters, und bis in die frühen Morgenstunden jubelten die Geigen und flog die schöne Hausfrau im Tanze über das Parkett.

Nun war auch dieser Pflicht Genüge getan. Denn nur als Pflicht betrachtete Karl Twersten die Ausübung der gesellschaftlichen Tätigkeit. Für ihn barg sie keine Erholung und Ausspannung. Ein Gang über seine Werft, eine Feierabendstunde bei Ingeborg Bramberg gab ihm mehr.

Es war in den letzten Tagen des Januar. Die Flut der Festabende ebbte zurück. Twersten saß in seinem Privatkontor, überdachte die heutige Börse und las in den spanischen Telegrammen und den amerikanischen Kabelberichten. Es war für ihn kein Zweifel; jeder Tag konnte den Zusammenstoß der beiden Großmächte herbeiführen. Nur nach der Begründung wurde noch gesucht.

In diesem Augenblick öffnete der Bureaudiener die Tür und meldete: »Frau Twersten.« Twersten erhob sich überrascht. »Angèle –?«

»Guten Tag, Carlos. Erhole dich von deinem Erstaunen.«

»Es sind bald zwanzig Jahre, daß du nicht auf der Werft warst.«

»Bitte entschuldige. Es soll auch nicht wieder vorkommen. Aber ich habe einen Brief erhalten, Carlos, der mich zu dieser Störung zwang, der eine sofortige persönliche Aussprache erforderte.«

»Einen Brief? Woher –? Doch bitte, setze dich zunächst.« Und er schob ihr höflich den Stuhl zurecht.

»Ich muß nach Santiago.«

»Du mußt nach Santiago? Jetzt? Auf der Stelle? Denn sonst würdest du für diese Überraschung den Abend abgewartet haben.«

»Wie du sagst. Ich muß auf der Stelle hin.«

»Also erzähle,« bat Twersten, schloß die Augen halb und breitete die Hände auf der Stuhllehne.

»Onkel José schreibt,« begann sie hastig, »und die Eltern haben eine Nachschrift unter seinen Brief gesetzt. Alle hegen sie die schlimmsten Befürchtungen. Der Krieg ist so gut wie gewiß.«

»Mit Amerika –?«

»Selbstverständlich mit den Yankees.«

»Ihr seid ja noch nicht Herr im eigenen Hause.«

»Gewiß sind wir es. Seit kurzem sind wir es auf der ganzen Linie. Und hätte General Weyler noch ein paar Regimenter mehr opfern können, wären wir es längst. Diese Mischlingsbanden – wie er sie zerrieben und vernichtet hat! Wie Insekten schlug er sie tot, die frechen Bastarde.« »Was für Worte, Angèle! Diese Menschen kämpfen gegen die Unterdrückung, für eine Verfassung. Und eurem blutroten Weyler haben sie für jeden Mann, den er ihnen erschlug, einen Soldaten totgeschlagen. Das gab für den General eine so schiefe Rechnung, daß man ihn zurückrief.«

»Nun ja, sie haben sich gegenseitig zerbissen, und es war lustig genug. O, ich bitte dich! Was weißt du davon? Als General Blanco mit neuen Truppen kam und der eingeborenen Bevölkerung eine Verfassung in Aussicht stellte, gaben sie Schritt für Schritt nach. Schon im Herbst war das rein spanische Blut auf Kuba wieder Herr der Situation, und die Herren Insurgenten waren trotz aller offenen und geheimen Unterstützungen Amerikas am Ende ihrer Kraft. Und nun sucht Amerika auf direktem Wege Händel. Es will ja gar nicht die Freiheit der Insulaner, es will unsere Insel!«

»Und deshalb mußt du hin?« sagte Twersten und lächelte.

»Deshalb muß ich hin, und dein Lächeln, lieber Carlos, darf mich nicht abhalten. Denn die Meinen rufen.«

»Die Deinen, sollte ich annehmen, wohnten in Hamburg. Also gehörst du wohl hierher, Angèle.«

»Du irrst,« sagte sie ruhig, »und du weißt es selber. Ich erfriere in Hamburg. Die paar hübschen Geselligkeiten betrügen mich nicht. Ich bin Zeit meines Lebens nicht von Kuba fortgewesen, selbst wenn ich in Hamburg war. Mein Herz, meine Seele, meine Gedanken – alles ist in der Heimat. Nein, ich habe nie eine andere Familie gehabt.«

»Du bist wenigstens offen, Angèle.« »Das ist bei den Beziehungen, wie sie zwischen uns geworden sind, keine schwere Aufgabe. Hier lebe ich kaum, und dort – erlebe ich.«

»So – so –«

»O, spare dir deine Kritik,« und sie lachte erregt. »Ein Leben ist mehr als du ahnst, als du je begreifst. Nein, nein, ich verschwende Worte, du weißt nichts davon.«

»Es ist so, Angèle. Unser beider Leben ist nie zu einem Leben zusammengeflossen, und so hatte jeder einen Bruchteil. Du – wie ich.«

»Dort erlebe ich,« wiederholte sie, und ihre Augen glänzten, als sähen sie die Heimatsonne.

Twersten gewahrte es. Er hatte entschieden.

»Kann ich den Brief von Onkel José« einsehen?« fragte er. »Ich habe immerhin die Pflicht, mich zu informieren.«

Sie nestelte den Brief aus ihrer Pelzjacke hervor und reichte ihn hin. »Lies, es sind keine Geheimnisse.«

Twersten nahm ihn und faltete ihn auf dem Schreibtisch auseinander. Doch eine halbe Seite erst hatte er gelesen, als sein Gesicht den Ausdruck der Spannung annahm. Er fühlte es selbst und stützte den Kopf in die Hand, um seine Züge zu verbergen. Und ganz langsam las er, Wort für Wort, als wäre es ein Geschäftsbrief, von dem er nicht eine Silbe verlieren dürfe.

»Das ist in der Tat wichtig,« murmelte er.

»Du siehst es ein und gibst deine Zustimmung?« fragte sie rasch.

»Ich habe für deine Sicherheit Sorge zu tragen,« entgegnete er langsam.

»Ich bin nirgendwo sicherer als unter den Meinen in Santiago.« »Santiago ist ein Hafen. Er könnte blockiert und beschossen werden.«

Sie wiegte ungeduldig den Kopf. »Das ist ja alles ausgeschlossen. Ich weiß von unseren Offizieren, daß unsere Festungsgeschütze kein feindliches Schiff herankommen lassen. Zudem: das Meer ist weit und besteht nicht nur aus dem Hafen von Santiago. Und die Amerikaner werden es sich dreimal überlegen, unserer Flotte zu begegnen.«

»Ich bin anderer Ansicht, Angèle. Aber ich sehe schon, es bleibt mir nur noch die Bitte an dich.«

»Ich muß zu den Meinen, Carlos. Damit ist alles gesagt.«

Noch einmal blickte er sie lange und prüfend an. Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Und ließen flugmatt die Schwingen sinken. Er erhob sich, klingelte und ließ die Schiffstabellen bringen.

»Dein Wille geschehe,« sagte er.

Sie atmete auf, ließ sich in den Stuhl zurücksinken und sah mit glänzenden Augen zur Decke empor.

Twersten blätterte ruhig in den Schiffstabellen. Jetzt hatte er die Linie gefunden.

»Der Dampfer nach der Havanna – nein, das geht nicht, der nächste fährt schon morgen.«

»O doch, es geht. Zu Hause wird schon gepackt. Bis zum Abend schon sind wir fertig.«

»Ah – du wußtest es bereits.« Ein seltsames Lächeln ging um Twerstens Mund. »Dann bezweckte dein Besuch eigentlich nur noch die Beschaffung der Kabinen? Du sollst mich nicht unritterlicher finden, als du es voraussahst.« Er nahm das Telephonbuch und schlug die Nummer der Dampfergesellschaft auf.

»Nimmst du die Zofe mit? Schön. Also zwei nebeneinander gelegene Kabinen?«

»Drei,« sagte sie, und in ihren Augen saß die Spannung.

»Drei?« fragte Twersten überrascht. »Willst du etwa noch mehr Leute mit dir nehmen?«

»Ich möchte dich bitten, mir Bob als Reisemarschall mitzugeben, Carlos.«

Einen Augenblick blieb es still. Die Augen Angèles hingen an Twerstens Zügen. Jetzt erholte er sich von der Überraschung.

»Bob? Welch eine Laune!« Und seine Hand durchschnitt die Luft.

»Es ist keine Laune. Übrigens – soeben warst du noch so sehr um meine Sicherheit besorgt. Zeige, daß es dir mit deinen Worten ernst war.«

»Du willst mit mir spielen, mein liebes Kind.«

»Eine Mutter spielt nicht, wenn es ihren Sohn gilt.«

»Entsinnst du dich mit einem Male deiner Mutterpflichten? Desto besser. Dann wirst du auch ohne mich finden, wo dein Platz ist.«

»Bitte,« sagte sie, und ihre Nasenflügel zitterten leise, »greife nicht auf das erledigte Thema zurück. Meine Abreise ist eine beschlossene Sache. Neu ist lediglich meine Bitte, mir Bob als Begleiter mitzugeben.«

»Ich bedaure,« entgegnete er kühl. »Robert ist augenblicklich nicht in der Lage, eine Vergnügungsfahrt anzutreten. Seine Ausbildungszeit auf der Werft läuft erst Ostern ab. Vorher kann ihm kein Urlaub bewilligt werden.« »Das hängt doch nur von dir ab,« warf sie erregter ein.

»Nein, das hängt von der Werft ab. Hier kann man nicht kommen und fortlaufen, wie in einem Vergnügungsetablissement. Hier bildet jede Person, und auch die Roberts, ein Glied in der Kette. Und wenn auch kein Mensch unersetzbar ist, für Robert ist die Zeit unersetzbar.«

»O, ich bin es ja gewöhnt, daß du nur mit dem Verstande redest und nie mit dem Herzen.«

»Laß das Herz aus dem Spiel. Du hast nie daran appelliert. Tue es auch heute nicht.«

Sie trat ganz dicht an ihn heran. Ihre Augen funkelten vor Zorn.

»Bob ist mein Sohn! Ich habe soviel Anteil an ihm wie du. Ja, mehr als du! Denn er hängt mit seiner Seele mir an und nicht dir. Das fühlst du auch und deshalb behandelst du ihn hart. Es ist deine Eifersucht!«

»Ich wollte,« sagte Twersten und senkte seinen kühlen Blick in den ihren, »ich hätte dich früher härter behandelt, dann würde der Junge jetzt die Behandlung nicht als hart empfinden. Denn diese Behandlung bezweckt in der Tat, ihm auf Kosten deiner Seele von der meinen zu geben, bis er selbst und selbständig sehen lernt. Es wird mir gelingen. Verlaß dich darauf.«

»Es wird dir nicht gelingen! Er gehört zu uns!«

»Überlaß ihm die Entscheidung. Eines Tages wird er sie selber treffen, und ich vertraue auf mein Blut.«

»Ja,« rief sie, »ja, er soll entscheiden. Hier vor uns beiden. Rufe ihn herein!«

Eine Röte zog über Twerstens Stirn, ein Groll stieg in seine Augen. Einen Augenblick nur.

»Ich bitte dich, weniger laut zu sprechen. Welch eine Komödie sinnst du mir an! Ich habe kein spanisches Blut und deshalb kein genügendes Verständnis für solche Exaltiertheiten. Solange der Junge nicht mündig ist, untersteht er meiner Zucht und meinem Willen. Merke dir das.«

»Er ist in zwei Monaten mündig,« murmelte sie. »Warten wir ab.«

»Angèle,« sagte Twersten drohend und faßte ihr Handgelenk, »ich warne dich vor übereilten Streichen. Der Junge kommt weder heimlich zu dir an Bord, noch trifft er in einem Hafen zu dir. Ich sehe es dir an, was du planst. Hüte dich, Angèle, und setze dich nicht Mißhelligkeiten aus, die deine Reise unliebsam unterbrechen könnten. Ich würde durch das nächstgelegene Konsulat das Schiff anhalten und den Jungen herausholen lassen. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

Sie warf sich in einen Stuhl und schluchzte wie ein wildes Kind. Ihre Energie war bereits verflogen. Es war nur noch der kindische Jammer über einen versagten Wunsch.

»Soll ich jetzt anfragen, ob ich noch zwei Kabinen für dich und deine Zofe erhalten kann? Bitte, antworte, Angèle!«

»Ja,« stieß sie trotzig hervor.

Twersten ging ans Telephon und klingelte an. Er rief hinein und erhielt Antwort. »Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge,« schloß er das Gespräch.

»Sie werden dir die bequemsten Kabinen reservieren, Angèle. Nun sage mir deine weiteren Wünsche.«

»Ich habe keine. Doch, noch einen.«

»Wir sind zwar in Hamburg an das Abschiednehmen gewöhnt,« sagte Twersten und es gelang ihm, ein freundliches Lächeln zu zeigen. »Aber dein Abschiedswunsch soll dir gewiß erfüllt werden.«

»Beurlaube Bob für den Nachmittag. Ich möchte ihn wenigstens heute ganz haben.«

Ohne zu zögern, klingelte Twersten dem Diener und befahl ihm, Herrn Twersten junior herbeizurufen. Robert erschien sofort.

»Gib deine Arbeiten, bitte, an Herrn Schnürlin ab, Robert. Deine Mutter fährt morgen nach der Havanna, in dringenden Familienangelegenheiten. Da leistest du ihr wohl gerne heute – und morgen Gesellschaft.«

»Was? Mama? So plötzlich? Was ist denn los?«

»Du hörst es, Bob. Dringende Familienangelegenheiten. Aber wir wollen deinen Vater jetzt nicht länger stören.«

»Ihr stört mich nicht. Und wenn euch an meiner Gesellschaft gelegen ist, bin ich herzlich gerne bereit –«

»Nein, keine weiteren Opfer, Carlos. Beeile dich, Bob, der Tag ist so kurz.«

Robert ging. An der Tür wandte er sich um. »Ich danke dir, Papa.« Und dann kehrte er nach wenigen Minuten mit Hut und Mantel zurück und geleitete seine Mutter über den Hof der Werft zur Anlegestelle der Barkasse.

Twersten sah ihnen vom Fenster aus nach. Seine Stirn war voller Furchen. »Frau und Sohn,« grübelte er. »Wofür werde ich einst mein Lebenswerk getan haben...? Nun,« und er richtete sich auf, »dann für mein Lebenswerk.«

Er setzte sich an den Schreibtisch. Seine Nerven gehorchten ihm. Er konnte in seinem Hirn ausschalten, was ihm nicht zur Sache gehörig erschien. Er war allein, bei seiner Arbeit. Die Unterredung war gewesen, die Reise Angèles beschlossen. Und er schaltete sie aus, und nur noch die Arbeit war für ihn vorhanden. Hinter seiner Stirn waren die Gedanken beim Werk, neue Gedanken, die nach einem Ausdruck suchten. Er wiederholte sich den Brief aus Santiago. Wort für Wort, was er über die politischen Verhältnisse enthielt. Nur die familiären Stellen ließ er aus. Sie kamen nicht mehr in Betracht. Aber die politisch gefärbten – die hatte ein weitsichtiger Kaufmann geschrieben. Und die Feder in seiner Hand begann, Striche und Punkte zu malen...

»Sprich jetzt nicht,« bat Frau Angèle ihren Sohn, als sie auf der Barkasse übersetzten. »Es ist zu kalt hier. Drüben fährt Friedrich die Pferde spazieren. Nachher, im Wagen.«

Dann saßen sie, dicht nebeneinander, in dem geschlossenen Wagen und fuhren in die Stadt.

»Ist es denn wahr, Mama? Du verläßt uns schon wieder? Und mich?«

»Dich! Dich!« erwiderte sie leidenschaftlich und schlang ihren Arm um seinen Hals. »Bob, wir lassen es uns nicht gefallen.«

»Was, Mama? War denn Papa nicht sehr freundlich zu uns?«

»Kein Wort hat er für das Schicksal der Meinen gehabt,« entrüstete sie sich. »Er rechnete schon wieder.«

»Was ist denn das für ein Schicksal, Mama? Steht es schlecht drüben? Oder ist jemand von den Unseren erkrankt?« »Von den Unseren! Bravo, Bob, wie du das sagtest! Nein, von den Unseren ist keiner erkrankt. Und es steht auch gar nicht so schlecht drüben. Nur neue Verwicklungen kann es geben, und neue Verwicklungen bringen neues Leben, Begeisterung, Aufschwung! Ach, wie ich mich darauf freue! Wie ich mich freue, nicht in Hamburg sitzen zu müssen, während drüben alle Fibern in Erregung sind. Jeder Tag bringt neue Nachrichten, neue Gesichter, neue Spannungen. Und man spürt, wie man sich selbst vervielfältigt, um das alles in sich aufzunehmen.«

»Und daraufhin,« fragte Robert erstaunt, »hat Papa deiner Reise zugestimmt?«

»O du dummes Baby,« lachte sie, »nein, nein, daraufhin gewiß nicht. Aber Onkel José übertrieb in seinem Brief, und die lieben, guten Eltern bestätigten seine Übertreibungen, um mich wieder bei sich zu haben, und sie schrieben: Es wäre gut, wenn ich den Eltern in den schlimmen Tagen, die sie erwarteten, eine Stütze wäre. Daraufhin, mein kleiner, großer Bob. Und weil Santiago mich wirklich nicht entbehren kann.«

Nun lachte sie ausgelassen wie ein Schulmädchen, das in die Ferien schlüpft.

»Du freust dich, Mama,« meinte Robert und sein Gesicht wurde finster. »Ich gönne es dir gewiß von Herzen. Aber daß ich nun wieder ohne dich sein muß und mich sehr nach dir sehnen werde, daran hast du nicht gedacht.«

»O, du undankbarer Mensch!« rief sie und streichelte seine Wangen. »Gekämpft habe ich um dich, wie eine Löwin um ihr Junges! Es hat nichts genutzt. Er gab dich nicht her. Entführen wollte ich dich! Dieser Mann sieht durch eine Stirnwand und liest die Gedanken. Er drohte mir bei seinem Wort. Du weißt, daß er es hält, und ich weiß es und die ganze Welt weiß es. Und du wärst so gern mit mir gegangen.«

»Ja, Mama, das wäre ich wirklich. Und es ist sehr schade. ...«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, Bob. In zwei Monaten, siehst du, in zwei Monaten bist du mündig und deine Ausbildungszeit ist vorbei. Dann werde ich dich rufen, und du wirst kommen, denn du liebst doch deine Mama?«

»Ach du, du weißt es nur viel zu gut. Ich kenne auf der Welt nichts Anbetungswürdigeres als dich.«

Sie zog ihn an sich und drückte ihre Augen in sein Haar.

»Nun, nun –! Versetze mich nicht unter die Engel.«

»Doch, Mama. Und den Glauben soll mir keiner rauben. Der macht mich selbst auf der Werft froh.«

Der Wagen bog in die Alte Rabenstraße ein. Nun hielt er vor dem Hause, und das Portal öffnete sich. Und Robert Twersten führte seine Mutter am Arm hinein.

Im Teezimmer saßen sie den ganzen Nachmittag und plauderten miteinander und schmiedeten Zukunftspläne. Und die Wiedersehensfreude, die ihnen winkte, wurde größer als der Abschiedsschmerz. Dann schlug die Uhr sechs helle Schläge.

»Sechs Uhr,« sagte Angèle, »und wir vergessen den Abend. Zieh den Frack an, Bob. Ich werde die schönste Toilette wählen, die noch nicht im Koffer liegt. Wir fahren in die Oper, und alle Welt soll uns für Geschwister halten. Macht dir das Spaß?« »In einer halben Stunde zur Stelle, Mama.«

Aber es wurde eine Stunde, bis Frau Angèle mit sich zufrieden war. Über ihren zarten, bloßen Schultern ruhte ein schwerer Pelz, den sie wie eine Feder handhabte und seine Umrahmungen beschreiben ließ. Der Fächer aus Strauß hing am Handgelenk, die Kleiderschleppe schlang sich um den Arm und zeigte kostbare Spitzenfrisuren. Robert Twersten starrte das Bild verzaubert an.

»Gefalle ich dir so, Bob?«

»Ach, Mama, die armen Sänger und Sängerinnen! Es wird sie keiner mehr sehen und hören wollen.«

»Dann ist es recht so. Kommen Sie, mein ritterlicher Herr!«

Und sie fuhren ins Stadttheater und traten während der Ouvertüre in ihre Loge. Und als sich im Parkett die Köpfe wandten und die Gläser hervorgeholt wurden und Glas auf Glas die Richtung nach der Loge nahm, lehnte Frau Angèle den Kopf zurück und schloß die Augen. Denn sie spürte das Singen und Klingen ihres Blutes stärker als das Singen und Klingen des Orchesters. Und sie selbst wußte sich auf der Bühne des Lebens. – – –

Karl Twersten hatte das Dahingleiten des Nachmittags kaum bemerkt. Er war nicht vom Schreibtisch aufgestanden. Aber die Gedanken hatten sich verdichtet und im Laufe der Stunden eine Form gewonnen, die er zuerst staunend betrachtet hatte, dann aber fester und fester ins Auge faßte. Wie vor einem Schachbrett saß er und berechnete die Züge. Und die Striche und Punkte, die mechanisch die Hand gemalt hatte, wurden bewußt zu Ziffern.

Der erste Prokurist, Herr Schnürlin, wunderte sich, als er gegen Abend in das Privatkontor kam, über die merkwürdigen Fragen des Chefs, die nichts mit Werftangelegenheiten zu tun hatten, sondern Schiffahrtswege und Kohlenstationen betrafen. »Er ist doch ein besorgterer Gatte, als er uns glauben machen will,« dachte er bei sich, denn er hatte durch Robert von der bevorstehenden Abreise Frau Twerstens gehört, und er schenkte dem Chef einen teilnahmsvollen Blick, als er geräuschlos das Privatkontor verließ.

Twersten erhob sich und wanderte durch das Gemach. Dann nahm er seinen Hut und ging quer über die Werft.

»Hat jemand Herrn Oberingenieur Feldermann gesehen?« fragte er ein paar Nieter, die mit wuchtigen Hieben die weißglühenden Bolzen in die Nietlöcher trieben.

»Helling vier!« schrie einer der Männer, ohne den Hammerschlag zu unterbrechen.

Auf Helling IV lag der Spanier. Schon reckte sich das Gerippe hoch über den langgestreckten Kiel. Der Oberingenieur ging in luftiger Höhe schwindelfrei über die Gerüstbalken der Helling und besichtigte das Tagewerk. Als er den Chef gewahrte, kletterte er rasch und sicher nieder und stellte sich ihm zur Verfügung.

»Was glauben Sie, Feldermann?« und Twersten deutete kurz auf den Bau. »Werden wir einen Rekord aufstellen?«

Die ernsten Züge des Ingenieurs erhellten sich.

»Übers Jahr kann er zu Wasser. Das sind knapp fünfviertel Jahre seit der Kiellegung, Herr Twersten.« »Da kann sich Spanien freuen. Das Schiff ist ihnen geschenkt. Als Grundstock zu einer neuen Flotte, meine ich.«

»Sie halten eine Niederlage für gewiß, wenn es zum Kriege mit Amerika kommt?«

Twersten nickte. »Alte Repräsentationskasten, die spanische Armada. Die Flotte hat sich nicht rechtzeitig und – nicht andauernd verjüngt. Wie steht's mit den beiden Brambergs? Kann ich den genauesten Termin wissen, wann sie segelfertig sind, Feldermann?«

»Wenn es sein muß: Anfang April, Herr Twersten.«

»Nehmen Sie an, es muß sein.«

»Von morgen an wird auf beiden Dampfern in Nachtschicht gearbeitet werden. Ende März, Herr Twersten. Sie können den Termin als fest nehmen.«

»Ich danke Ihnen, Feldermann. Guten Abend.«

Er kehrte in sein Privatkontor zurück, stand nachsinnend am Fenster, die Hände auf dem Rücken, und wandte sich dann dem Telephon zu. »Bramberg und Co. Nummer? Jawohl. Ich bitte. – Hallo! Hier K. R. Twersten. Herr Theodor Bramberg zugegen? Schön, ich warte. – – Sind Sie da, Bramberg? Hier Twersten. Freut mich, daß Sie noch auf dem Kontor sind. Wollen Sie mich in einer halben Stunde erwarten?«

Bramberg rief zurück, daß er noch in den Frack müsse und ob es sonderlich dringlich sei.

»Wenn ich es für unwichtig hielte, würde ich nicht persönlich zu Ihnen herauskommen.«

»Na denn in Gottes Namen. Man muß auch dem Geschäft ein Opfer bringen können. Ich warte also, Twersten, aber machen Sie es gnädig.«

Eine halbe Stunde später saß Twersten dem Chef der Reederei Bramberg und Co. gegenüber. Die Türen des Privatkontors waren geschlossen worden.

»Ein Glas alten Bordeaux gefällig, Twersten?«

»Danke. Ich trinke während der Arbeit nie. Lassen Sie mich dabei bleiben.«

»Während der – Arbeit?« wiederholte Theodor Bramberg und zog ein langes Gesicht. »Ich vertrauensvoller Mensch denke, es handelt sich um eine Mitteilung und lasse Sie ein. Ja, Twersten, ich bedaure: aber gerade heute –«

Twersten beachtete den Einwurf nicht. »Ich möchte ein großes Geschäft zur Diskussion stellen. Ich betone: ein großes Geschäft. Es ist nicht für jeden, denn es gehört der Mut des Einsatzes dazu.«

»Also auf deutsch: Eine Spekulation. Schlechte Zeiten dafür, Twersten.«

»Spekulation! Überlassen Sie das doch den Glücksrittern. Ich spreche als Kaufmann zu Ihnen, Bramberg. Ein Kaufmann zum anderen.«

»Nun haben Sie mich wirklich neugierig gemacht. Ich bin ganz Ohr.«

»Wie steht es mit dem Verladegeschäft nach der Havanna, Bramberg?«

»Ich unterhalte keine regelmäßige Verbindung dorthin. Nach Ostasien, ja, und seit kurzem Skandinavien. Doch das ist Ihnen ja bekannt.«

»Ich meine,« sagte Twersten, »wie es augenblicklich überhaupt um das Verladegeschäft nach der Havanna steht. Ob der Hamburger und der Bremer Markt stark engagiert ist. Ob auf feste Orders oder auf eigene Rechnung.« »Sie werden sich hüten, die Hamburger wie die Bremer. Bei den Zuständen! Für feste Orders ist fast niemals Deckung vorhanden, und auf eigene Rechnung – das wäre ja ganz verrückt! O nein, alles hält fest zurück.«

»Gerade deshalb sollten Sie losschlagen, Bramberg.« Twersten hatte sich aufrecht gesetzt.

Bramberg starrte ihn an. »Ich –?« stotterte er. Und dann lachte er unbändig. »Nein, Twersten, danke. Ich ganz gewiß nicht. Suchen Sie sich einen Dümmeren, Twersten. Ich gehöre nicht zu dieser Kategorie.«

»Weil ich Sie nicht dazu zähle, deshalb komme ich zu Ihnen. Das ist doch verständlich genug.«

»Zu mir. Sehr schmeichelhaft. Aber ich muß danken. Herzlich danken. Andere sollen sich die Finger verbrennen.«

»Mann,« sagte Twersten mit eiskaltem Gesicht, »gerade der Gefahr wegen! Prickelt Sie das nicht? Die Gefahr zu berechnen und unterzukriegen? Mehr Mut zu besitzen, als die Kaffeehändler? Kaffee verladen kann jeder. Das ist kein kaufmännisches Kunststück.«

»Also, es handelt sich doch um eine Spekulation, Twersten.«

»Nein. Es handelt sich um einen kühnen Schachzug, der zeigt, ob wir Meister oder Stümper sind. Ob wir imstande sind, nur unser Hauptbuch oder auch das Hauptbuch der Weltgeschichte zu überblicken. Ob wir Kaufleute sind, die mit großen Situationen zu rechnen verstehen, oder Krämer, die ihre Politik ins Wirtshaus tragen. Haben Sie mich nun verstanden, Bramberg?«

Theodor Bramberg betrachtete seine Hände. »Ich frage noch gar nicht,« begann er reserviert, »um was es sich handelt. Sicher sind es ganz bestimmte Vorschläge, die Sie mir machen wollen, und selbstverständlich nicht umsonst.« Und er blinzelte über die Kneifergläser zu seinem Gast hinüber. »Ja, da möchte ich Ihnen doch vorher noch etwas sagen. Der Geldmarkt ist flau. Meine eigenen Dispositionsfonds – ich weiß nicht, ob ich mich dazu entschließen könnte. Sie ja. Sie haben immer den großen Zug. Als Schiffsbauer. Wenn wir uns kräftig regen und immer mehr riskieren, blüht auf Ihrer Werft der Weizen. Sehen Sie, Twersten, da habe ich nun auf Ihr Drängen und auf das Drängen meiner Frau diese ungeheuren Summen für den Neubau der ›Ingeborg‹ und den Umbau des ›Theodor Bramberg‹ ausgeworfen. Die wollen doch auch bezahlt sein. Die Kontrakte lassen nicht mit sich spaßen. Die melden sich durch K. R. Twersten auf Tag und Stunde. Und nun wieder ein neues Geldrisiko? Ach nein. Lieber nicht.«

Twersten kreuzte die Arme. In seinem Gesicht stand nichts zu lesen.

»Wenn der Kontrakt Sie drückt, Bramberg, wenn Sie nachträglich anderen Sinnes geworden sein sollten – nun, ich stelle Ihnen frei, in dieser Stunde von dem Kontrakt zurückzutreten.«

Theodor Bramberg erhob sich langsam. Seine Augen forschten scharf in dem Gesichte seines Gastes.

»Oho! So stolz, Twersten? Da steckt etwas dahinter.«

»Seit einer halben Stunde erzähle ich Ihnen, daß ein Geschäft dahinter steckt. Aber ich werde mich hüten, Ihnen heute mehr zu sagen.«

»Ein Geschäft, das Sie veranlassen könnte, die beiden Dampfer zu übernehmen?« »Ohne mit der Wimper zu zucken, Bramberg, und mit einem schönen Dank für Sie.«

»Wann würden Sie mir Näheres darüber sagen können?«

»In wenigen Tagen. Sobald ich die genauen Kalkulationspläne ausgearbeitet habe. Vielleicht in einer Woche. Es gilt außerdem: Fühlhörner ausstrecken. Fühlung nehmen. Aber das lassen Sie meine Sorge sein. Es ist Kinderspiel.«

»Was für Sie nicht alles Kinderspiel ist,« murmelte Bramberg mit einem gezwungenen Lachen. »Bargeld ist mir lieber. Nun, also, ich überleg's mir.«

Nun erhob sich auch Twersten. Er streckte dem Chef des Hauses die Hand hin.

»Und Sie versprechen mir, Bramberg, kein Wort nach außenhin, nicht eine Andeutung oder dergleichen.«

»Gern,« sagte Bramberg, »mein Wort,« und er schnitt eine humoristische Grimasse. »Ich weiß ja nämlich selber nichts.«

»Ich an Ihrer Stelle,« erwiderte Twersten, und ein Lächeln ging über sein Gesicht, »ich würde, wenn ich so viel erfahren hätte, wie Sie von mir, das Geschäft allein machen.«

»Und allein hereinfallen. Wie gesagt, ich überlege es mir. Wo fahren Sie hin? Ich muß nach Hause und in den Frack, und zwar schleunigst. Kommen Sie mit?«

»Ich könnte Ihrer Frau guten Abend sagen. Oder gehen Sie zusammen aus?«

»Wo denken Sie hin? Bühnenball! Mit der Frau? Sonst könnte mir wirklich nichts fehlen.«

Draußen wartete das Brambergsche Coupé. Sie stiegen ein und fuhren in raschem Trabe zu der Uhlenhorster Villa. Und während Theodor Bramberg sofort sein Ankleidezimmer aufsuchte, ließ sich Twersten der Frau des Hauses melden und wurde sogleich empfangen.

»Ich komme nur auf einen Augenblick,« sagte er und hielt ihre Hand in der seinen, »aber als Bramberg mir seinen Wagen anbot, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich war bei ihm auf dem Kontor, um ihn wegen eines Geschäftes zu sondieren.«

»Wegen eines Geschäftes? Und zunächst nur – sondieren? Das muß etwas Großes sein.«

»Erraten,« antwortete er erfreut. »Wir verstehen uns doch ohne viele Worte.«

»Gehört der Abend mir?« fragte sie und bot ihm seinen Lieblingssessel.

Er schüttelte den Kopf. »Angèle hat mir eine Überraschung bereitet. Sie war persönlich bei mir draußen auf der Werft, was, glaube ich, nur zwei- oder dreimal in den ersten Jahren unserer Ehe der Fall war. Mit dem morgen ausgehenden Dampfer reist sie wieder einmal nach Hause. Ihre Familie in Santiago liegt ihr näher am Herzen als ihre Familie in Hamburg. Ich mußte sie gehen lassen.«

Ingeborg Bramberg sah beklommen zur Erde.

»Ich weiß nicht,« sagte sie endlich, »ob ich diese Reise als ein Glück oder ein Unglück betrachten soll. Gerade mir steht darüber kein Urteil zu.« Sie hob den Kopf und blickte ihn freimütig aus ernsten Augen an. »So wahr ich vor dir stehe, ich möchte nur dein Bestes.«

»Ja,« erwiderte er einfach. »Diese Gewißheit ist mir Friede und Ansporn geworden.« Noch eine Weile standen sie und blickten sich schweigend an. Und dann reichten sie sich, beide aus demselben Impuls heraus, aufs neue die Hand.

»Ich muß jetzt gehen, nachdem ich dich gesehen habe. Der Abend gehört ihr.«

»Ich brauche dich nicht zu bitten. Deine Empfindung sagt dir das Richtige.«

»Gute Nacht, Ingeborg. Das sollst du immer von mir sagen. Dann lohnt es sich.«

»Gute Nacht, Karl. Ich werde es nie wieder sagen, denn ich müßte mich wegen dieser Torheit schämen.«

Als Twersten nach Hause kam, meldete ihm der Diener, daß die gnädige Frau und der junge Herr in die Oper gefahren seien. Er zeigte keinerlei Überraschung, ließ sich ein Glas Wein und kalte Küche servieren und setzte sich mit den Abendzeitungen in den durchwärmten Salon. Gegen elf Uhr fuhr der Wagen vor, und Angèle trat mädchenfröhlich mit Robert ins Zimmer. Er begrüßte sie, ohne mit einem Wort seinen einsamen Abend zu erwähnen.

»Habt ihr euch gut unterhalten? Nun werdet ihr hungrig sein.« Er legte die Zeitungen beiseite und setzte sich noch einmal mit ihnen zu Tisch. »Ich nehme noch ein Glas Wein. Auf eine gute und glückliche Reise, Angèle.« – –

Am nächsten Abend fuhr Frau Angèle Twersten zum Hafen. Die Dienstboten rannten mit rotgeweinten Augen treppauf und treppab durch das Haus, suchten in den Zimmern nach liegengebliebenen Gegenständen und waren glückselig, der Herrin noch einen Liebesdienst erweisen zu können. Nun standen sie wieder wie damals bei der Heimkehr der Hausfrau in einer Reihe im Flur des Hauses.

»Adieu, Kinder,« rief Angèle und drückte alle die Hände, die sich ihr entgegenstreckten. »Bleibt brav, hört ihr, bleibt brav!«

Ein Schluchzen folgte ihr, als sie in den Wagen stieg.

Dann kam der Abschied auf dem Dampfer. Leidenschaftlich umarmte Robert die Mutter, und sie küßte ihn auf die Augen und aufs Haar und flüsterte: »Auf Wiedersehen, mein Bob, auf baldiges Wiedersehen.«

»Lebe wohl, Carlos.«

Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und sah sie lange an. Als suchte er unermüdlich.... Immer noch.

»Lebe wohl, Angèle,« und er küßte sie auf die Stirn.

So nahmen sie Abschied. –

Die Schiffsglocke läutete, die Verbindungsbrücken mit dem Land wurden eingeholt. Rasselnd stieg der Anker vom Grund. Ein langhingellender Pfiff, und die Maschine nahm die Arbeit auf. Das Schiff vollzog eine Schwenkung, wand sich graziös durch das Hafenbecken und glitt in den Strom.

Stumm fuhr Karl Twersten mit seinem Sohne heim. In der Jugend hatte er sie gefunden, die jetzt heimreiste. Aber er wußte, daß das Schiff seine Jugend nicht mit von dannen tragen konnte. Nicht das, was er seine Jugend nannte.

Das blieb, so lange er Gedanken gebären konnte, die Taten zeugten.

Und er nahm den Sohn mit sich auf ein Zimmer behielt ihn bis in die Nacht bei sich. –


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