Rudolf Herzog
Hanseaten
Rudolf Herzog

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IV

Zweimal schon hatte der Chef der Firma K. R. Twersten dem Bureaudiener geläutet und ihm Auftrag gegeben, Herrn Robert Twersten ins Privatkontor zu rufen. Der junge Herr war noch nicht erschienen. Daß sein Sohn erst um die vierte Morgenstunde nach Hause gekommen war, wußte Twersten, und er war, ohne ihn wecken zu lassen, allein auf die Werft gefahren. Aber nun wollte es ihm doch nicht gefallen, daß der Junge so gründlich den Morgenschlaf ausnutzte.

»Zu weich, zu schmiegsam, zu wenig Knochen und Verantwortlichkeitsgefühl,« murmelte er, schob die Korrespondenz zur Seite und erhob sich, um seinen täglichen Inspiziergang anzutreten. Schnell durchschritt er das kaufmännische Bureau, in dem die Federn beim Erscheinen des Chefs eifriger kratzten, und verweilte einige Zeit im technischen Bureau, aufmerksam Konstruktionsentwürfe und fertige Pausen prüfend. In Begleitung des Oberingenieurs vollzog er alsdann den Rundgang über die Werft. Keinen der zahlreichen Betriebe überschlug er. Selbst der Speisehalle stattete er einen Besuch ab. Beamte und Arbeiter sollten wissen, daß das Auge des Herrn jederzeit über ihnen war.

Es wehte eine regenkalte Herbstluft. Das Wasser des Hafens hatte eine schiefergraue Färbung, in der die Dinge in seltsam klarem, vergrößertem Maßstabe erschienen. Die mit rotem Mennig gestrichenen Eisenplanken der gedockten Schiffe erzeugten ein Kältegefühl um sich her, das Tuch der aufkommenden Segler spannte sich feuchtschwer, und die Decks der Dampfer glimmerten wie unter einem nassen Überzug.

Karl Twersten spürte, wie ihn die Zeichen des Herbstes bedrängen wollten. Wie lange noch und die ersten Stürme brausten durch den Mastenwald, umheulten seine Werft und spieen wütend an das einsam in die Nacht hinaus leuchtende Fenster seines Arbeitszimmers. Dann war wieder der Winter da. Wieder einmal. Wie so viele vorher ...

»Nein,« sagte er sich, »das nicht. Nicht wie so viele vorher. So verschwenderisch werde ich nicht mehr damit umgehen.«

Und er schüttelte den Bann des Herbstwetters ab und kehrte mit eiligeren Schlitten zu den Bureaus zurück.

»Herr Robert Twersten ist gekommen,« meldete der alte Diener.

»Schön, rufen Sie ihn zu mir.«

»Er wartet bereits in Ihrem Privatkontor, Herr Twersten.«

Um Twerstens Mund zuckte ein Lächeln. »Das Gewissen hält ihn fest,« dachte er, »und nun kann er nicht aus dem Zimmer, bis klar Deck ist.« Er wandte sich an seinen Oberingenieur.

»In einer Viertelstunde möchte ich Sie bei mir sehen, Herr Feldermann. Ebenso Herrn Schnürlin. Ich habe da eine nicht unwichtige Sache.« »Jawohl, Herr Twersten. In einer Viertelstunde.« Und der Oberingenieur zog seine Uhr.

Karl Twersten ging die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu seinem Privatkontor. Robert saß auf einem Stuhle am Fenster. Als er seinen Vater gewahrte, sprang er sofort auf und machte eine knappe Verbeugung.

»Guten Morgen, Papa.«

Twersten reichte ihm die Hand. »Guten Morgen,« sagte er. »Du, der Morgen ist beinahe herum.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Papa. Ich hatte schwere Kopfschmerzen und hätte doch nur schlecht gearbeitet.«

»War denn die Sache gestern abend das Versäumnis wert? Du brauchst nicht zu beichten. Ich frage nur im allgemeinen.«

Robert Twersten errötete. Dann sagte er hastig: »Ich war gestern abend bei Vanheils. Und die Fröhlichkeit, die in dem Hause herrschte, steckte an, und da habe ich noch ein wenig gebummelt.«

»Setz dich, Robert. So, bei meinem alten Freunde Martin Vanheil warst du? Ja, dann kann ich mir alles denken. Es gibt nichts, was man so leicht in den Adern auffängt, als den Tropfen leichtes Blut.«

»Leicht ist doch nicht leichtsinnig, Papa.«

»Dann würde ich gar nicht davon sprechen, Robert. Leichtsinnig ist etwas, was an einen Mann von Selbstachtung gar nicht herankommt.«

»Du betontest das Wort vorhin nur so merkwürdig.«

Twersten zündete sich eine Zigarre an. »Du rauchst wohl noch nicht?« meinte er mit leiser Ironie. »Ja, das Fröhlichsein hat auch seine verschiedenen Preise.« Er blickte eine Weile stumm dem Rauch seiner Zigarre nach. »Dieser Martin Vanheil war schon als Junge ein prächtiger Mensch. Er war vier Jahre älter als ich und saß zwei Klassen höher, was ihn aber nicht hinderte, mit mir zu verkehren. Damals war es wohl mehr unsere Werft, die ihn anzog und auf der man sich so prachtvolle Spiele ausdenken konnte. Denn das war seine Leidenschaft: sich etwas ausdenken. Er war der begabteste Schüler und blieb zurück. Er hatte hundert Talente und baute keines aus, weil er sich von einem anderen schon wieder gereizt fühlte. Er gab beständig von seinen Schulgroschen und forderte nie zurück, obwohl seine Mitschüler reicher waren. Und er freute sich kindisch, wenn seine Kameraden eine Eins unter die deutschen und lateinischen Aufsätze erhielten, die er ihnen angefertigt hatte, während er selbst mit einer Fünf hineinrasselte, weil er für sich keine Zeit mehr gehabt hatte. Das war Martin Vanheil, der Schüler. Und Martin Vanheil, der Kaufmann? Der ist nicht ganz vom Gatten und Vater zu trennen. Überhaupt nicht. Er war noch Kommis, als er heiratete. Sein Vater hatte gar kein schlechtes Geschäft, aber Martin behauptete, er dürfe dem alten Herrn nicht das Vergnügen des Lebensabends beschneiden, indem er plötzlich die Hälfte der Einnahmen auf sich zöge. Und als Vanheil senior endlich starb und Martin Vanheil mit Frau und Kindern in das Geschäftshaus zog, da war es sein erstes, den aufgebesserten Verhältnissen dahin Rechnung zu tragen, daß er den Vater seiner Frau, einen alten Maler und Silhouettenschneider, zu sich nahm. Das war eine schöne Tat, wirst du sagen, aber der alte Maler hatte bis dahin immer noch sein gutes Auskommen gehabt und gewöhnte sich nun vor der Zeit ein gemächliches Großvaterleben an, das den Enkelkindern viel Spaß machte, Martin Vanheil aber viel Geld kostete. Und allen den Seinen, die wirtschaftlich von ihm abhingen, einen guten und fröhlichen Tag zu schaffen, war fortan seine einzige Sorge. Dazu mußte herhalten, was das Geschäft eintrug. Dazu war es da. Das war nach Vanheils Meinung die vorgeschriebene Bestimmung eines jeglichen Verdienstes, der Grund für seine Arbeit. Nicht einen Grad ist das Geschäft höher gekommen, und wenn der Inhaber einmal die Augen zumacht und es tritt nicht ein Wunder ein, ist es hin, denn es hängt nur an den persönlichen Beziehungen Vanheils und nicht an seinen kaufmännischen. Und die Frau? Und die Kinder? Werden sie von der Fröhlichkeit, die ihnen der alte Idealist sein ganzes Leben hindurch beschert hat, weiterleben können? Sie werden, um sich durchzubeißen, mit ganz neuen Lebensauffassungen und ganz von vom beginnen müssen, als lägen all die Jahre nutzlos hinter ihnen. Siehst du, Robert, Fröhlichkeit verbreiten, wahre Fröhlichkeit, heißt nicht, den Tropfen leichten Blutes, den jeder Mensch hat, an die Seinen weitergeben und ihn dort hegen und pflegen, daß sie nur rosafarben sehen, sondern es heißt: sie an seinen Sorgen und Kämpfen teilnehmen lassen, daß sie wetterfest werden und jeden neuen Kampf als den Anbruch einer neuen großen Freude betrachten. Und um wetterfest zu werden, dazu gehört Erziehung, Direktion, der Blick, der sorglich über den Tag hinaus schweift und – ja – und – der Glaube an den Mann, der die Führerrolle hat.«

Er stand auf und drückte seine Zigarre aus.

»Du siehst, sie ist nicht ganz so leicht und bequem, die Fröhlichkeit, die ich meine. Aber was nicht mit Opfern erkauft wird, hat nur Augenblickswert.«

Robert Twersten saß stumm und regungslos auf seinem Platz. Wie so oft schon, spürte er auch jetzt, wie sein Vater ihn in seinen Bann zog, und er wehrte sich dagegen, all seine heimlich umherflatternden Wünsche, die er an das Leben zu stellen gedachte, dem keinen Pardon gebenden Arbeitsgedanken des Vaters auszuliefern.

»Hast du noch Kopfschmerzen, Robert?«

»Nein, Papa, ich bin wieder ganz frisch geworden.«

»Das freut mich für dich. Scheußlich, wenn der Verstand in ein Abhängigkeitsverhältnis gerät. Dafür gibt's gar kein Äquivalent. Du hast nun zwei Jahre auf der Werft gearbeitet und den kaufmännischen Betrieb in allen seinen Einzelheiten kennen gelernt. Ich darf sagen, daß ich in dieser Beziehung mit dir zufrieden bin. Anders steht es mit deinen technischen Erfahrungen. Was du da gelernt hast, hast du aus dem täglichen Anschauungsunterricht. Und wenn ich auch den Wert dieses Anschauungsunterrichtes nicht verkenne – es wird Zeit, daß du ihn stabil machst, ein Gerüst baust und es nach allen Richtungen hin verankerst. Da ...« er stockte, »da Mama so viel auf Reisen ist, wird es mir natürlich schwer, dich gehen zu lassen. Aber das Polytechnikum ist dir vonnöten.«

Auch Robert hatte sich erhoben, seine schlanke Jünglingsgestalt streckte sich wie zur Verteidigung. In seinem feinen, brünetten Gesicht sprang ein hartnäckiger Zug auf.

»Es war vor zwei Jahren Mamas Wunsch nicht, Papa!«

»Weil sie dich nicht hergeben wollte und das Alleinsein fürchtete. Dafür hat sie jetzt ja längst ihre Reisen.« »Und es ist auch nicht der meine.«

»Es ist mein Wunsch.«

»Ich weiß es, Papa. Aber ich muß mich doch selbst am besten kennen. Ich eigne mich absolut nicht für die höhere Mathematik. Ich besitze nicht die Spur von Verständnis dafür. Die Jahre wären einfach verloren für mich.«

»Wozu du dich eignest, wird dich schon die harte Pflicht lehren. Und kein Jahr ist verloren, in dem mit voller Energie gearbeitet wurde. Deine Arbeitskraft aber und dein Pflichtgefühl wirst du eines Tages der Firma K. R. Twersten schuldig sein.«

»Dann mach eine Aktiengesellschaft aus ihr und laß mich kaufmännischer Leiter werden.«

»Was – soll ich?«

Mit dunkelrotem Kopfe trat der Chef der Firma dicht vor seinen Sohn, und vor dem weitgeöffneten, zornsprühenden Auge wandte der Sohn den Blick zur Seite.

»Was soll ich? Aus K. R. Twersten eine Aktiengesellschaft? Für hundert gleichgültige Esel Gewinn herauswirtschaften? Aus diesem Werk, das von der Hand einer Persönlichkeit und immer nur für die Entfaltung einer anderen Persönlichkeit begründet wurde? Die Werft K. R. Twersten, das merke dir, hat andere Missionen zu erfüllen, als dividendenhungrige Bäuche zu mästen und sich von Krethi und Plethi in die Geschäftsführung hineinreden zu lassen. Aus einem einzigen großen Zug heraus hat dies Werk hier zu wachsen, und wenn es in die erste Stelle einrückt und Macht gewinnt über die See hinaus, so soll dieser Gedanke, der wie ein Aufatmen ist, nicht nur die Belohnung für mich, sondern auch das Geschenk eines Bürgers an sein Vaterland sein. ›Eines‹, hörst du? Und die anderen sollen es ihm nachmachen.«

In seinen Augen stand der Stolz, den das Bewußtsein des Könnens und Vollbringens verleiht. Dann wandte er sich mit einer halblässigen Bewegung ab, als bedaure er, daß er sich aus seiner kühlen Zurückhaltung heraus habe fortreißen lassen.

»Es bleibt also dabei. Ostern gehst du zur Technischen Hochschule.«

Und Robert Twersten antwortete mit bebender Stimme: »Wir sprechen noch darüber, Papa. Sobald Mama zurück ist. Ich habe ihr versprochen, keine Schritte ohne ihre Einwilligung zu tun, und kann das nicht einseitig ändern.«

Noch einmal streifte ein großer Blick Twerstens den Sohn. Wie ähnlich der Junge Angèle in diesem Augenblick sieht, schoß es ihm blitzschnell durch den Sinn, und sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Er mußte seine Willenskraft zusammennehmen. Und er sagte obenhin: »Die Sache ist für mich erledigt. Du kannst jetzt gleich hier bleiben und der Konferenz mit Schnürlin und Feldermann beiwohnen. Setz dich, bitte.«

Der Bureaudiener, der schon einmal vergeblich angeklopft hatte, meldete den Prokuristen und den Oberingenieur. Die Eintretenden machten eine stumme Verbeugung und ließen sich, auf eine Handbewegung des Chefs hin, in der Nähe des Arbeitstisches nieder. Twersten entnahm einer verschlossenen Mappe eine Anzahl Papiere und Pausen.

»Da hätten wir nun den Beweis, meine Herren, daß meine Kalkulation vom Vorjahre die richtige war. Das spanische Marineamt kommt auf meine damalige Offerte zurück, und erteilt uns den Auftrag zum Bau des schnellen Kreuzers.«

»Ah,« entfuhr es dem Oberingenieur.

»Auf Grundlage unserer Berechnungen?« fragte der Prokurist gespannt.

»Auf Grundlage unserer Berechnungen. Wissen Sie noch, wie Sie damals meine Notierungen bekämpften, Herr Schnürlin? Und die Preise für unkonkurrierbar erklärten? Der von Spanien zurückgehaltene Auftrag schien Ihren Argumenten recht zu geben. Schien! Denn die Leute hatten einfach ihr Geld für ihre Truppen auf Kuba nötig und glaubten immer noch, die Insurrektion lokalisieren zu können, sozusagen als häusliche Angelegenheit, ohne Verwicklung mit anderen Mächten.«

»Das ist noch nicht anders geworden,« wagte der Prokurist einzuwerfen.

»Noch nicht. Aber es wird in Kürze anders werden. Die riesigen amerikanischen Vermögen, die in kubanischen Plantagen Angelegt sind, tragen seit Jahr und Tag keinen Pfennig mehr und laufen Gefahr, völlig verloren zu gehen, wenn die Objekte noch mehr zerstört und die Pflanzungen von den kriegführenden Parteien niedergebrannt werden. Als Staat hat die amerikanische Union keinerlei Anlaß, sich einzumischen. Aber schon läßt sie den Transport von Freiwilligen aus ihren Häfen zu, und sobald sie fühlt, daß es unabwendbar an den Geldbeutel ihrer einflußreichen Bürger geht, schafft sie den Anlaß zur Einmischung, und zwar zur bewaffneten, darauf können Sie sich verlassen.« »Ähnliches fürchteten Sie damals schon, Herr Twersten,« gab der Prokurist zu, »aber es lag noch so gar nichts in der Luft.«

»Ja, wenn's erst in der Luft liegt, ist es zu spät, um Schiffe zu bauen. Eine Flotte läßt sich nicht von heute auf morgen ausgestalten, und in Kriegszeiten erst recht nicht. Spanien hat immer stolz die Anzahl seiner Schiffe gezählt, nicht die ihrer Jahre. Und was es in Friedenszeiten versäumt hat, muß es jetzt doppelt und dreifach bezahlen. Das ist nicht mehr als recht und billig und erzieht ein Volk zur Wachsamkeit. Sehen Sie, das war der Grund für die von mir gestellten gesteigerten Zahlungsbedingungen. Spanien hat mit dem Bau dieses Kreuzers und anderer Kriegsschiffe anderthalb Jahre verloren – vielleicht unwiederbringliche Jahre. Aber das geht unsere Werft nichts an. Nun haben wir den Auftrag, und daß er sich lohnt, dafür habe ich gesorgt. Stimmt's, Herr Schnürlin?«

»Gott sei Dank,« sagte der Prokurist und wischte sich die Stirn, »daß wir damals schon die Abschlüsse mit den Maschinenwerkstätten unter Dach und Fach gebracht haben, bevor die Kampfpreise eintraten.«

Karl Twersten nickte. Seine Augen schlossen sich halb. Er sah das Arbeitsfeld.

»Herr Feldermann, Kiellegung auf Helling IV. Morgen schon erscheint der spanische Kapitän und die zur Beaufsichtigung des Baues abkommandierten spanischen Schiffsingenieure.« Er griff nach den Papieren und Plänen. »Es hat sich nichts verändert. Länge 130 Meter, bei einer Breite von 15 Metern. Jeder Teil deutsches Fabrikat, von den Panzerplatten bis zur Armierung, die aus zwölf 15 Zentimeter-, zwölf 7,5 Zentimeter- und acht 4,7 Zentimeter-Schnellladekanonen besteht. Die Verteilung und Aufstellung der Artillerie ist eine derartige, daß sowohl ein außerordentlich starkes Bug- wie Heckfeuer erreicht wird. Die Munition wird durch elektrische Kraft aus den Kammern an Bord und auf Schienen zu den Geschützen geführt. Mit allen Neuerrungenschaften der Schiffbaukunst werden wir arbeiten, und ich denke, der Kreuzer soll mit dem Namen unserer Werft den Ruhm deutscher Technik in die Welt tragen. Das sei die Genugtuung für die schlaflosen Nachte. Denn, meine Herren, ich habe sie gehabt, bis der Zuschlag erfolgte.«

Die Herren erhoben sich. In tiefem, schweigendem Respekt. Dann fragte der Prokurist trocken geschäftlich: »Noch etwas, Herr Twersten?«

»Nein, lieber Schnürlin, das genügt wohl für heute. Bereiten Sie für sich alles vor.«

Der Prokurist machte eine Verbeugung und ging. Jetzt erhob sich auch Twersten und stand vor seinem Oberingenieur.

»Ihre Hand, Feldermann. Ihre Ausführung der Entwürfe damals war glänzend. Ich habe ein dankbares Gedächtnis. Nun übertragen Sie Ihre ganze Kunst auf die praktische Ausführung. Damit die Werft K. R. Twersten bald, recht bald, deutsche Flottenschiffe zu bauen bekommt und immer auf einer der Hellinge ein deutscher Kiel liegt. Das muß erst die wahre Arbeitsfreude sein.«

»Herr Twersten, ich kann keine Worte machen. Das beste, was ich gelernt habe, habe ich von Ihnen. Und es gehört Ihnen.«

Twersten antwortete nichts. Er drückte dem Manne fest die Hand und spürte den festen Gegendruck. Dann begab er sich ruhig wieder an seinen Arbeitstisch. »Brauchen Sie etwas von diesen Zeichnungen?«

»Danke. Ich habe alles.«

»Nach der Börse komme ich zurück und bin bis sechs Uhr hier oben. Guten Morgen, Herr Feldermann.«

»Guten Morgen, Herr Twersten.« Und zu Robert hin: »Guten Morgen.«

»Du kannst mit mir fahren, Robert,« sagte Twersten und nahm seinen Paletot. »Es ist zwar schon spät, aber es ist gut, daß ich mich heute sehen lasse.«

»Gern, Papa.« Wie aus einer schweren Beklemmung wachte Robert auf. »Gern. ... Ich will nur meinen Mantel holen.« Und er verließ das Zimmer, als gelte es eine Flucht.

Die Barkasse brachte sie hinüber. Als sie vor der Börse anlangten, läuteten die Börsenglocken, und des Signals gewärtig fluteten vom Rathausmarkt, vom Altenwall und der Johannisstraße Ströme von Börsenbesuchern heran, und die Türen der umliegenden Restaurants und Cafés sprangen auf und ließen Scharen eiliger Frühstücksgäste hinaus, die das Sperrgeld meiden wollten. Ein Meer von Köpfen wogte vor den Pforten und drängte hinein. Ganz Hamburg schien auf den Beinen zu sein und dennoch keine Zeit zu haben.

Noch klang aus den Sälen freundschaftliches Gemurmel zu den Galerien hinauf, dann anschwellendes babylonisches Sprachengewirr und, wie Orkanstöße oft, ein alles verschlingender, brausend dahinströmender Lärm. Gruppen bildeten sich, flossen auseinander, um neue zu bilden. Auf kaltblütige Herren redeten hastig gestikulierende ein. Neben blassen Gesichtern tauchten lachende auf. Kommis, die Notizbücher in der Hand, drängten sich näher an die Fürsten des Handels und Wandels, Reeder und Direktoren der Schiffsgesellschaften, Großindustrielle und Werftbesitzer, Kaffee-, Zucker- und Tabakhändler. Makler verhandelten mit vierschrötigen Schiffern und Ewerführern. Und wie Torpedos sausten die Depeschenträger durch die Säle. Lungenkräftige schrien die Kurse aus. Leichtfüßige verteilten die letzten Reuttertelegramme. Und inmitten dieses Lärmes und dieses erhitzten Getriebes geschah hie und da ein kurzes Neigen des Kopfes, das Millionen ins Rollen brachte, ein Wort, das unabsehbare Geschäfte ins Leben rief, ein Wink, den der Telegraph durch die Ozeane hindurch Kapitänen auf der anderen Halbkugel überbrachte, und der ihnen befahl, Häfen zu verlassen, Häfen aufzusuchen. Es war die Stunde, in der Hamburg der Welt den Puls fühlte.

Twersten Vater und Sohn hatten sich zu ihrem angestammten Sitz begeben. Wo sie erschienen, hoben sich grüßende Hände an die Hutkrempen, gab man höflich den Weg frei. Die Vertreter großer Stahl- und Eisenwerke näherten sich eilig. Schon hatte irgendwer eine Depesche erhalten, in der von dem spanischen Auftrage an K. R. Twerstens Werft orakelt wurde. Denn an dieser Stätte blieb nichts ein Geheimnis.

Twersten erteilte eine Anzahl Orders und bestimmte eine weitere Anzahl von Offertabgaben. Hochaufgerichtet stand er im Gespräch an einem Pfeiler, und so laut der Stimmenlärm ringsum tobte, sein Ohr griff auf, was es wollte, und sein Blick zerteilte die Menschenmasse und prüfte kurz und sicher die Gesichter. Unter den Kaufherren, die ihn mit einem Händedruck beglückwünschten, war auch Theodor Bramberg. Strahlend kam er heran.

»Wissen Sie das Neueste, Twersten? Nein? Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Ziege und einem Briefträger? Ach was, das müssen Sie hören. Also: eine Ziege, ja, die können Sie melken, nicht wahr? Und ein Briefträger, sehen Sie, der braucht sich das nicht gefallen zu lassen. Hahaha!«

Er schob sich schon weiter, da wandte er sich noch einmal um.

»Übrigens, Sie vernachlässigen uns. Meine Frau fragte schon, ob Sie krank wären. Lassen Sie sich doch mal sehen. Jede Stunde ist recht.«

Und nun versetzte er unbarmherzig dem Reeder der Afrikalinie die Briefträgerparallele und hatte Twersten vergessen. Halb drei Uhr schlug es, und die Börsenstunde war vorbei, die Nachbörse begann. Twersten fuhr rasch zur Werft zurück.

»Das mischt auf und stählt doch wieder,« meinte er sinnend zu Robert, der ihn begleitete. »Geburts- und Todesstunden fallen hier zusammen. Man sieht dem Leben und Sterben ins Gesicht.«

»Ich habe viele sorgenvolle und gedrückte Mienen gesehen.«

»Nur das Starke hat Berechtigung.«

»Ich sollte doch meinen: alles, was lebt, Papa. Und dazu gehört wohl auch das Schwache.«

»So soll es Rosen ziehen, aber nicht den Kampfplatz versperren.«

Robert schwieg. Das waren die Augenblicke, in denen er seinen Vater nicht verstand, in denen er ihn zu hassen meinte.

Auf der Werft arbeitete Twersten sofort wieder in seinem Privatkontor. Als die Nachmittagspost hereingebracht wurde, fand er unter den Briefschaften ein Kuvert mit dem Stempel »Santiago«. Er legte es zur Seite, bis er die Geschäftskorrespondenz durchflogen und mit Anmerkungen versehen hatte. Dann unterschrieb er noch die ausgehenden Briefe.

Langsam wandte er den Stuhl dem Fenster zu. In grauen Fäden kroch die Dämmerung durch die Luft.

»Von Angèle,« sagte er und öffnete den Umschlag. Und während sein Auge die ersten beiden Seiten des Briefes überflogen hatte, las er die beiden folgenden langsamer und langsamer, als ob er etwas suche, was er nicht finden könne. Sein Gesicht war kalt, als er den Anfang noch einmal las.

»Lieber Carlos, während Du im nebligen Hamburg frierst, tanze ich in der Sonne. Während Du Dir in Geschäftssorgen graue Haare holst, erhalte ich mir in den goldensten aller Lebensfreuden mein junges Herz. In Hamburg lebt man ja nur, um zu altern und zu sterben, hier aber, um täglich erneut aufzuerstehen. Vorgestern ein Ball im Offizierkorps, heute ein Ball beim Gouverneur. Lache nicht mißgünstig: ich war die Königin. Und heute ein Korso im Hafen. Dazu eine Toilette, die selbst Dich bezaubern würde. Soll ich großmütig sein und sie Dir beschreiben? Von den Schultern rieselt die Seide, fein wie Spinnweb. In den Falten lauschen Perlen. Eine ganz köstliche hält das Gewebe irgendwo im Nacken, und eine schwarze, tiefschwarze, heftet es auf die Brust. Im Haar ein Kranz von – –« Der Leser am Fenster drückte plötzlich das Papier zu einem Knäuel zusammen und blieb unbeweglich sitzen. Nein, es stand nichts darin, keine Frage nach seinem Ergehen, keine Frage nach der Werft und den Ergebnissen rastloser Arbeit. An den Rand gekritzelt: »Küsse mir Bob,« und die Bitte um einen neuen Kreditbrief. Alles!

Heute, da der spanische Auftrag den Kiel des ersten Kriegsschiffes auf die Hellinge der Werft legte, da sein Herz übervoll war, kam am Morgen der Sohn – am Nachmittage seine Frau. ... Nein, nein, nein, sie kamen ja gar nicht.

Und mit einem Male fühlte sich Karl Twersten in der Dämmerstille ganz allein.

Draußen schwammen die Konturen der Schiffe wie Gespensterschiffe. Und alle ihre Frachten trugen höhnisch verzerrt seinen Namen. Der höllische Ton einer Dampfsirene zerriß die Luft. Das brachte ihn zu sich.

»Friedrich soll mit dem Wagen kommen,« telephonierte er an seine Wohnung. Dann räumte er mechanisch den Schreibtisch auf, verschloß den Armstrong und begab sich ins Waschkabinett. Aber der Gedanke an den einsamen Abend in seiner Wohnung schreckte ihn heute. Er ließ die wenigen Freunde, für die ihm die Arbeit Zeit gelassen hatte, Revue passieren. Da fiel ihm die Einladung Brambergs ein. »Jede Stunde ist recht,« hatte der Reeder gesagt. Nun, so sollte diese die rechte sein.

Frau Ingeborg Bramberg – –.

Und wie er den Namen vor sich hinmurmelte, war ihm, als hätte ihm jemand ein Geschenk gemacht.

Als ihm der Diener in der Brambergschen Villa zu Uhlenhorst mitteilte, Herr Bramberg sei zu einem Klubdiner und die gnädige Frau ausgefahren, mußte er sich die Meldung noch einmal wiederholen lassen. So sehr hatte er mit dem Abend gerechnet. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und gab Friedrich Order, nach Hause zu fahren, als die Brambergsche Equipage vorfuhr und Frau Bramberg rasch den Schlag öffnete.

»Herr Twersten! Meine Ahnung hat recht behalten. Und ich komme noch gerade zur rechten Zeit.«

»Aber, gnädige Frau, Sie konnten ja gar nicht wissen, daß ich, gerade heute –«

»Ich war so allein. Und ließ den Wagen kommen. Und eben fahre ich die Alster entlang, da ist mir, als ob ich sofort umkehren müßte – weil Sie vor meiner Tür ständen.«

»Lassen Sie mich ein?«

»Wäre ich sonst umgekehrt? Und Ihren Friedrich, bitte, den schicken Sie zurück. Ich übernehme die Verantwortung, daß Sie gut heimkommen.«

»Der Abend gehört Ihnen,« sagte Karl Twersten, »befehlen Sie darüber.«

Im Vestibül übergaben sie dem Diener die Überkleider. Und die Frau des Hauses ging schnellen Schritts voran.

»Wir wollen in mein Zimmer gehen. Dort ist es am gemütlichsten. Und es gehört mir. Ich muß Sie doch auf meinem eigenen Grund und Boden begrüßen können.«

Die Tür schloß sich geräuschlos hinter ihnen. Und Ingeborg Bramberg wandte sich schnell nach ihrem Gaste um und streckte ihm die Hände entgegen. »Als erstes meinen Glückwunsch. Von ganzem Herzen. Den Stolz habe ich mit Ihnen empfunden.«

»Und ich danke Ihnen, ebenfalls von ganzem Herzen. Aber woher wissen Sie?«

»Mein Mann kam auf eine Viertelstunde von der Börse herein, um sich umzukleiden. Zum Diner im kaiserlichen Jachtklub. Und da rief er es mir zu.«

»Und Sie freuen sich wirklich darüber? Verstehen Sie denn als Dame, was der Kreuzerneubau für meine Werft bedeutet?«

»Ich verstehe als Frau, was diese neue, große Aufgabe für Sie als Mann bedeutet.«

»Ich glaube fast, Sie bilden eine Ausnahme, Frau Bramberg – –.«

Sie saßen in alten, breiten Biedermeierstühlen, die seltsam von der Eleganz der übrigen Räume abstachen. An den Wänden hingen geschmackvoll eingerahmte Kupferstiche und ein paar kleine Ölbildnisse. Ein Stutzflügel stand in der Ecke.

»Hier ist es nicht so schön wie bei Ihnen. Auch nicht so glänzend, wie in den Zimmern meines Mannes. Dafür aber sind es die Möbel aus meiner Mädchenzeit, und ich kann mich nicht von ihnen trennen, weil sie ja alle meine Mädchenträume kennen.«

»Ich wollte, ich könnte sie zum Reden bringen.«

»Dumme Dinge, wie sie in Mädchenköpfen spuken,« wehrte sie ab. »Von Helden, Rittern und Befreiern. Ich fürchte, ich war sehr romantisch veranlagt. Oder sehr – sehr ungenügsam.«

»Und nun sehen Sie die Dinge nüchterner an? Und genügsamer?« »Nein,« erwiderte sie ruhig. »Nüchterner – o ja. Aber genügsamer – nein. Wie kann man das, wenn man nicht das Beste abtöten will.«

»Darf ich wissen, was für Sie das ›Beste‹ bedeutet, Frau Bramberg?«

»Die Zuversicht auf das Kommende. Auf den großen Ausgleich, den jedes Schicksal einmal im Leben findet.«

»Wie können Sie von Schicksal sprechen! Sie, die schöne, starkgeistige Frau, die Gattin eines der ersten Reeder Hamburgs.«

Sie lehnte sich tief in das Polster zurück, aber ihr Auge begegnete ruhig dem seinen.

»Ich würde mich freuen, wenn Karl Twersten, der geniale Schiffserbauer, der Gatte der schönsten exotischen Frau, die je Hamburgs Boden betrat, nichts von Schicksalen wüßte.«

Es blieb eine Weile still zwischen ihnen. So still, daß man den Atem zu hören glaubte. Dann sagte Twersten, und er mühte sich, seiner Stimme eine ironische Klangfarbe zu geben: »Hat Ihnen das auch Ihre – Ahnung gesagt?«

»Ja. Und wenn Sie mir jetzt zürnen, daß ich nicht lügen kann – ich bin ja auch nicht umsonst zu meinem feinen Verständnis gekommen.«

»Nein, nicht das, Frau Ingeborg, nicht traurig werden. Soll ich Ihnen etwas gestehen? Ich bin zu Ihnen gekommen, um mich bei Ihnen von – schweren Gedanken zu erholen. Um Ihre Nähe wie eine Freude zu empfinden. Wenn Sie nun traurig werden! Liebe Freundin, da ist jemand, dem ein wenig Sonne nottäte. Nein, nein, wir wollen uns nicht belügen.« »Nie,« sagte sie und reichte ihm die Hand hinüber. Und während sie sich tief in das Polster lehnte, und es über ihr Gesicht huschte wie aufsteigende Wärme, sagte sie nur noch ganz leise: »Wie ist das schön!«

Und wieder saßen sie eine Weile, ohne zu sprechen, und die Blicke des einen schweiften still und vertraut über die Züge des anderen.

»Es ist,« begann Twersten, »als ob wir so schon viele, viele Jahre gesessen hätten. Und doch ist es das erste Mal, obwohl wir uns so lange schon kennen und begegnen.«

»Wie oft – wer weiß es – werden wir schon so gesessen und einer auf ein Wort des anderen gewartet haben.«

»Ja, heute weiß ich es. Und oft, in den letzten Wochen, rief ich Sie. Haben Sie es gehört, Frau Ingeborg?«

»Und ich habe Ihnen geantwortet: Komm. Wir wollen nichts mehr von unserer Zeit verlieren. Das hieße einer den anderen bestehlen. Lassen Sie mich teilnehmen an Ihrer Welt, und ich –? Ja, was bringe ich Ihnen –?«

»Mit Ihrer Teilnahme den Segen, der mir fehlt.«

Sie richtete sich auf. »Sie wissen ja gar nicht, wie ausgehungert ich bin. Wie alles in mir nach einer Betätigung drängt und immerfort und immer vergeblich drängt. Theodor Brambergs Frau. Das bin ich. Aber ihn selbst interessiert das Geschäft ja nur, wie andere ein Papier interessiert, von dem man alle halbe Jahre die Coupons abschneidet. Da hört das gemeinsame Sorgen und Wirken von selber auf, und mir bleibt nur das träge Dahinleben der Hamburger Dame aus guter Gesellschaft, die nichts anderes weiß als die soziale Stellung ihres Mannes. Ach – Sie wundern sich, weshalb ich dann Theodor Brambergs Frau wurde. Ich war ein ganz jung Ding, als ich verheiratet wurde. Und in meinen Phantasien glaubte ich, der Erbe einer solchen weltumspannenden Firma müsse ein Mann von gewaltiger Tatkraft sein. Wie Bramberg senior es war. Und der Erbe – war nur ein Erbe. Wie darf eine Frau stärker sein als der Mann!«

»Sie darf auch nicht schwächer sein,« sagte Twersten aus tiefem Nachdenken heraus.

»Nein,« entgegnete sie rasch, »aber die Stärke, die der seinen gleichkommen soll, muß aus der Liebe herauswachsen. Und die Liebe der Frau, die Liebe, wie ich sie meine, muß von geheimer Bewunderung durchtränkt sein und wiederum von der inneren Freude: er ist so groß und stark, weil ich ihn liebe.«

»Sonst aber –?« fragte er langsam.

»Sonst aber steigt man hinab in die Niederungen und hat eines Tages keine Berechtigung mehr, sich zu beklagen.«

»So weit,« sagte Twersten und atmete tief, »so weit sind wir noch nicht.«

Und sie sprach es ihm nach: »Nein, so weit sind wir noch nicht.«

»Was Sie von der Frau sagen, gilt auch vom Mann. Und wenn der Mann sich in die Niederung ziehen läßt, so gibt er nicht nur sich selbst preis, sondern auch sein Lebenswerk. Er stirbt zweimal. Einmal sich selbst, einmal der Allgemeinheit.«

Er brütete vor sich hin.

»Heute schrieb mir meine Frau,« begann er von neuem. »Es geht ihr gut, und sie hat sich eine wundervolle Toilette gekauft. Das ist nicht einfach, und es gehört ein großer Aufwand geistiger Kräfte dazu. Und heute morgen, ja, da hatte ich eine Unterredung mit meinem Sohn, den ich sehr lieb habe, und ich konstatierte eine etwas zu starke Blutsähnlichkeit mit der Mutter, eine Ähnlichkeit, die ich nach der Hamburger Seite hin korrigieren möchte – wenn ich es kann.«

»Und was konstatierten Sie an sich selbst?«

»Daß die Einsamkeit vor der Zeit alt machen kann.«

»Kann! Kann! Kann!« rief sie und ging durch das Zimmer. »Sehen Sie her. Das ist eine Rose, wie Sie sie mir schenkten. Damals, an dem unvergeßlichen Tage, als ich auf Ihrer Werft tausend fortreißende, fortzeugende Stimmen um mich her vernahm. Eine volle, purpurne Herbstrose. Und wissen Sie, was Sie damals von ihr sagten? Sie sammelt all ihre Kräfte und gibt die tiefste Farbe, den vollsten Duft her. Frühling und Sommer scheint sie noch einmal in sich zusammenzufassen! Und Sie, der Sie dies Symbol des vollerblühten Lebens sich schufen, Sie wollen von altern sprechen? Damals halfen Sie mir, ohne es zu wissen. Muß ich jetzt Ihnen helfen?«

Karl Twersten erhob sich. Und sie stand und sah ihm entgegen.

»Was ist das für ein herrlicher Abend,« sagte er. »Und was das schönste an ihm ist – er wird nicht mehr zu Ende gehen.«

Er trat an den Tisch und nahm die Blume aus ihren Händen.

»Sie heißt Herbstrose und duftet wie Frühlingsrosen. Nein, der Name besagt nichts.« Und Auge in Auge mit ihr: »Herrgott, wie jung wir sind! Und ich dachte bis heute, ich wäre fünfzig Jahre.«

Sie sah ihn an und schüttelte nur den Kopf.

Da zog er ihre Hände an seine Lippen. »Du – Liebe!«

Und es kam ein Friede über sie, der voll war von Erfüllungen.

Sie saßen beieinander, wie sie vordem gesessen hatten. Aber ihre Augen hatten einen tieferen Glanz und ihre Stimmen einen volleren Klang. Und sie fühlten nicht, daß die Stunden verrannen und sie ließen die Werft vor sich auferstehen und die Zahl der Hellinge wachsen und Kiel sich an Kiel reihen. Ein Geschwader deutscher Schiffe. Von deutschen Gedanken getragen. Zum Schutz – und zum Trutz!

Eine Uhr schlug. Die Lichter auf der Alsterfläche waren längst erloschen. Nun, als sie es gewahrten, sahen sie sich mit Erstaunen an.

»Wir haben die Abendmahlzeit versäumt,« klagte sie sich an und sah erschrocken zu ihm auf. »Ich glaube wahrhaftig, du hast den ganzen Tag –«

»Und es war doch wie ein Abendmahl. Als ob wir vor unseres Gottes, der in uns ist, Tisch getreten wären.«

Er bot ihr die Hand.

»Hab' Dank und gute Nacht! Keinen Wagen, bitte. Ich muß zu Fuß gehen. Ich bin ja nicht mehr allein. Gute Nacht.«

»Gute Nacht,« sagte sie froh und fest.

Er stand und sah auf ihre Lippen, bis ihre Lippen ganz leise zitterten.

»So tue es doch, wenn es dir wohl tut!«

»Und dir, Ingeborg –?« »Meinst du, ich würde das sagen, wenn ich mich nicht darauf gefreut hätte?«

Da legte er seinen Mund fest auf den ihren.– –

Dann stand sie am Fenster und horchte auf seinen Schritt, bis der letzte Hall sich in der Ferne verloren hatte.

Und die Herbstluft war ihr wie stille Frühlingsluft. –


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