Rudolf Herzog
Hanseaten
Rudolf Herzog

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III

In der Nähe des Millerntores lag das kleine Haus, das Martin Vanheil zugehörte. Das Erdgeschoß barg die beiden Kontorräume, das erste Stockwerk ein altmodisches Empfangszimmer, ein geräumiges Wohnzimmer und ein Eßzimmer, das durch einen schmalen Gang mit der Küche verbunden war, während das zweite Stockwerk ein größeres und eine Anzahl kleinerer Schlafgemächer enthielt. Es war ein altes, unmodernes Haus, das der Vater des jetzigen Besitzers einst billig erstanden haben mochte. Wer aber ins erste Stockwerk hinaufgestiegen war, empfand nicht mehr die Mängel des Alters, er empfand nur noch den Reiz einer Häuslichkeit, die aus langen Jahren zu erzählen wußte von der liebenden Sorgfalt um jedes Stück, das der Schönheitssinn der Bewohner erworben oder in seinem Werte erhalten hatte. Dort stand auf einer tiefgebräunten Danziger Kredenz das Silber des Brautschatzes und die Patenbecher von den Tauffestlichkeiten. Dort eine nordische Truhe, die ein dankbarer Schiffskapitän aus einem Bauernhause Norwegens herbeigeschafft hatte. Wunderlich steife Stühle mit buntem schwedischen Strohgeflecht. Tische mit eingekerbten Ornamenten und bedeckt mit Handstickereien, die so viel Geduld wie Liebe erfordert hatten. Klöppelspitzen an den Gardinen, und an den Wänden die nachgedunkelten Ölbilder der Großeltern, die Photographien der Familienmitglieder, gerahmte Ansichten von Fjordlandschaften und seinen Städten, und ein Kranz von genrehaften Silhouetten, meisterlich mit der Schere aus Schwarzpapier geschnitten, Jagd- und Soldatenszenen, Bilder aus dem Matrosenleben und humoristische Familienbilder, alle von der Hand des Vaters der Hausfrau, der an seinem Lebensabend ein stiller Künstler und Liebling der staunenden Enkel gewesen war. Im Wohnzimmer stand das Klavier, fast immer aufgeschlagen, Liederhefte auf dem Notenhalter.

Wer durch die Zimmer ging, spürte ein warmes, bezwingendes Heimatsgefühl und besann sich auf ferne Kindheitsbilder, auf das längst verlassene Vaterhaus, auf Stunden, die er vergessen hatte, und die ihm plötzlich wieder und unerreicht schön erschienen. Das tat die Luft in Martin Vanheils Haus, die voll von alter, treuer Liebe und Menschenfröhlichkeit war.

Unten im Kontor, in dem der Prokurist, Herr Rochus, mit dem Buchhalter und zwei Lehrlingen saß, waren die Wände bedeckt mit Landkarten und Schiffstabellen, und im Privatkontor Martin Vanheils hingen die Börsenzettel und die Zeitungen über Handel und Schiffahrt. Hier hing auch, mitten unter den Bündeln kaufmännischer Papiere, das Porträt der Hausfrau, Henriette Vanheil.

Es war ein Herbstabend. Im Privatkontor brannte die Lampe. Am Arbeitstisch saßen sich Vanheil und Kapitän Jessen vom »Valdemar Atterdag« gegenüber, sahen Konossemente durch und lehnten sich endlich zurück.

»Eine frische Zigarre, Kap'tän?«

»Soll mir angenehm sein, Herr Vanheil.«

»Tja. Die Geschäfte könnten besser sein.«

»Tja, das könnten sie wohl. Ohne falsche Bescheidenheit.«

»Seitdem Bramberg und Co. nun auch noch eine nordische Linie eingelegt haben ... Schiffe mit solchen Laderäumen ... Und Maschinen, die von der Luft und der Liebe zu leben scheinen ... Ungeheure Kostenersparnis. Wie sich das auf die Güter kalkuliert! Da läßt sich billig verfrachten, Kap'tän Jessen, und wir wischen uns den Mund. Daß doch diese Leute nie genug kriegen können. Immer anderen den ehrlichen Verdienst nehmen. Mir fiel doch so was im Traum nicht ein.«

»Wir wollen uns nicht ärgern, Herr Vanheil. Wir sind noch nicht gestorben.«

»Gewiß und wahrhaftig nicht, Kap'tän Jessen. Und Ihr Schiff, der ›Valdemar Atterdag‹, sollte uns das übrige lehren. Sie wissen ja, Atterdag, das heißt: Morgen auch noch ein Tag.«

»Sie waren mal so freundlich, mir das zu erklären, Herr Vanheil, und es hat mich immer bannig gefreut.«

»Na also. Das nächste Mal wird's wieder besser. Ich werd' mich bei der Kundschaft gehörig in die Riemen legen.«

»Ihre Courage, Herr Vanheil, die hält einen ordentlich jung. Nee, nee, unsere Rippen und Planken, die kommen noch lange nicht auf Auktion.«

»Was meinen Sie von einem Buddel Rotspon, Kap'tän Jessen? So als Überleitung vom Geschäftlichen zum Familienleben, meine ich.«

»Das ist eine sehr angenehme Meinung, Herr Vanheil.«

Martin Vanheil hatte sein frohes Lächeln schon wieder gefunden. Er legte die Konossemente zusammen, schloß sie in den Stahlschrank und holte aus einem Eckschränkchen eine Flasche und zwei Gläser. »Ich bin kein Trinker,« sagte er, »aber der Wein schmeckt mir.«

»Tja, das ist auch ganz so meine Beschaffenheit. Ich trinke nicht oder nie, aber es schmeckt mir immer.«

»Es ist nur gut, Kap'tän, daß wir alle beide wahrheitsliebende Männer sind.«

»Das ist aber gewiß gut. Schon allein wegen der Bekömmlichkeit. Prost Herr Vanheil!«

»Sie sind doch heute abend mein Gast? Oder haben Sie schon eine andere Absprache?«

»N– –nein. Die Anna in der Westminstertaverne, die zählt wohl nicht, Herr Vanheil.«

»Nein, die zählt nicht. Oller Seeräuber!«

»Das sagen Sie so. Aber wenn der Mensch tagelang Wasser in der Nase und den Wind in den Ohren gehabt hat, so möcht' er doch auch mal eine kleine herzliche Ansprache haben.«

»Wenn Sie vor dreißig Jahren geheiratet hätten, wie ich Ihnen das damals schon gesagt habe, so hätten Sie nun schon seit dreißig Jahren die herzliche Ansprache zu Haus.«

»Zu Haus! Ich bin aber man immer unterwegs, Herr Vanheil, und da kann mich das wenig helfen, wenn ich in Hamburg oder in Bergen oder sonstwo das Frieren kriege. Und alle heiraten, das wäre doch unmoralisch.«

»Schämen Sie sich, Sie Weißbart!«

»Wenn mich die lütten Deerns gar nicht mehr leiden mögen, will ich das gewißlich gerne tun.« Und der alte Kapitän schmunzelte über das ganze Gesicht, weil er diesen Zeitpunkt noch in grauer Ferne wähnte.

Sie hatten die Flasche geleert und schickten sich an, das Privatkontor zu verlassen. An der Tür hielt Vanheil den Gastfreund beim Rockknopf. »Und was die Geschäfte betrifft, ich meine die schlechter gehenden – da oben: Mund halten! Frauensleute sind schreckhafter Natur. Deshalb muß man nur immer Fröhliches die Treppe hinauftragen.«

»Verdammi,« sagte der Kapitän bewundernd und hieb dem Hausherrn kräftig auf die Schulter, »Sie sind doch eine ausnahmsweis-vornehme Natur.«

Dann wünschten sie im vorderen Kontor dem Prokuristen und dem Personal einen guten Abend und stiegen munter plaudernd ins erste Stockwerk hinauf.

»Hallo!« rief Martin Vanheil. »Ist der Tisch gedeckt? Ich bringe einen Gast.«

»Und wir haben bereits einen,« lachte eine Frauenstimme zurück. »Du hast nicht allein Glück.«

»Kucken Sie sich mal erst die Ladung, die Ihr lieber Mann heimbringt, daraufhin an, Frau Vanheil,« rief der Kapitän, »ob Sie sich gerade dazu beglückwünschen können.«

»Hei, Kinder, Kapitän Jessen ist da!« Und die Hausfrau kam auf den Korridor gelaufen und schüttelte dem alten Geschäftsfreund erfreut die Hand. Doch sofort wurde sie beiseite geschoben und mußte den Nachstürmenden Platz machen. Erika und Marga hatten seine Hände erfaßt, Fritz, der Student in Ferien, versetzte dem gewaltig sich Sträubenden einen knallenden Kuß, und Martin Vanheil, auf jedem Arm einen Enkel, hing ihm die beiden Kinder an den Hals. So hielten sie Einzug ins Wohnzimmer, unter einem fröhlichen Lärm, und Robert Twersten erhob sich verwundert aus dem Sessel, in den man ihn vor einer Viertelstunde niedergedrückt hatte, da er das Abendbrot teilen müsse.

»Dieses hier,« rief der Student vorstellend, »ist der verwegenste Seefahrer aller Zeiten und aller Meere. Jan Jens Jessen! Hipp, hipp, hurra! Und dieses hier der Sohn des Mannes, der auf der berühmten Insel Steinwärder noch berühmtere Schiffe baut, Herr Twersten. Ebenfalls: Hipp, hipp, hurra! Musik – Tusch!«

Er schwang sich auf den Klavierbock und bearbeitete die Tasten. Und Kapitän Jessen, der sich von seiner Belastung freigemacht hatte, schüttelte dem jungen Twersten die Hand. »Alle Achtung, Herr Twersten, Ihr Herr Vater! Ich habe schon verschiedentliche Male ein Schiff bei ihm gedockt und habe die Ehre, ihn zu kennen.«

»Sehr erfreut, Herr Kapitän.«

»Zu Tisch, zu Tisch!«

»Raus mit dem kleinen Gewürm!«

»Haben die Jungs auch was im Magen?«

»Zwei Teller Reisbrei mit Zucker und Zimt.«

»Kuß! – Ab nach Kassel!«

Und während die strampelnden Kerlchen aus einem Arm in den anderen gehoben wurden, stand das Kindermädchen im hellen Kleid und weißen Häubchen lachend in der Tür und streckte die Arme nach ihren Schutzbefohlenen aus. Dann trat für einen Augenblick Ruhe ein. Frau Henriette nahm den Arm des Kapitäns, Robert Twersten bot den seinen Marga, und der Hausherr führte seine Tochter Erika, die ihren Bruder Fritz um die Taille nahm. Und sie behielten die Reihenfolge bei Tisch bei.

Es gab Tee und kalten Aufschnitt, marinierte Fische, Käse und Früchte. Nicht einen Augenblick wäre den Vanheils der Gedanke gekommen, den Gästen, die ihnen der Abend beschert hatte, ein besonderes Mahl zu richten. Und den Gästen war es, als säßen sie in diesem Familienkreise Tag für Tag, und irgend ein Band der Verwandtschaft gäbe ihnen die Berechtigung, sich zu gebärden, zu lachen und zu plaudern wie die Vanheils. Die Herren nahmen Rum zum Tee, die Damen Rotwein. Man bat sich gegenseitig um die Schüsseln und um das Brot. Von Zeit zu Zeit hob Frau Henriette ihren weißen Scheitel und versuchte, von oben herab in die Teetassen zu blicken. Die geleerten wanderten durch eine Kette von Händen zur Hausfrau, wurden gefüllt und wanderten auf demselben Wege zurück.

Kein Wort fiel von kaufmännischen Dingen. Aber von der Welt wurde gesprochen, und sie war Gottes weite Wunderwelt, so viel und so stark wurde ihre Schönheit gerühmt. Und wenn Martin Vanheil anhob: »Wißt ihr, als ich damals in Trondjem war« ... oder »in Edinburg« ... so leuchteten seine Augen vor Glück, daß er diese Erinnerungen besaß und sie den Seinen wie Schätze überliefern konnte. Und immer war die Stadt, die er gerade nannte, die schönste von allen, weil durch die Erzählung die Erinnerungen an sie am lebendigsten wurden. Dann pflegte Kapitän Jessen voller Verwunderung den großen, verwitterten Kopf zu schütteln.

»Ich war doch auch mehr als ein dutzendmal in Trondjem, aber ich hab' all das gar nicht bemerkt.«

»Liebe macht blind, Kapitän Jessen,« beruhigte ihn Fritz.

»Was ist das für ein Snack –?«

»Nun, wenn man in Trondjem gerade eine Braut hat –«

»So, meinethalben. Also dann soll das so gewesen sein. Aber Edinburg, das kenne ich wohl nicht, wie? Und ich habe doch auch meine Augen, wie Herr Vanheil sie hat. Aber auch dort –«

»– wohnte unserm Kapitän eine liebende Braut,« schloß ernst der Student.

Kapitän Jessen stutzte. Dann verzog er, in sich hineinlachend, den breiten Mund, und hinter der vorgehaltenen Hand flüsterte er Vater Vanheil zu: »Hat der Jung nun gelauscht, oder ist das natürliche Veranlagung?«

Vater Vanheil schwärmte gerade von Stockholm.

»Nein, wißt ihr, in Paris war ich noch nicht, aber das weiß ich bestimmt, schöner als in Stockholm kann es dort gar nicht sein. Überhaupt, Stockholm. Da hängt's an der Wand. Neben der Ansicht von Christiania. Na, wenn ich erst von Christiania erzählen wollte! Wenn man oben auf Voksenkollen steht, das Meer wie hundert träumende Binnenseen unter sich – nein, das ist gar nicht zum Ausdenken.«

Und Erika zeigte ein Schmuckstück aus Telemarken vor, das sie am Halse trug, und nun sprachen sie alle über Goldschmiedekunst, während das klingende Gehänge von Hand zu Hand ging und helle Bewunderung erregte, obschon es seit Jahren in diesem Kreise von Hand zu Hand gegangen und bewundert worden war. Marga aber trug über dem glatten Hauskleid eine Festtagsschürze aus Dalekarlien, in wundervollen Farben gestickt, und sie mußte sie losbinden, und jeder prüfte die Harmonien der kühnen Farbenstellungen, und zuletzt behielt Robert Twersten sie in der Hand und breitete sie über seine Knie. Dann erzählte Fritz Vanheil von dem lustigen Studentenleben an der Technischen Hochschule zu Hannover, und die Schlägernarben auf seiner Backe schienen sich ihres Daseins mehr als je zu freuen, so leuchteten sie auf in dem jugendfrischen Gesicht.

»Kinder, Kinder, und da soll einer ins Examen steigen. Ja, wenn man die Schiffe auf der Hochschule bauen könnt' statt auf der Werft! Aber ich hab's ja immer gesagt: ich werd' zu früh fertig, ich werd' zu früh fertig.«

»Zehn Semester hat er erst, der arme Schelm,« flocht Martin Vanheil kopfschüttelnd ein.

»Vater, du spottest mit meinen heiligsten Gütern.«

»Nee, Jung, du aber mit meinen.«

Und dann lachten Vater und Sohn miteinander und freuten sich, daß sie sich verstanden hatten. Nur Robert Twersten saß stumm und ein wenig verdutzt auf seinem Platze. Er kannte diesen Ton unschuldiger Familienfreude nicht, und er wußte nicht, wie er sich daran beteiligen sollte. Nie hatte er in seinem väterlichen Hause solch eine Tischgesellschaft erlebt, und hier schien diese Stimmung die alltägliche zu sein. Ein bitteres Gefühl wollte in ihm aufwallen. Ein Gefühl des Verlassenseins, der Benachteiligung, trotz der größeren Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war. Weshalb verstand ihn sein Vater nicht wie dieser Vater seinen Sohn? War er soviel kleiner als Fritz Vanheil, oder war sein Vater so viel größer als alle diese heiteren Leute? Und wenn! Muß denn die Größe die Heiterkeit ausschließen? Ah, dann lieber Vanheil heißen als Twersten.

Marga Vanheil legte ihre Hand auf die seine. Sie hatte ihn beobachtet.

»Bob,« sagte sie nur.

Aber sie legte einen so lieben Klang in das Wort, daß er aus seiner Steifheit aufschreckte und plötzlich mit ihr zu plaudern begann, als hätte er keinen Augenblick geschwiegen. Von der großen Opernpremiere, die das Stadttheater gleich zu Beginn der Saison herausgebracht hatte, von den Bühnenlieblingen der Hamburger im Thaliatheater, von einem Essen des regierenden Bürgermeisters –

»Das muß schön gewesen sein,« meinte sie. »Diese Prachtentfaltung.«

»Langweilig war's. Bei euch ist es schön.«

»Wirklich, Bob? Gefällt es dir ein wenig?«

»Ein wenig? Gar nicht wieder fort möchte ich von hier.«

»Ja, wenn du kleiner wärst und nicht schon einen Schnurrbart hättest, könnte ich dich wohl ins Kinderbettchen legen.«

»Es kann dir noch mal sehr schlecht gehen, Marga.«

»Möcht'st mich wohl durchprügeln, Bob?«

»Was ich möchte, das laß nur meine Sache sein. Wirst es noch früh genug an dir erfahren.«

»Tut's arg weh?« flüsterte sie mit unterdrücktem Lachen.

»Noch ein Wort, und– –«

»O Robert, denk an deine gute Hamburger Erziehung. Das schickt sich nicht.«

Er konnte nichts mehr entgegnen. Frau Henriette wünschte gesegnete Mahlzeit, und man reichte sich im Kranz die Hände. Aber die Hand seiner Nachbarin preßte er, daß des Mädchens Gesicht dunkelrot wurde.

»Nun wollen wir musizieren und den Abendtanz halten,« sagte Martin Vanheil und rieb sich die Hände. »Wer Wein wünscht: dort auf dem Büfett stehen Karaffe und Gläser. ›Menuett, Galopp und Walzer, wer weiß, wie das geschah?‹ Macht vorwärts, Kinder, ich übernehme die Hauskapelle.«

»Musiziert ihr jeden Abend?« fragte Robert Twersten, als sie in das geräumige Wohnzimmer hinübergegangen waren und er flink Marga half, den Mitteltisch an die Wand zu schieben.

»Wenn wir gesund sind, jeden Abend. Vater möchte uns eine Freude machen, aber er freut sich selbst am meisten.«

»Daß so etwas in Hamburg möglich ist,« meinte er.

Martin Vanheil ließ die Hände über die Tasten gleiten. Sein grauer Kopf lag weit zurück, seine Augen schienen aus den Tapetenmustern wonnige Bilder herauszulesen. Still saßen sie alle an den Wänden, während er spielte. Es war keine große Kunst, die er bot. Volkslieder, alte Großvaterweisen. Aber sie gehörten zu diesem Raum und diesen Menschen. Und der Alte am Klavier wußte den Tönen eine eigene Seele zu geben, die die Kraft hatte, andere Seelen zum Sprechen zu bewegen.

Jetzt ging er in eine alte Tanzweise über, wandte den Kopf und winkte den Seinen zu.

Marga blickte zu Robert hin. »Laß mich zusehen,« bat er. Da umfaßte sie ihre Schwester Erika und trat ihrem Bruder gegenüber, der Frau Henriette die Hand gereicht hatte.

Tief gingen die Verbeugungen zur Erde. Daß sich die Kleiderröcke wie luftige Krinolinen bauschten. Daß sich die Frauennacken zu schlanken Linien bogen. Und die Paare tauchten wieder empor, faßten sich bei den Fingerspitzen und wandelten graziös umeinander herum, flohen sich, suchten sich und warben, in feinen reizenden Bewegungen, in Figuren von köstlicher Anmut. Unter dem weißen Scheitel lachte das rosige Mädchengesicht Frau Henriettes wie ein Schwesterantlitz zu ihren Töchtern hinüber, der zierlichen brünetten Erika, die den jungen Mutterstolz auf den Zügen trug, der großen blonden Marga mit dem klaren Mädchenblick, in dem eine ungewisse Sehnsucht aufsprang, und zu ihrem Sohne, dem sie so gut sein mußte, weil sie in seiner Leichtlebigkeit doch immer wieder ihren kleinen Knaben von ehedem fand.

Selig flossen die Töne des Klaviers durch den Raum und flossen in die Bewegungen der Paare wie in einen einzigen schmiegsamen Zusammenklang.

Martin Vanheil spielte einen verschollenen Tanzreigen, wie ihn noch in weitabgelegenen Dörfern die Spielleute auf den Wiesen spielen. Und während die Tanzenden die Figuren des Reigens schlangen, hob der Student seine Stimme, und die silbernen Stimmen der Schwestern fielen ein und die zarte, gedeckte der Matrone.

Unter der Linden,
An der Heide,
Wo ich mit meinem Trauten saß,
Da mögt ihr finden,
Wie wir beide
Die Blumen brachen und das Gras.
Vor dem Wald mit süßem Schall
Tandaradei!
Sang im Tal die Nachtigall.

Dem alten Kapitän liefen die dicken Tränen aus den Augen. Er schneuzte sich gewaltig in das Lied hinein und konnte kaum den Schluß abwarten, um seine Rührung in einem dröhnenden Applaus loszuwerden.

»Ich sag man bloß das eine – Dunnerlüchtig! Und so was gibt's man bloß bei Vanheils auf der Welt.«

Robert Twersten ging nur immer von einem zum anderen und schüttelte ihnen die Hände. Ihm war so frei und vergnügt zumute, daß er sich am liebsten beteiligt hätte. Aber bevor es weiter ging, erschien das Kindermädchen in der Türe, strahlend wie seine Herrschaft.

»Die Jungens wollen nicht mehr im Bett bleiben,« berichtete es, als ob es eine Freudenbotschaft zu berichten gälte.

»Nicht im Bett bleiben?« rief der alte Vanheil mit Großvaterstolz.

»Sie wollen auch tanzen,« lachte das Mädchen. »Sie können sie quieksen hören.«

»Wahrhaftig. Und sie haben die richtige Melodie. Herunter mit den Trabanten!«

Und als hätte jeder nur auf das Signal gewartet, stürmte die ganze Familie zur Tür und die Treppe hinauf und wieder die Treppe hinab, die kleinen drallen Jungens in Nachthöschen auf den Armen. Und der Kapitän hob sie hoch auf seine Schultern und tanzte auf dem Fleck eine Seemannspolka.

»Singen! Singen!« jubilierten die kleinen Kerle und klatschten befehlshaberisch in die Hände.

»Woll'n mal sehen, was noch übrig geblieben ist, Kinnings,« sagte der Kapitän, setzte sie nieder und bildete mit ihnen einen Kreis. Und dann begann er mit rauher Stimme und stapfte mit den Hosenmätzen im Kreise, während Martin Vanheil am Klavier die Melodie aufgriff:

»Hans Michel der wohnet auf der Lämmer-Lämmerstraß,
auf der Lammer-Lämmerstraß,
Kann machen was er will,
kann machen was er will.
Er machte sich 'ne Geige,
Violine, Violine, macht die Geige,
Viovioline, Viovioline, La la la la la la la.«

Und nun reckte und streckte er die Arme, als ob er die Geige spiele, und die Kinder ahmten seine Bewegungen nach und quietschten die Töne hervor. »Viovioline ...«

»Er machte sich 'ne Schelle,«

sang der Kapitän.

»Kling, kling, kling, macht die Schelle.«

Und er spielte in der Luft die Triangel, und die Kinder ihm nach, und er sang und spielte weiter und weiter:

»Er machte sich 'ne Trommel,«
»Tromm, tromm, tromm, macht die Trommel.« –
»Er machte sich 'ne Pfeife.«
»Zimberlin, Zimberlin, macht die Pfeife.«

Und nun setzte er sich an die Spitze und marschierte voraus, rund durch das Zimmer, und geigte und klingelte, trommelte und pfiff, und die Kinder wie er, und die Erwachsenen hinterdrein:

»Viovioline, – Kling, kling, kling, –
Tromm, tromm, tromm, –
Zimberlin, Zimberlin!«

»Jetzt geht's ins Bett zurück,« rief die junge Mutter, »vorwärts marsch!«

Und der Kapitän faßte das eine der beiden Kerlchen beim Kragen und schwang es auf die Schulter, und der Onkel Fritz das andere, und sie nahmen die junge Mutter in die Mitte, und die Großeltern drängten nach, und so marschierten sie die Treppe hinauf, um oben zwischen den Kinderbetten dasselbe Spiel noch einmal zu spielen.

Robert Twersten war zurückgeblieben. In einen Stuhl gestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, genoß er die Nachwirkung dieser herzhaften Familienheiterkeit. Als Marga den jungen Freund allein sah, kehrte sie in der Tür um, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber.

»Hast du Kopfschmerzen von dem Lärm bekommen, armer Bob?«

»Ach nein, was denkst du? Mir ist furchtbar wohl.«

»Man muß es gewohnt sein. Bei euch und in euren Kreisen wird es etwas gesitteter zugehen.«

»Gesitteter? Ja, wenn du die stumpfe Langeweile so nennst, oder das fadenscheinige Courmachen, oder – überhaupt – dies gräßliche Gezwungene – Herzenskühle – Steifaufrechte – daß nur keine Perle aus der Krone fällt! Ach du, heute war mir so, als hätte ich überhaupt kein richtiges Elternhaus.«

»Versündige dich nicht, Bob.«

»Versündigen? Ich mich? Sie versündigen sich an mir! Ja und jawohl, an mir. Hab' ich je mit meinen Eltern einen solchen Abend verlebt wie heute mit euch? Nie! – Na ja– –«

»Siehst du, da sagst du selbst na ja.«

»Wieso? Ich darf doch wohl noch ›na ja‹ sagen? Oder findest du etwas darin?«

Sie legte ihre Hände im Schoß zusammen und blickte nachdenkend auf den Fußboden. Und sie hob den Kopf nicht, während sie sprach. Ganz ruhig, ganz bewußt, und jeden Versuch des Widersprechens dadurch ausschaltend.

»Ja, ich finde etwas darin. Und du hast ganz recht damit. Das hier sind Vergnügungen kleiner Leute, klein im Verhältnis zu euch Großkaufleuten und Werftbesitzern. Wir haben tagsüber keine Großtaten zu verrichten, die wie stolze Siege oder furchtbare Niederlagen des Abends noch in uns nachzittern und unsere Gedanken selbst bei der Nacht auf die Geschehnisse des nächsten Tages vorbereiten. Wir wissen ganz genau, was uns der nächste Tag bringt. Aufträge wie der vorherige, nicht viele mehr, vielleicht ein paar weniger, und immer in derselben Formalität. Man kann es bald übersehen und dankt Gott, wenn man festhalten kann, was man hat. Geschäftliche Illusionen gibt es nicht. Da haben wir Zeit, die Lebensillusionen zu pflegen, um zu wissen, daß wir trotzdem leben und in unserem Rahmen glücklich sind. Trotzdem! Denn wir müßten keine Hamburger sein, nicht im Getriebe des Hafens leben und die Schiffe kommen und gehen, gehen und kommen sehen, wenn wir nicht im Innersten empfänden, was eigentlich das Leben ist und was es von uns will. Das Leben weiter bringen, das will das Leben von uns, wenn es sich uns ganz offenbaren soll, Bob. Und dann – frag deinen Vater, Bob – dann hat es noch tiefere und heißere Freuden für uns, als Reigen tanzen.«

»Du bist undankbar, Marga.«

»Nein, ich bin meinem Vater über alles dankbar. Er tut von seinem Standpunkte aus ja so unendlich viel für uns. Er macht uns alle fröhlich, sobald er zu uns tritt. Aber weil er seine Lebensauffassung, die nur die seine ist, ganz und gar erfüllt, deshalb darfst du ihn noch lange nicht als unverrückbares Muster nehmen. Du nicht! Robert Twersten nicht! Für Leute, denen gezeigt werden muß, wie man ganz glückselig auch im Winkel lebt, ist mein Vater der richtige Mann und ein glänzendes Beispiel. Für Leute, die mit ihrem Namen und ihrer Stellung große Pflichten übernommen, zu verteidigen oder zu erfüllen haben, gibt es nur ein Vorbild: deinen Vater.«

»Ich spreche nicht von mangelnder Größe, ich spreche von mangelnder Wärme.«

»Vielleicht vermißt auch er sie und sucht sie selber,« sagte sie, und der sinnende Zug kehrte zurück.

»Er hat doch Mama? Kannst du dir eine schönere und temperamentvollere Frau vorstellen, als Mama?«

»Nein, das kann ich nicht. Ich möchte sie wohl bei ihm auf der Werft sehen.«

»Auf der Werft?« Robert Twersten lachte aus Herzensgrund. »Mama? Nein, Marga, die hat mehr zu tun.«

»Was denn alles?«

»Nun, was unsere Damen zu tun haben. Verzeihe, daß ich unsere sage, es gibt selbstverständlich auch andere. Also morgens Besorgungen, nachmittags Besuche, abends Theater, Konzerte, Kunstvorträge, dazu Gesellschaften in und außer dem Hause. Tatsächlich, der Tag ist zu kurz für sie. Und nun ist sie schon vier Monate auf Kuba, in ihrer Heimat. Denn Papa reist ja doch höchstens ein paar Wochen mit ins Bad. Da ist nichts zu wollen.«

»Und dann ist dein Vater ganz allein – –«

»Ach, er ist ja auch im Winter allein. Er macht nur mit, wenn er unbedingt muß. Die Werft geht ihm über das Haus.«

»Du, Bob,« begann sie, als ob sie anderes dächte und das Thema wechseln möchte, »das sind jetzt vierzehn Tage, daß ich bei euch war. Der Tag ist mir unvergeßlich. Die ›Ingeborg‹ ging von Stapel, und – und – hast du Frau Bramberg schon wiedergesehen?«

»Nein, aber ich denke mir, es wird bei Brambergs nicht viel amüsanter sein als bei uns.«

»Komischer Gedanke.«

»Gar nicht komisch. Sie ist ehrgeizig, und er macht sich den Teufel aus dem Geschäft und ist überall dort, wo was los ist und die Sache mit einem Diner endet. Alt wird er dabei auf keinen Fall. Aber für seine Person hat er recht.«

»Du bist doch noch sehr jung, Bob,« sagte sie und streifte ihn mit einem ins Leere gleitenden Blick.

»Herrgott nochmal, ich will auch meinen Willen haben!«

»Recht so, lauf dir die Hörner ab, Ziegenböckchen.«

»Auch ohne deine Einwilligung, Jungfer Gouvernante. Gnade Gott dem Mann, der dich kriegt!«

»Wenn ich mich jetzt rächen wollte, würde ich dich nehmen.«

Er war ganz blaß vor Zorn, als er aufsprang. Über den Korridor keuchte der Kapitän, und die Vanheils folgten ihm lachend.

»Fixe Kerlchen – fixe Kerlchen! Nicht der steifste Nordnordwest hat meiner Takelage so zugesetzt.«

»Ich möchte mich jetzt verabschieden, Frau Vanheil,« sagte hastig Robert Twersten. »Es war so schön bei Ihnen, daß –«

»Daß wir Sie oft wiederzusehen hoffen. Nicht wahr? Ja, und wenn Sie wirklich gehen müssen –«

»Nehmen Sie mich ins Schlepptau, Herr Twersten,« rief Kapitän Jessen und begann sich zu verabschieden. »Es ist nun auch die allerhöchste Zeit für mich, daß ich an Bord komme.«

»Das muß ich sehen,« erklärte Fritz Vanheil und ergriff seinen Hut, »das muß ich unbedingt sehen, wie Sie an Bord kommen!«

»Ich wollt',« knurrte der Kapitän, zwinkerte ihm zu und puffte ihn in die Seite, »ich wollt', Sie wären mein Schiffsjung, dann haut' ich dir die Jacke voll.«

»Ich werde lieber einen ungemischten Grog mit Ihnen trinken, Herr Kapitän, das ist wohltuender und wärmt genau so.«

Und sie zogen Arm in Arm von dannen.

Robert Twersten folgte ihnen. Geflissentlich hatte er Marga Vanheil beim Abschiednehmen übersehen. Sie lächelte. Und als er aus dem Korridor ins schwach erleuchtete Treppenhaus trat, fuhr sie ihm übers Haar und warf es durcheinander.

»Nicht so wild, Bob!«

Das verdarb ihm den letzten Rest des Familienabends, und er pflichtete auf der Straße sofort seinen Weggenossen bei, die bereits beschlossen hatten, in einem vernünftigen Lokal noch ein vernünftiges Glas zu trinken. So begaben sie sich auf kürzestem Weg zum Hafen, bogen in die Vorsetzen ein, durchquerten das raucherfüllte Schenkzimmer der Westminster-Taverne und öffneten mit Geräusch die Tür zur Hinterstube, dem Kapitänzimmer.

»Schiff ahoi!« meldete Kapitän Jessen mit Stentorstimme.

»Ahoi! Kapitän Jessen!« Das kam von der amerikanischen Bar, die die Längswand ausfüllte, und pflanzte sich im Zimmer fort.

Kapitän Jessen grüßte mit der Hand nach links und rechts und nahm sofort Kurs geradeaus. »Erst die verehrten Damens, wie sich das gehört.« Er streckte seine breite Tatzenhand über die mit Flaschen gefüllte Tonbank und hatte ein weißes Kinn darin. »Süh mal süh. Wie geiht di dat, Anna?«

»Alleweil fidel, weil der Herr Kapitän wieder da sind.«

»Das freut mich aber bannig. Un glatt wie en kalifornischen Pfirsich is se geblieben. Na, mien Deern, dann gib mich mal was Trinkbares zu dem Pfirsich.«

»Portwein, Herr Kapitän?«

»Wenn das heute dein Portweintag ist, ich hab nix dagegen.«

In der Ecke neben ihnen saßen zwei Schiffer in erregter Unterhaltung.

»Nich dat Sßwarte unnerm Nagel sien se wert, die Froonslüd. Eben eers büst du rut ut em Hawen, un du heß dien Brut to Hus noch so good verstaut, ick segg di, sie bedreugt di noch am selwen Obend. Hol der Düwel se alltosamen!«

»Ick weet dat. Ick weur verheirot.«

»Un heß ehr tom Düwel gejagt?«

»Ick hevv ehr verkoopt. Tehndusend Mark un de Scheidung. Futsch wor se.«

»Täuw! Es dat wohr? Wahrhafti? Dann ober rut mi'm Extrabuddel.«

Robert Twersten schauderte es vor den rohen Gesellen. Er begriff nicht, daß er mitgegangen war. Er gehörte doch wohl nicht hierher. Wie konnte man überhaupt direkt von Vanheils – – Und die Scham schoß in ihm auf, daß er der rotblond gefärbten Anna an der Bar die Hand gereicht hatte, die er Marga Vanheil zum Abschied verweigert hatte. –

Kapitän Jessen und Fritz Vanheil fühlten sich auf ihren hohen Barstühlen außerordentlich wohl. Weshalb auch nicht? Das war doch ein Spaß, hier zu sitzen und sich gehen zu lassen. Das lüftete aus. Sonst nichts.

Wenn Kapitän Jessen nicht trank, drückte er zärtlich die Hände seiner Barmaid, legte den Kopf luv und lee und drückte wiederum zärtlich. So liebte Kapitän Jessen. Dann gab's Lärm.

Fritz Vanheil hatte sich vorgebeugt, das Mädchen fest in den Arm genommen und ihr einen Kuß appliziert.

»So ist das Leben, Mädchen.«

»Lassen Sie das nach! Ich mag das nicht haben! Nachlassen, oder ich ruf' die Madam!«

Fritz Vanheil blieb seelenruhig. »Die Madam? Sie wird höchstens eifersüchtig. Küß du mich lieber, Prinzessin. So, und so, und so. Mädchen, so ist das Leben!«

»Madam«!!«

»Ruhig!« donnerte Kapitän Jessen. »Das ist mein Gast, Deern! Der hat Bordfreiheit!«

»Gott,« sagte sie, auf der Stelle beruhigt, »das muß einem doch gesagt werden.«

»Ich hab mein Sach auf nichts gestellt, juchhe!
Drum ist so wohl mir auf der Welt, juchhe!«

sang der Student, und der glückliche Übermut seiner Jahre strahlte aus seinen Augen.

Robert Twersten blickte ihn unverwandt an. Er kam sich so alt und müde vor gegen den älteren Jugendfreund ...


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