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8

Die Gipsmasken an der Wand in Signor Cazzolettis Bodega blickten lächelnd und drohend auf die guten und schlechten Gäste herab, als ich am Abend des 17. November die Tür öffnete und eintrat. Es waren drei Wochen seit dem Abend verflossen, an dem ich zuletzt dort weilte – jenem Abend, an dem es anfing. Das Lokal war dicht besetzt; von einem der Tische erscholl beim Anblick meiner Person ein Chor von Stimmen.

»Aha!«

»Da ist er!«

»Aus welchem Polizeiloch kommst du eben?«

»Junger Freund, ich habe immer erwartet, daß dein Beruf dich ins Verderben ziehen wird. Wenn man sich tagaus tagein mit verbrecherischen Phantasien beschäftigt, muß man schließlich selber als Verbrecher endigen. Das habe ich dir schon oft gepredigt, aber ich bin wie die Stimme des Gewissens, niemand beachtet sie. Manchmal kommt es mir beinahe vor, daß ich auf demselben Niveau stehe wie der Bildhauer, dem kein vernünftiger Mensch sein Ohr leiht.«

Sie saßen alle miteinander da. Die Gasflammen brodelten über ihren Köpfen wie die Feuerzungen, die die Apostel einstmals schauten; über Braschs schmalem Spürhundkopf, über dem gutmütigen Kraniumblock des Bildhauers, über Hoffman-Bangs kahler Weltmannstirn und über Simon Weels majestätisch emporgeworfenem Priesterkopf. Ich umfaßte sie sämtlich mit einem Blick, ehe ich Simon Weel antwortete:

»Lieber Simon, du übertreibst!«

»Ich übertreibe nicht, keineswegs. Hingegen will ich gern annehmen, daß das Gerücht in seinen Berichten über dich übertreibt. Ich will mit dem geringsten anfangen, was es zu sagen weiß. Man behauptet, du warst auf der Redoute im Esplanade und bist dort um deinen Leibrock gekommen, der sich über hundert Jahre in der Familie vererbt hat. Auf jeden Fall ließest du dich von einer Frau bestehlen, mit der du Umgang pflegtest. Brauche ich auch nur die Wahrscheinlichkeit dieser Art des Diebstahls anzudeuten?«

»Nein, lieber Simon, das brauchst du nicht. Es ist wahr, daß ich von einer Frau bestohlen wurde. Aber sie wußte nicht, was sie tat! Sie war das Werkzeug eines Mannes. Signor Cazzoletti, einen Whisky!«

»Das Weib das Werkzeug eines Mannes! – Daß ich nicht lache. – Das wäre das erste Mal, daß so etwas vorkommt.«

»Es ist nichtsdestoweniger wahr, Brasch. Aber sie war ein entzückendes Werkzeug, ich habe das gestohlene Erbstück zurückbekommen und klage nicht.«

Der Bildhauer fand die Gelegenheit günstig.

»Was ziemlich komisch war«, begann er, »war damals, als Cz auf dem Bahnhof in Prag bestohlen wurde. Cz war nichts weniger als reich, er hatte einen einzigen Gegenstand, der nicht im Leihhaus steckte, und das war sein Handkoffer.«

»Bildhauer«, sagte Simon Weel, »du kennst meine Meinung über deine Anekdoten. Es gibt eine Sache, die es möglich macht, sie auszuhalten, und das …«

»Signor Cazzoletti«, rief der Bildhauer großsprecherisch, »eine Flasche Wein für Herrn Weel – eine kleine Flasche! Wo war ich doch stehengeblieben? Ja, Cz fiel also ein, daß der Handkoffer nicht versetzt war.«

Alle Augen rings um den Tisch waren auf Simon Weel gerichtet, als er das erste Glas aus der kleinen Flasche einschenkte. Aber er ließ sich nicht zum Narren halten.

»Wenn du glaubst, daß du einen Freibrief hast, schlechte Anekdoten zu erzählen, weil du zufällig in der Lage bist, eine Flasche Wein zu spendieren, dann irrst du. Wie bist du überhaupt zu Geld gekommen? Solltest du tatsächlich eine Büste vollendet haben? Das kann ich mir schwer vorstellen, und noch unfaßbarer wäre es, wenn jemand Geld dafür bezahlt haben sollte. Aber man kann ja alles mögliche von den Menschen erwarten, wenn du Wein auffahren läßt und Hegel, der im Grunde ein harmloser Bürger ist, sich nicht damit begnügt, bestohlen zu werden, sondern selber anfängt, in Frederiksberg einzubrechen. Warum er sich gerade Frederiksberg ausgesucht hat, begreife ich nicht, wenn es nicht deshalb war, um ein neuer Rinaldo zu werden und bei ebenso guten Bürgern zu stehlen, wie er selber einer ist. Übrigens hat mir der Skandalschreiber die Geschichte erzählt, und da wird ja wahrscheinlich bei Hegel selbst eingebrochen worden sein. Sonst würde ich meinen ganzen Glauben an die ›Extrapost‹ verlieren.«

»Die Reptilinsinuationen der Gegner«, erwiderte Brasch, »verschmähe ich zu beantworten.«

»Du hast recht, Simon«, sagte ich, »ich habe selbst einen Einbrecher zu Besuch gehabt. Es war ein gutherziger, ehrenwerter Mensch. Aber ich bin auch auf eigene Faust eingebrochen. Leider hatte ich nicht so vornehme Motive wie Rinaldo. Ich beabsichtige nicht, die andern Bürger zu bestehlen, und noch weniger, die Beute unter die Armen zu verteilen.«

»Apropos, stehlen, wo war ich nur stehengeblieben? Ja, Cz holte seinen Handkoffer hervor und sah ihn sich an. Er war nicht fein, aber er war aus Leder und sah aus, als wenn er allerlei enthielte. Er war damit schon bis zum Versatzamt gekommen, als ihm eine großartige Idee einfiel. Er kehrte um und ging zu einem Neubau, wo er den Handkoffer mit Steinen füllte.«

»Und zog in ein Hotel, selbstverständlich«, vollendete Simon Weel. »Bildhauer, ich will dir sagen, je mehr die Jahre vergehen und die Verblödung des Alters näher rückt, um so dümmer und durchsichtiger werden deine Anekdoten mit jedem Tag. Das ist übrigens nicht merkwürdig im Hinblick darauf, daß du einen Humpen Bier nach dem anderen hinunterschüttest, während ein gebildeter Mensch sich kaum eine schäbige Flasche Wein vergönnen kann. Hegel, der sich nicht schämt, öffentlich mit seinen Verbrechen zu prahlen, sollte sich wenigstens schämen, einen Menschen stundenlang vor einer leeren Flasche sitzenzulassen. Ich gemahne ja an einen buddhistischen Mönch mit seiner Almosenschale.«

»Signor Cazzoletti, einen Fiasko für Herrn Weel! Verzeihe mir, lieber Simon! Wie steht es übrigens mit deinem Buddhismus? Hast du schon die gnostische Richtung gestartet?«

»Danke für den Wein, alter Freund, das habe ich von dir erwartet. Nein, ich habe die Bewegung noch nicht in Gang gesetzt. Aber während du dich in Verbrechen gesuhlt hast, habe ich hier gesessen und habe die Grundlinien des Ordens geschaffen und die wichtigsten Regeln aufgestellt.«

»Bist du milder als Buddha selbst? Haben Frauen Zutritt?«

»Nur Personen, die Aussicht haben, das Fleisch durch Ausschweifungen zu töten, haben Zutritt. Also weder Frauen noch Detektivschriftsteller. Das Fleisch des Weibes stirbt nie, und die Seele des Detektivschriftstellers hat nie gelebt.«

Hoffman-Bang, der bis dahin schweigend dagesessen hatte, fand endlich Gelegenheit, ein Zitat anzubringen.

»Simon Weels System«, sagte er, »ist wie alle anderen Systeme; die Wahrheiten, die es möglicherweise enthält, werden von Sophismen zusammengehalten wie die Ziegelsteine einer Mauer von Zement.«

»Apropos, Ziegelsteine«, warf der Bildhauer schnell ein, »wo war ich doch? Ja Cz ging also zu einem Neubau und stopfte seinen Handkoffer mit Ziegelsteinen voll, bis er schwer genug war. Dann nahm er den Koffer und ging damit auf den Bahnhof in Prag. Er wohnte nämlich in Prag. Er ging auf den Bahnsteig der abfahrenden Züge.«

»Ich glaube, du hast recht«, sagte ich zu Simon Weel, »wenn du den Frauen den Zutritt in deinen Orden verweigerst. Ich muß sagen, die Erfahrungen, die ich in letzter Zeit mit ihnen gemacht habe, sprechen sehr dafür, daß sie nicht für den Buddhismus passen. Eine stahl das Erbstück meines Onkels, und die andere verriet mich und ihren Geliebten und brannte mit einem Chinesen durch.«

»Hegel versucht, die Karten zu vermischen«, erklärte Simon Weel. »Wenn von seinem Verbrechen die Rede ist, fängt er an, von den Frauen zu sprechen. Es ist jetzt drei Wochen her, seit ich dich zuletzt gesehen habe. Ist es wahr, daß du inzwischen in einer Staatsanstalt gesessen hast? Logisch gesagt, liegt kein anderes Hindernis vor, als daß Leute, die Verbrechen begangen haben, fast nie hineinkommen.«

»Du hast recht«, erwiderte ich. »Ich wurde verhaftet, aber es war in einer Sache, in der ich ganz unschuldig war. Mit meinem Einbruch hatte ich Glück. Der Betroffene verließ die Stadt. Er hatte eine äußerst eigentümliche Vergangenheit.«

»Das kann ich mir denken! Ich lebe in einem Augiasstall!«

»Um gegen ihn Hilfe zu finden, wendete ich mich an einen Detektiv. Es zeigte sich, daß der ebenfalls verfolgt wurde. Und in seiner Wohnung wurde ich verhaftet.«

»Ich bin ein neuer Lot in diesem Sodom. Ich würde in eine andere Stadt auswandern, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß sie sich als ein Gomorra entpuppen würde. Na, du hast also im Gefängnis gesessen!«

»Ich saß nur eine Nacht in Untersuchungshaft. Dann stellte sich meine Unschuld heraus, und sie ließen mich frei. Ich habe dir ja gesagt, daß ich wegen des Einbruches überhaupt nicht angezeigt wurde. Aber ich ging aufs Land, um mich ein bißchen zu erholen. Ich hatte drei schlaflose Nächte hinter mir.«

»Ja, und der Detektiv und der Mann, bei dem du eingebrochen hast? Wie viele Jahre haben die bekommen?«

»Die sind nach England abgefahren. Ich erhielt soeben einen Brief von dem Detektiv. Das war einer der unterhaltendsten Menschen, mit denen ich je zusammengekommen bin.«

»Nach dem zu urteilen, was du von ihm erzählst, kann ich mir schon denken, daß ihr euch gut vertragen habt. Und er ist also entwischt?«

»Es gelang ihm, England zu erreichen, sein Reisegepäck mußte er freilich hier im Stiche lassen.«

»Weil wir gerade von Reisegepäck sprechen«, begann wieder der Bildhauer. »Ja Cz ging also mit dem Handkoffer voll Ziegelsteine auf den Bahnsteig in Prag. Da waren eine Menge Menschen. Cz ging den Perron entlang, bis er einen schweren, soliden Lederkoffer erblickte. Daneben stand ein Herr und las Zeitungen. Cz stellte seinen Koffer dazu. Er dachte: Ich bin arm, er ist reich, wir tauschen die Koffer, wenn es geht. Im selben Augenblick fuhr ein Zug ein. Cz wollte eben den Koffer des fremden Herrn ergreifen und in den Zug einsteigen, als der fremde Herr ganz von selber Cz's Koffer mit den Ziegelsteinen nahm und in den Zug sprang. Cz war so verblüfft, daß er den Zug abfahren ließ. Der Koffer des fremden Herrn war so schwer, daß er sich bereits den Mund leckte, als er an all das Bier dachte, das er dafür haben konnte … Signor Cazzoletti, ein Glas Bier! Mir wird der Hals trocken!«

»Es gibt noch andre als dich, denen der Hals trocken wird, mein guter Bildhauer, und auf natürlichere Weise. Brasch ist der einzige, von dem ich das nicht behaupten kann. Wenn ich sehe, wieviel Whisky er an einem Abend in sich hineinschüttet, dann wundert es mich, daß er nicht schon unter einem Grabstein liegt mit der Inschrift: Vixi, dum visky laetus; ich lebte fröhlich, solange es Whisky gab. Ich habe schon meine Ansicht über Whisky ausgesprochen. Die Ärzte behaupten, daß der Whisky Adernverkalkung hervorruft. Was bedeutet das? Er ruft ärgere Dinge hervor. Er verkalkt die Seele, er macht den Menschen zum Egoisten. Während der Wein …«

»Signor Cazzoletti, noch einen Fiasko für Herrn Weel! Simon Weel – zu viele Worte – wie die Heiden, wenn sie beten. Chokiert einen Journalisten Hegel – weißt du noch, ich sprach mal von den alten Häusern?«

»Den alten Häusern?«

»Den Einbrüchen in alten Häusern. Du weißt doch: Serie von Einbrüchen gerade damals, als wir zuletzt beisammen waren – ich sagte: Eigentümlich! Alle Einbrüche in alten Häusern. Erinnerst du dich?«

»Aha! Ja, ich erinnere mich. Warum?«

»Alle Einbrüche vor deinem Einbruch und Herrn Pitz' Verhaftung hörten auf, als er verhaftet wurde! Haha! Was glaubst du?«

»Meinst du, daß er derjenige war?«

»Sicherlich! Suchte nach dem Hause – deinem Hause. Wurde gefaßt. Jetzt freigelassen. Sitzt da drüben mit einer Dame.«

»Was sagst du?«

Ich flog auf meinem Stuhl herum. Ein etwas abgemagerter, aber immer noch recht korpulenter Herr mit rollenden, blauen Hundeaugen und phonetischen Mundbewegungen saß an dem dunkelsten Tisch der Bodega. Seine Finger spielten auf einer unsichtbaren Klaviatur. An seiner Seite saß eine üppige junge Dame mit blonden Haarwellen und lachlustigen roten Lippen. Ich starrte sie an. Eine Erinnerung suchte sich in meinem Gehirn emporzuarbeiten. Ich wußte, daß ich sie schon gesehen hatte. Und plötzlich stand die Wahrheit klar vor mir: Kylle! Die falsche Kylle, die Onkel Johns Erbstück gestohlen hatte! Sie sah mich nicht oder tat wenigstens so, als sähe sie mich nicht, aber Herr Pitz begegnete plötzlich meinem Blick, und er traf ihn, wie Gottes Auge Kain traf. Sein Gesicht erstarrte sofort und entfaltete sich gleich darauf in der wildesten Mimik. Signor Cazzoletti stürzte herbei, einen epileptischen Anfall befürchtend. Herr Pitz benützte die Gelegenheit, um zu zahlen. Er und Kylle standen auf, um zu gehen. Leider führte sie ihr Weg an unserm Tisch vorbei. Als sie an ihm vorübergingen, konnte ich mir das Vergnügen nicht versagen, zu flüstern:

»Herr Pitz, haben Sie noch immer Lust, des Kaisers alten Mantel zu kaufen? Sonst kann ich ja Ihren eigenen beschädigten dafür eintauschen!«

Ein entsetzter blauer Hundeblick begegnete mir und zeigte die richtigen Schlußfolgerungen eines Briefes, den ich am selben Morgen bekommen hatte. Dann begegnete ich einem strahlenden Lächeln und einem Aufblinken unter einem Schleier. Dann waren sie draußen, und ich saß da und dachte an ein Paar meergrüne Augen und eine rote Haarflut. Ich hörte geistesabwesend zu, wie der Bildhauer endlich seine Anekdote zu Ende führen konnte:

»Cz eilte mit dem Koffer nach Hause. Wißt ihr, was dann geschah? Als Cz die Treppe hinaufstieg, platzte der Koffer gerade in der Mitte und bedeckte die ganze Treppe mit Sägespänen. Der fremde Herr war in derselben Absicht ausgezogen wie Cz, und als Cz nachsah, war sein Koffer nicht einmal aus Leder. Es war Lederersatz. Ist das nicht wahr, Cz?«

Der Mann von der Weichsel war hereingekommen und stand an unserm Tisch, ebenso schwarzstopplig und enthusiastisch wie immer.

»Ja, ja!« rief er. »Vollkommlich wahr! Gejld, hast du Gejld, Bijldhauer? Ich bin serr durstijg.«

»Na«, sagte Simon Weel, »jetzt gehst du vermutlich nach Hause und schreibst einen Roman über deine Unternehmungen und deine feinen Bekanntschaften?«

»Nein«, erwiderte ich. »Man schreibt über das, wonach man sich sehnt und was man nicht erlebt hat. Ich schrieb Abenteuerbücher, weil ich kein Abenteuer erlebt hatte. Jetzt habe ich, ich weiß nicht wie viele erlebt, und jetzt werde ich einen bürgerlichen Roman schreiben.«

Simon Weel starrte mich an. Eine Atmosphäre von Kalabreser Wein und Skepsis umwob mich.

»Hm«, erklärte er. »Die Grimasse macht den Schriftsteller. Kann der Leopard seine Flecken verändern oder der Äthiopier seine Haut?«

Es zeigte sich, daß er recht hatte.

 

Gedruckt im Deutschen Verlag Berlin, 1942

 


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